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3. Formen des Gottesdienstes

3. Formen des Gottesdienstes

Wenn sich die christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt, feiert sie diesen Gottesdienst in ganz unterschiedlichen Formen. Diese Formen sind nicht in der Kreativität des jeweiligen Leiters des Gottesdienstes begründet, sondern haben je ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Sinn.

 

1. Der Hauptgottesdienst mit Predigt und Feier des heiligen Altarsakraments
Diese Form des Gottesdienstes, in unserem Lutherischen Bekenntnis auch „Messe“ genannt, stellt die Normalform des Gemeindegottesdienstes an Sonn- und Feiertagen dar. Wortverkündigung und Feier des Heiligen Mahls als die beiden Zentren dieses Gottesdienstes werden schon im Neuen Testament selber bezeugt (vgl. Apostelgeschichte 20,7). Im Verlauf der Geschichte trat über viele Jahrhunderte die Predigt hinter die Sakramentsfeier zurück; Gottesdienste, in denen nur das Altarsakrament gefeiert, nicht aber gepredigt wurde, wurden zur Regel. Diesem Defizit versuchte man vor allen in den Ländern nördlich der Alpen dadurch zu wehren, daß vor dem eigentlichen Meßgottesdienst auch ein separater Predigtgottesdienst angeboten wurde. Diese Predigtgottesdienste hatten zumeist einen belehrenden Charakter: Den Zuhörern sollte durch die Predigt ein Grundwissen des christlichen Glaubens vermittelt werden. Mit der Predigt wurden in der Zeit vor der Reformation besonders qualifizierte Geistliche, sogenannte „Prädikanten“ beauftragt; die Liturgie, die man in diesen Gottesdiensten um die eigentliche Predigt fügte, wurde „Pronaus“ genannt.

In der Reformationszeit gingen die verschiedenen Konfessionen in der Neugestaltung der Ordnung des Hauptgottesdienstes unterschiedliche Wege: Martin Luther behielt die altkirchliche Meßordnung bei; er integrierte die Predigt jedoch wieder als elementaren Bestandteil in die Feier des Hauptgottesdienstes selber. Der Hauptgottesdienst war stets ein Gottesdienst mit Feier des Altarsakraments; dabei war es Luthers besonderes Anliegen, die Gemeinde zum regelmäßigen Empfang des Heiligen Mahles „zu locken und zu reizen“, wie er es im Großen Katechismus formuliert. So blieb der Hauptgottesdienst mit Predigt und Feier des heiligen Altarsakraments, wie wir ihn auch heute kennen, über Jahrhunderte in der lutherischen Kirche die Normalform des sonntäglichen Gemeindegottesdienstes. Daneben wurde oftmals am Sonntagnachmittag ein zweiter Gottesdienst für die Gemeinde, dann in der Gestalt eines Predigtgottesdienstes, gefeiert.

