5. Religion ist Opium für das Volk

Man mag sich fragen, ob es sich überhaupt noch lohnt, sich mit diesem Argument gegen den christlichen Glauben zu befassen, das aus dem Gedankengut des Marxismus-Leninismus stammt – einer Ideologie, die sich nun mittlerweile längst als völlig überholt erwiesen hat. Doch die Erfahrung der Geschichte zeigt, dass auch solche völlig überholten Gedankengebäude im Laufe der Zeit doch immer wieder eine erstaunliche Faszination auf Menschen auszuüben vermögen – einmal abgesehen davon, wie vielen Menschen in unserem Land dieses Denken aufgrund ihrer Prägung und Erziehung immer noch ganz tief in den Knochen steckt. Und außerdem trifft man auf ganz ähnliche Argumentationsmuster, auch abgelöst vom marxistisch-leninistischen Denken, auch in den Veröffentlichungen gegenwärtiger Atheistenverbände, die an diesem Punkt gerne auf die Religionskritik vergangener Zeiten zurückgreifen. So ist eine Beschäftigung mit diesem Argument, Religion sei Opium für das Volk, auch heute noch sinnvoll und notwendig.
Um dieses Argument richtig zu verstehen, müssen wir zurückgreifen auf einen Philosophen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts namens Ludwig Feuerbach. Feuerbach erklärte das Entstehen von Religion so: Menschen machen in ihrem Leben Defiziterfahrungen, müssen erleben, dass sie vieles, was sie sich wünschen und haben wollen, nicht bekommen können. Und diese unerfüllten Wünsche ihres Lebens projizieren sie nun an den Himmel und nennen sie Gott oder ewiges Leben, so wie man ein Dia auf eine Leinwand projiziert und sich an dem Anblick des Bildes erfreut – nur mit dem Unterschied, dass die Menschen bei der Religion diese Projektion unbewusst vollziehen und von daher das, was sie da an den Himmel projiziert haben, selber für wahr und wirklich halten. Doch statt sich nun die ganze Zeit mit diesen Projektionen zu befassen und sie womöglich noch anzubeten, sollte man nach Meinung von Feuerbach lieber das, was man sich da so sehr wünscht, in seinem eigenen Leben zu verwirklichen versuchen.
Diese Religionskritik von Feuerbach hat Karl Marx aufgegriffen und sie weitergeführt. In seiner berühmten „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ sagt Marx, ganz im Sinne Feuerbachs: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ Aber dann fragt er weiter: Wie kommen Menschen eigentlich dazu, solch eine Projektion ihrer Wünsche an den Himmel zu vollziehen? Und Marx antwortet: Das hängt mit der gesellschaftlichen Situation zusammen, in der sich die Menschen befinden: Sie sind unterdrückt und ausgebeutet und haben in den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen auch keine Möglichkeit, an ihrer beklagenswerten Situation irgendetwas zu ändern. Marx hat dabei die Erfahrungen des Frühkapitalismus in Deutschland vor Augen, der viele Menschen tatsächlich in einem Zustand leben ließ, den wir heute zweifelsohne als menschenunwürdig bezeichnen würden. Das Einzige, was den Menschen bleibt, so stellte Marx damals fest, ist die Religion: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ Religion ist für Marx also eine Art von Droge, die die Menschen zu sich nehmen, um sich selber zu betäuben, damit sie den Zustand nicht so genau wahrnehmen, in dem sie sich befinden. Und genau darum muss man den Menschen diese Droge nun wegnehmen, damit sie wieder klar zu denken anfangen und vor allem damit sie anfangen, selber etwas zu tun, um diesen Zustand zu beseitigen, in dem sie sich befinden. Marx zufolge sind die Menschen und gerade die Unterdrückten dazu in der Lage, einen entscheidenden Fortschritt in der Geschichte herbeizuführen. Eben dies ist ja das Grundanliegen von Karl Marx gewesen, wie es bis heute auf einem Grabstein steht: „Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Lenin hat den Gedankengang von Karl Marx dann noch einmal ein ganzes Stück weitergeführt: Religion ist Lenin zufolge nicht bloß Opium des Volkes, ein Rauschmittel, das das Volk sich selber zum Trost und zur Betäubung nimmt. Sondern Religion ist nach Lenin Opium für das Volk, wird ihm ganz bewusst als „geistiger Fusel“, wie Lenin es formulierte, von der herrschenden Klasse verabreicht, damit das Volk stille hält und sich mit den bestehenden Zuständen abfindet, statt sich dagegen aufzulehnen. Und gerade darum muss die Religion nun auch von der Arbeiterklasse und von der Kommunistischen Partei bekämpft werden, weil sie ein solches Instrument zur Volksverdummung in der Hand der herrschenden Klasse ist und damit den Fortschritt hin zu einem Paradies der Werktätigen bedroht.
