21.12.2014 | St. Lukas 1,39-56 | Vierter Sonntag im Advent
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Vor knapp zwei Wochen wurde der pakistanischen Kinderrechtlerin Malala Yousafzai in Oslo der diesjährige Friedensnobelpreis verliehen. Die Zustimmung zu dieser Entscheidung des Nobelpreiskomitees war groß: Ja, diese 17jährige junge Frau, die sich schon als Jugendliche mit den Taliban anlegte und auch dann nicht aufgab, als diese einen Mordanschlag auf sie verübten, ja die sich auch weiter für das Recht von Mädchen auf Bildung engagiert, hat sich diesen Respekt, diese Auszeichnung verdient. Ob man sich allerdings in 50 Jahren, falls Christus bis dahin noch nicht wiedergekommen ist, immer noch an dieses junge Mädchen erinnern wird? Wir wissen es nicht.

Dafür wissen wir von einem anderen jungen Mädchen, das selbst nach 2000 Jahren immer noch nicht in Vergessenheit geraten ist. Sie war vermutlich noch einige Jahre jünger als Malala heute, als sie das Lied sang, das wir eben im Heiligen Evangelium gehört haben: „Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder!“ Was macht dieses junge Mädchen so außergewöhnlich, dass alle Generationen nach ihr sich immer an sie erinnern werden, ihren Namen im Mund führen werden, ihr Lied singen werden? Hatte sie in ihrem Leben ähnlich Großes geleistet wie nun Malala? Nein, hatte sie nicht. Hatte sie in ihrem Leben vielleicht gar einen eigenen Beitrag zur Erlösung der Welt geleistet? Nein, hatte sie nicht. War sie vielleicht gar sündlos? Auch davon wird uns in der Heiligen Schrift nichts berichtet. Warum befassen wir uns dann heute an diesem Vierten Sonntag im Advent doch eher mit Maria als mit Malala, warum ist Maria trotzdem so wichtig für uns, für unseren Glauben, dass sie im Gedächtnis der Kirche haften bleiben wird bis zum Tag der Wiederkunft des Herrn?

Maria selbst macht es in ihrem Gesang, den wir eben im Heiligen Evangelium gehört haben, deutlich: Wir denken an Maria nicht deswegen, weil sie Großes vollbracht hätte, sondern weil wir an ihr erkennen können, wie Großes Gott an ihr, ja an uns allen getan hat und tut. Noch einmal anders ausgedrückt: Wir denken an Maria, weil sie uns hilft, in die richtige Richtung zu schauen, die richtige Blickrichtung zu haben. Zweierlei lehrt uns Maria:

-    Wohin müssen wir schauen, um Gott zu finden? – Ganz nach unten!
-    Wohin schaut Gott, um uns zu finden? – Ganz nach unten!

I.
Wir Menschen haben in religiösen Fragen ja ein sehr einfaches und schlichtes Orientierungssystem. Auf die Frage, wo Gott ist, antworten wir immer wieder ganz spontan: „Gott ist oben.“ „Oben“ – das hat ja mit Macht, mit Herrschaft zu tun. Die, die herrschen, die, die mächtig sind, sind oben, ganz klar. Und von daher ist scheinbar ebenso klar, dass Gott ganz weit nach oben gehört, vielleicht gar unerreichbar weit nach oben. Schließlich ist er ja auch so groß, dass er scheinbar nur irgendwo ganz oben auch genügend Platz hat, sich ausdehnen zu können, dort, wo ihm kein anderer ins Gehege kommen kann.

Doch der Gott ganz oben bleibt für uns hier unten eben zugleich auch immer ziemlich fern, scheint mit uns, mit unserer Welt, auch mit unseren Sorgen und Nöten herzlich wenig zu tun zu haben. Er regiert, erwartet Gehorsam, entscheidet nach freiem Belieben, wen er vielleicht mal in seine Nähe lassen wird und wen nicht.

Maria hingegen gibt auf die Frage danach, wo Gott zu finden ist, eine ganz andere, unerwartete, scheinbar absurde Antwort: Wenn du Gott finden willst, musst du nicht nach oben schauen, nicht mit deinen Gedanken und Blicken ins Jenseits wandern. Sondern wenn du Gott finden willst, musst du ganz nach unten schauen. Da und nirgendwo anders will er sich finden lassen: Nicht als alter Opa mit Rauschebart, der milde lächelnd auf das Getümmel unten auf der Erde herabblickt, sondern als Embryo im Leib der Gottesmutter Maria, als kleines Baby in einer Futterkrippe in einem Viehstall in Bethlehem, als Elendsgestalt an einem Kreuz hängend draußen auf einer Müllkippe vor den Stadttoren von Jerusalem, er, der zutiefst heruntergekommene Gott.

Ja, darum ist Maria wichtig für uns, für unseren Glauben, weil sich in ihr Gott so klein gemacht hat für uns, weil er in ihr so tief nach unten gekommen ist, weil durch sie Gott seinen Weg in die tiefste Tiefe angetreten hat. Lass dir darum von Maria immer wieder deinen Blick korrigieren: Du findest auch heute Gott nicht in großen Glücksgefühlen, nicht dort, wo Menschen ihre Macht und ihren Einfluss zur Schau stellen. Du findest Gott auch heute noch ganz unten, ganz klein, so klein, dass er sich glatt übersehen lässt. So weit runter kommt Gott zu dir, dass er sich dir in deinen Mund legen lässt, dass er sich von dir mit deinem Mund aufnehmen und schlucken lässt.