Andere Wege ging man in Süddeutschland und in der Schweiz unter dem Einfluß der reformierten Theologen Zwingli und Calvin: Hier brach man mit der kirchlichen Tradition und machte aus dem „Pronaus“, dem „Vor-Gottesdienst“ vor der Messe, den eigentlichen sonntäglichen Hauptgottesdienst in der Gestalt eines Predigtgottesdienstes, an den sich dann zu besonderen Anlässen eine Abendmahlsfeier „anschließen“ konnte. Diese Vorstellung, daß der Predigtgottesdienst die Normalform des evangelischen Gottesdienstes darstellt, der man je und dann einmal eine Abendmahlsfeier „im Anschluß an den Gottesdienst“ hinzufügen kann, breitete sich im Laufe der Zeit auch in lutherischen Gebieten aus, vor allem seit der Zeit des Pietismus und der Aufklärung. Dabei behielt man in den lutherischen Kirchen die Form des Meßgottesdienstes grundsätzlich bei, „übersprang“ dann aber den Sakramentsteil und beschloß den Gottesdienst gleich mit dem Vaterunser und Segen. Diese Form des Predigtgottesdienstes als eines Meßgottesdienstes ohne Abendmahl  ist auch heute noch in unserer SELK bekannt. In den letzten Jahrzehnten hat man im Rückgriff auf die Praxis der lutherischen Reformation in unserer lutherischen Kirche wieder neu erkannt, daß die Feier des Hauptgottesdienstes mit Predigt und heiligem Altarsakrament die Normalform des sonntäglichen Gemeindegottesdienstes darstellen sollte und daß der „Predigtgottesdienst“ dagegen einen ganz eigenen Charakter besitzt, der ihn für bestimmte Anlässe besonders geeignet erscheinen läßt. Während die Wiedergewinnung eines zweiten Gottesdienstes am Sonntagnachmittag in der Form eines Predigtgottesdienstes heutzutage unrealistisch erscheint, ist der Predigtgottesdienst in der Form eines Bußgottesdienstes eine angemessene Form des Gottesdienstes beispielsweise am Karfreitag oder am Buß- und Bettag. Eine Sonderform des Predigtgottesdienstes stellt schließlich auch der sogenannte „Lektorengottesdienst“ dar, der dann in einer Gemeinde gehalten wird, wenn kein ordinierter Pfarrer zur Leitung des Gottesdienstes zur Verfügung steht. In der Gestaltung des Gottesdienstes sollte dabei zum Ausdruck kommen, daß es sich hierbei nicht um die Kurzform eines Meßgottesdienstes ohne Sakramentsfeier handelt, sondern um einen Gottesdienst ganz eigener Art, der seinem Charakter nach am ehesten zu den Gebetsgottesdiensten zu zählen ist. Gerade von daher hat dann auch ein solcher „Lektorengottesdienst“ seine ganz eigene Berechtigung.

2. Die Gebetsgottesdienste
Neben den gottesdienstlichen Zusammenkünften zur Feier des Heiligen Mahles übernahmen schon die ersten Christen die jüdische Praxis der Gebetsgottesdienste zu bestimmten Tageszeiten (vgl. Apostelgeschichte 3,1; 10,9; 16,25). Diese Gebetsgottesdienste wurden im Verlauf der weiteren Geschichte der Kirche vor allem regelmäßig von Christen praktiziert, die gemeinschaftlich, etwa in Klöstern, zusammenlebten und -leben. Ab dem Mittelalter wurde das persönliche Gebet dieser „Stundengebete“ für alle Priester verpflichtend; dabei wurde dieses „Breviergebet“ oftmals auch als Last empfunden. Martin Luther war zeit seines Lebens von der Praxis des Stundengebets im Kloster, wie er es über viele Jahre praktiziert hatte, tief geprägt. Er versuchte, wenigstens die „großen“ Stundengebete, Matutin und Vesper, als Gebetsgottesdienste an Werktagen in den Gemeinden zu erhalten, vor allem, wo diese Gebete von Schülern, Studenten oder mehreren Pfarrern getragen und gehalten werden konnten. Nachdem auch diese Praxis spätestens Ende des 18. Jahrhunderts im Zeitalter von Pietismus und Aufklärung verfiel, erlebte das Stundengebet im 20. Jahrhundert in unserer lutherischen Kirche eine erfreuliche Renaissance: Matutin, Vesper und Complet wurden als hilfreiche Ordnung geistlichen Lebens bei kirchlichen Zusammenkünften und auf Freizeiten, gerade auch in der Jugendarbeit, aber auch für das persönliche geistliche Leben wiederentdeckt.

Wesentlicher Bestandteil der Stundengebete ist das Psalmgebet und das Gebet der neutestamentlichen Gesänge, der sogenannten „Cantica“. Daneben tritt die Betrachtung der Heiligen Schrift. „Predigten“ sind dagegen kein elementarer Bestandteil dieser Gottesdienstform, für deren Leitung auch kein ordinierter Pfarrer nötig ist.

Eine vereinfachte Form des Stundengebets stellt die Ordnung der „Andacht“ dar, die in der lutherischen Kirche vor allem in der Fasten- und in der Adventszeit in Form von Passions- und Adventsandachten verbreitet war und ist. In diesen Andachten spielt die Predigt jedoch eine wichtigere Rolle als in den Stundengebeten in ihrer ursprünglichen Form.