Wie gehen wir nun mit diesen Argumenten, mit dieser so grundlegenden Religionskritik um?
Wenn wir auf die Argumentation von Ludwig Feuerbach blicken, müssen wir festhalten, dass in dem, was er sagt, eine ganze Menge Wahrheit steckt: Dass Menschen ihre Wünsche auf etwas oder jemanden anders projizieren und sie dann selber für etwas Wirkliches halten, ist bekannt. Eltern projizieren ihre Wünsche auf ihre Kinder; was der Vater nicht geschafft hat, das soll nun der Sohn eben alles schaffen. Und mit Projektionen haben beispielsweise auch immer wieder Menschen in helfenden Berufen zu tun, Psychotherapeuten oder Pastoren etwa, dass Menschen, denen sie helfen, ihre Wunschbilder auf sie übertragen. Und es ist zweifelsohne auch richtig, dass Menschen sich auch ihre religiösen Vorstellungen immer wieder durch solche Projektionen erzeugen, wie Feuerbach das sehr genau beobachtet hat, dass sie sich einen Gott und einen Glauben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zusammenbasteln.
Doch mit dieser Beobachtung, das Religion in der Tat immer wieder Projektion menschlicher Wunschträume an den Himmel ist, ist eben nicht logischerweise bewiesen, dass Gott selber damit auch nur eine menschliche Projektion und nicht mehr ist. Es könnte ja trotzdem sein, dass es Gott wirklich gibt und dass er sich eben ganz anders zu erkennen gibt als so, wie es unseren menschlichen Wunschträumen entspricht. Eben dies behauptet und verkündigt ja der christliche Glaube: Gott hat sich uns eben nicht als lieber Opa zur romantischen Umrahmung von Familienfeiern zu erkennen gegeben und nicht als Kuschelgott für jede Lebenslage. Sondern Gott hat sich uns zu erkennen gegeben in der Gestalt eines gekreuzigten Menschen, in einer Gestalt, die unseren menschlichen Vorstellungen und Wünschen gerade nicht entspricht, sondern sie geradezu durchkreuzt. Diesen gekreuzigten Christus haben wir Menschen uns wahrlich nicht selber aus unserem Unterbewusstsein hervorgeholt; er ist etwas ganz anderes als ein menschlicher Traum. Im Gegenteil: Gerade angesichts des gekreuzigten Christus darf man umgekehrt an Ludwig Feuerbach die Frage stellen, ob nicht seine Vorstellung von einem Himmel und einer Welt ohne Gott, einer Welt, in der der Mensch niemanden mehr über sich hat, selber ein menschlicher Wunschtraum ist, den Feuerbach seinerseits an den Himmel projiziert hat. Genau darin besteht doch die menschliche Ursünde und Ursehnsucht, selber sein zu wollen wie Gott, keinen zu haben, der über uns herrscht und vor dem wir uns zu verantworten haben. So ist das Kreuz Christi gerade auch ein Symbol für den Widerstand der Menschen gegen die Einmischung Gottes in ihrem Leben, von dem auch die Religionskritik Feuerbachs Zeugnis ablegt.