Neulich hörte ich von einer Klinikpatientin, wie gut es ihr getan habe, dass sich der Arzt am Krankenbett nicht einfach über sie gebeugt und von oben zu ihr gesprochen habe, sondern sich allen Ernstes neben sie ans Bett gehockt und gekniet habe, auf Augenhöhe mit ihr gesprochen habe. Das macht eine Menge aus. Und genau das macht Gott auch: Er kommt herunter zu dir, blickt nicht von oben auf dich herab, sondern will auf Augenhöhe mit dir verkehren, aus Liebe zu dir. Genau daran erinnert sie uns, Maria, die Mutter Gottes, die wir eben darum selig preisen wie alle Generationen vor uns auch.

II.
Aber nun macht Maria uns deutlich, dass nicht nur wir ganz woanders hinschauen sollen, um Gott zu finden, als wir zunächst meinen mögen. Sondern sie zeigt uns, dass auch umgekehrt Gott ganz woanders hinblickt, wenn er uns finden will, als wir es zunächst einmal denken mögen.

Ganz tief in uns steckt diese Vorstellung, Gott würde uns doch dann eher in den Blick bekommen, wenn wir ihm etwas zu bieten haben, wenn wir ihm etwas vorzuweisen haben, wenn wir etwas in unserem Leben geleistet haben, wenn wir ihm zeigen, was für gute, anständige oder auch fromme Menschen wir sind. Darum vergleichen wir uns dann auch so gerne mit anderen Menschen, und es tut uns gut, wenn wir feststellen können, dass andere Menschen nicht so gut sind wie wir. Ja, es tut uns doch so gut, dann auch hinter ihrem Rücken über sie herziehen zu können und sich dadurch selbst versichern zu können: Wie gut, dass ich besser bin als dieser Mensch! Da wird der liebe Gott mich sicher auch eher wahrnehmen und anerkennen als die anderen, die nicht so anständig sind wie ich!

Doch Gottes Blick richtet sich nicht zuerst und vor allem auf unseren Anstand, erst recht nicht auf unsere Leistungen, so macht es uns Maria in ihrem Lied deutlich. Warum hat Gott ausgerechnet Maria zur Mutter seines Sohnes erwählt? Ein einziges Argument führt Maria selber hier an: „Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.“ Gott blickt ganz nach unten, erwählt sich einen Menschen, der nichts vorzuweisen hat, der nichts Nennenswertes in seinem Leben geleistet hatte, der einfach nur ganz unten, ganz niedrig war.

Was für ein Trost, was für eine Ermutigung für uns: Wir müssen uns nicht ein Stück weit Gott entgegenarbeiten, damit er uns auch findet und anerkennt. Gottes Blick hat Tiefenschärfe, er blickt besonders gut und scharf nach unten, blickt auch heute noch besonders auf die, die ihn nicht mit besonderen Leistungen zu beeindrucken versuchen, die nicht glauben, der liebe Gott müsse mit ihnen doch ganz zufrieden sein. Nein, Gott blickt die an, die wissen, dass sie vor ihm nicht bestehen können, die wissen um die Schuld und das Versagen ihres Lebens. Gott blickt die an, deren Lebenskurve gerade nicht immer weiter nach oben geführt hat, sondern sie schließlich ganz unten hat ankommen lassen, auf der Entgiftungsstation im Krankenhaus im Matratzenlager der Sammelunterkunft für Asylbewerber oder auch in den Foltergefängnissen im Iran. Da, wo Menschen sich von Gott ganz verlassen vorkommen mögen, da blickt er sie an. Da, wo Menschen sich nicht trauen, Gott noch in die Augen zu schauen, da wendet er seinen liebevollen Blick ihnen zu. Und wenn Gott einen Menschen anblickt, dann passiert etwas mit diesem Menschen, dann wird dieser Mensch liebenswert, weil er von Gott so wert geschätzt wird, weil er in Gottes Augen so wichtig ist.

Gott blickt ganz nach unten. Damals hat er Maria gefunden – und heute findet er ganz unten: dich, mit deiner Schuld, mit deiner Traurigkeit und Verzweiflung, mit deinem Versagen, mit deinen Ängsten und Depressionen, die dich immer weiter nach unten ziehen, mit den Lasten des Älterwerdens, die dich immer weiter nach unten drücken. Gott blickt nach unten, blickt dich liebevoll an – und zieht dich gerade so ganz nach oben. Gott lässt sich nicht von dem beeindrucken, was Menschen wichtig erscheinen mag. Er hat ein Faible für die Kleinen, für die, die ganz unten sind, für die Schwachen, für die geistlich Armen, für die scheinbar so Unansehnlichen. Dazu ist er nach unten gekommen, um dir in die Augen blicken zu können, um dich ganz nach oben zu ziehen. Das können und dürfen wir an Maria erkennen, dürfen uns in Maria selber wiederfinden und gerade darum mit ihr singen und jubeln. Es wird nicht alles so bleiben, wie es war: Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen, so hat er es immer wieder getan, so wird er es schließlich auch einmal in Teheran tun – und so wird er es auch mit uns in unserem Leben tun. Er wird unseren Lebensweg nicht in einem Loch auf einem Friedhof enden lassen, sondern uns ganz nach oben führen – bis in den Himmel. Wenn das kein Grund zum Singen ist! Amen.