Ebenfalls aus der Ordnung der Stundengebete hat sich die heutzutage beliebte Form der sogenannten „Taizé-Andachten“ entwickelt, die im Unterschied zu den klassischen Passions- und Adventsandachten nicht die Predigt, sondern die meditativen Elemente des Stundengebets in besonderer Weise entfaltet. Die Verkündigung tritt dabei fast völlig zurück. An den Taizé-Andachten, benannt nach ihrem Ursprung in den Gebetsgottesdiensten der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé in Frankreich, läßt sich sehr schön wahrnehmen, welch ökumenische Bedeutung gerade die Gebetsgottesdienste in ihrer festen liturgischen Form besitzen: In ihnen haben Christen verschiedener Konfessionen eine gemeinsame Grundlage, die dann auch ein gottesdienstliches Beten miteinander ermöglicht.

Eine ganz besondere Form der Gebetsgottesdienste stellen schließlich die Vigilien dar. Dabei handelt es sich um nächtliche Gebetswachen, bei denen man sich in besonderer Weise dem Hören auf die Heilige Schrift zur Vorbereitung der Feier eines besonderen Festes widmet. Sie bestehen aus einer Vielzahl von Lesungen, die jeweils von Wechselgesängen unterbrochen werden. Die uns bekannteste Form der Vigil ist die Feier der Heiligen Osternacht. In diesem nächtlichen Gottesdienst geht dabei die Ordnung der Vigil schließlich in die Ordnung des Meßgottesdienstes mit der Feier des Heiligen Altarsakraments über.

3. Die Kasualgottesdienste
Eine dritte Form von Gottesdiensten stellen die Kasualgottesdienste dar, die Gottesdienste zu bestimmten Anlässen („Kasualien“). Hierzu zählen die Taufgottesdienste, die Beichtgottesdienste, die Traugottesdienste und die Beerdigungsgottesdienste. Auch die Konfirmation stellt eine solche „Kasualie“ dar, auch wenn sie in aller Regel fest in den gemeindlichen Hauptgottesdienst integriert ist. Die Kasualgottesdienste haben ihre ganz eigene Ordnung, die dem jeweiligen „Kasus“ entspricht, stehen aber oftmals in einer engen zeitlichen Verbindung zu dem gemeindlichen Hauptgottesdienst. Dies gilt neben der Konfirmation in besonderer Weise für Tauf- und Beichtgottesdienste. In den beiden letztgenannten Fällen ist es jedoch sinnvoll, diese Gottesdienste auch da, wo sie mit dem Hauptgottesdienst verbunden sind, deutlich als in sich eigenständige Gottesdienste zu markieren und sie nicht einfach in den Ablauf des Hauptgottesdienstes zu integrieren. Umgekehrt können jedoch auch Trau- und Beerdigungsgottesdienste mit der Ordnung des Meßgottesdienstes verbunden oder aber auch nach der Ordnung der Stundengebete gehalten werden.

4. Ordinationen, Einsegnungen, Einführungen, Weihehandlungen
Neben die eben genannten Kasualien tritt schließlich noch eine Vielzahl von Segens- und Weihehandlungen, die an Personen und Gegenständen vollzogen werden und für die es ebenfalls eigenständige gottesdienstliche Ordnungen gibt, die in besonderer Weise auf die Person oder den Gegenstand, die gesegnet und geweiht werden, bezogen sind. Für die verschiedenen Formen des Gottesdienstes gibt es in unserer lutherischen Kirche unterschiedliche Gottesdienstbücher, sogenannte „Agenden“. Die Agende I beinhaltet den Hauptgottesdienst der Gemeinde, Agende II die Gebetsgottesdienste, Agende III die Kasualgottesdienste und Agende IV die eben erwähnten sonstigen Segens- und Weihehandlungen. Diese Agenden ermöglichen ein gemeinschaftliches kirchliches Handeln in der gesamten Kirche über die Grenzen der einzelnen Gemeinde und des persönlichen subjektiven Geschmacks des einzelnen Pfarrers hinweg.