Auch Karl Marx hat in seiner Sicht der Dinge durchaus Wahres erkannt: Er beobachtete, wie die Kirchen die dramatischen Entwicklungen in der Arbeitswelt, die sich in jenen Jahrzehnten vollzogen, überhaupt nicht wahrnahmen und im Gegenteil die bestehenden Verhältnisse noch religiös sanktionierten. Rückblickend können wir feststellen, dass die Kirchen damals in dieser Frage leider schwer versagt haben und innerhalb weniger Jahrzehnte beispielsweise einen großen Teil der Arbeiterschaft verloren haben. In der Auseinandersetzung mit Karl Marx müssen wir uns zudem als Kirche immer wieder daran erinnern lassen, dass Gottes Wille sich nicht nur auf die persönliche Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott bezieht, sondern dass sein Wille auch das Zusammenleben der Menschen umfasst: Schon im Alten Testament hat Gott durch seine Propheten sehr deutliche Worte dagegen gefunden, wenn die Reichen immer reicher und die Armen immer mehr ausgebeutet wurden, wenn die Schwachen in der Gesellschaft nicht von den Starken getragen wurden, sondern durch alle Netze hindurch fielen. Auch für die Kirche gilt: Gottesdienst und Diakonie gehören unmittelbar zusammen. Allerdings sollte man auch ehrlicherweise wahrnehmen, dass die Kirchen hier in Deutschland diese Lektion nun wirklich gelernt haben und sich heute in ganz vielfältiger Weise im Dienst an den Menschen und für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse engagieren – so sehr, dass man heute schon mitunter fragen muss, ob sie nicht darüber andere Kernbereiche ihrer Arbeit vernachlässigen. Von daher ist dann eben auch die Behauptung, die Religion sei Opium des Volkes oder für das Volk, schon allein vom Lauf der Geschichte überholt worden.
Religion – oder besser konkret: Der christliche Glaube wirkt gerade nicht als Opium. Im Gegenteil ermöglicht der christliche Glaube eine viel tiefere und realistischere Sicht der Dinge als etwa die Ideologie von Marx und Lenin. Denn die, so hat es auch die Geschichte gezeigt, ging aus von einer völlig falschen Sicht des Menschen, von der Hoffnung, der Mensch sei in seinem Wesen letztlich doch gut und könne zu einem wahrhaft guten, eben sozialistischen Menschen erzogen werden, dem Egoismus, Habgier und Machtstreben schließlich ganz fremd seien. Und als sich diese falsche Sicht des Menschen in der Praxis nicht umsetzen ließ, entwickelte nun gerade diese marxistische Ideologie ganz massiv religiöse Züge: Der Glaube an den Fortschritt hin zu einem kommunistischen Paradies wurden den Menschen nun selber gleichsam als Opium angeboten, um von den irrsinnigen Opfern an Menschen abzulenken, die für das Erreichen dieses so wunderbaren Zieles angeblich notwendig waren – und um auch abzulenken von der Tatsache des Todes als solcher, auf die der Marxismus selber eben keine Antwort geben kann.
Der christliche Glaube sieht den Menschen viel realistischer: Er weiß, dass staatliche Ordnungen nicht mehr vermögen, als die Bosheit des Menschen einigermaßen in Schranken zu halten. Und er weiß auch, dass eine wirkliche Veränderung des Menschen nur durch den Glauben möglich ist – dass diese Veränderung hier auf Erden aber immer nur unvollkommen bleibt und vor allem auch nicht durch staatliche Maßnahmen durchgesetzt werden kann. Dem Marxismus kann man von daher am wirksamsten wohl in der Praxis begegnen, gerade auch in der Praxis des christlichen Glaubens. Vielleicht macht es jemanden, dem immer eingebläut wurde, Religion sei doch nur Opium für das Volk, nachdenklich, wenn er sieht, wie Christen sich um andere Menschen und auch um Belange der Gesellschaft kümmern, und wenn er dann auch mitbekommt, warum wir dies tun: Als Christen glauben wir wie die Marxisten an ein kommendes Paradies. Aber wir glauben eben auch, dass nicht wir dieses Paradies schaffen müssen, sondern dass Gott allein diese Wende zu einer neuen Welt herbeiführen wird, die uns auch jetzt schon unseren Tod mit anderen Augen wahrnehmen lässt. Und gerade darum sind wir als Christen frei von einer völligen Überforderung, selber leisten zu müssen, was wir gar nicht leisten können – und damit auch frei, um für andere Menschen und für unsere Welt das zu tun, was uns möglich ist. Dazu sind wir in der Lage, weil unser christlicher Glaube eben gerade nicht wie Opium wirkt, sondern wie Dynamit.