26.10.2014 | 2. Mose (Exodus) 34,4-10 | 19. Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens


Wie sieht Gott aus? Das hätten wir gerne von dem Mose gewusst. Schließlich war er Gott dort oben auf dem Berg Sinai ganz direkt begegnet, war er, der HERR, vor Mose selber, vor seinem Angesicht vorübergegangen. Doch Mose berichtet uns nicht, was unsere Neugier so gerne wissen würde, schildert uns nicht Größe und Aussehen Gottes, nichts, was auch nur irgendwie dazu angetan wäre, ein Bild von Gott zu zeichnen. Etwas ganz Anderes ist Mose wichtig, etwas Anderes berichtet er uns von seiner Begegnung mit Gott: Das, was Gott ihm gesagt hat, das, was er von Gott gehört hat. Das ist also offenkundig das Entscheidende, was wir von Gott wissen sollen und dürfen: nicht, wie er aussieht, sondern was er uns sagt. Ja, allein in seinem Wort gibt sich Gott uns zu erkennen.

Das ist im Übrigen bei Menschen ja auch nicht viel anders: Da gibt es ja allen Ernstes Leute, die andere Menschen nach ihrem Aussehen beurteilen, die glauben, sie wüssten schon, wie ein Mensch ist, wenn sie seine Hautfarbe oder seine Haarfarbe wahrgenommen haben: Dunkel und schwarz scheint dabei dann immer auch gleich auf die Farbe der Seele hinzudeuten; heller ist besser; es muss ja nicht gleich blondinenblond sein. Ja, wie dumm ist es in Wirklichkeit, Menschen nach ihrem Aussehen in Schubladen zu stecken, zu meinen, man würde einen Menschen dadurch kennen, dass man beschreiben kann, wie er aussieht! Wie viel mehr erfahren wir von einem Menschen, wenn er seinen Mund aufmacht und redet, wenn wir durch seine Worte in sein Inneres blicken dürfen und wir so manches Vorurteil, das wir nach dem ersten Blick hatten, wieder revidieren müssen.

So ist das auch mit Gott. Wenn wir uns so in der Welt umschauen, wenn wir uns vielleicht auch den Verlauf unseres Lebens anschauen, dann mögen wir uns ja daraus ein Bild von Gott erstellen, das für Gott nicht so ganz fürchterlich vorteilhaft ausfällt: Was ist das für ein Gott, der all die schrecklichen Dinge in dieser Welt, ja auch in meinem Leben zulässt? Ist er vielleicht doch ein Sadist, ist er vielleicht doch ein Gott, dem diese Welt egal ist, dem ich als einzelner Mensch völlig gleichgültig bin?

Doch Mose erfährt auf dem Berg Sinai, dass Gott in Wirklichkeit eben doch ganz anders ist, als wir uns ihn vorstellen mögen, erfährt dies eben dadurch, dass er hört, was Gott von sich sagt, wie er sich ihm, Mose, und damit auch uns zu erkennen gibt: Barmherzig, gnädig, geduldig, von großer Gnade und Treue ist er, der HERR, so hört es Mose hier.

Schwestern und Brüder: Es mag sein, dass uns bei dieser Selbstvorstellung Gottes nun erst mal nur das große Gähnen überkommt: Das ist ja ganz nett, was Gott da über sich sagt, klingt ja auch ganz gut – aber was hat das denn mit mir, mit meinem Leben zu tun?

Machen wir nur kurz mal das Gedankenexperiment, was wäre, wenn Gott hier genau das Gegenteil über sich ausgesagt hätte: Stell dir einfach mal vor, was das hieße, dass Gott unbarmherzig ist, dass er kein Mitgefühl mit dir, mit deiner Situation hätte, dass es ihm nichts ausmachen würde, dich einfach in die Hölle zu stecken und dich dort braten zu lassen! Stell dir einfach mal vor, was das hieße, wenn Gott keine Gnade kennen würde, wenn er jedem das geben würde, was er verdient hat, wenn er keine Vergebung kennen würde, sondern nur Vergeltung! Stell dir einfach mal vor, was das hieße, wenn Gott mit uns keine Geduld hätte, wenn er uns sofort aufgeben würde, wenn wir ihn enttäuschen, nichts mehr mit uns zu tun haben wollte, wenn wir einmal versagt haben! Ja, stell dir nur mal vor, was das hieße, wenn man sich auf Gott nicht verlassen könnte, wenn man nie genau wüsste, wie er es eigentlich mit einem meint, ob er morgen noch zu dem steht, was er dir heute gesagt hat. Ja, stell dir nur mal vor, Gott wäre tatsächlich so, wie er vielen von uns hier in ihrer Jugend im Iran oder in Afghanistan vor Augen gestellt worden ist! Das wäre wirklich der Horror!

Ahnst du jetzt, was es bedeutet, dass Gott in Wirklichkeit eben doch barmherzig ist? Ahnst du es, wie viel Grund du hast, vor Freude herumzuspringen, dass Gott beinahe durchdreht vor Liebe, wenn er dich sieht? Ahnst du es, wie viel Grund zur Freude du hast, dass Gott dich nicht auf dein Versagen festnagelt, dass er dir nicht immer wieder unter die Nase reibt, was du früher einmal gemacht hast? Ahnst du es, wie viel Grund zum Jubeln du hast, dass Gott mit dir in deinem Leben schon so viel Geduld gehabt hat und auch noch weiter hat, dass er dich nicht aufgibt, immer und immer wieder hinter dir her läuft – und hinter anderen Menschen auch, die du lieb hast? Ahnst du es, wie sehr du dich darüber freuen, darüber aufatmen darfst, dass Gott nicht egal ist, was er dir gestern gesagt hat, was er dir überhaupt in seinem Wort gesagt hat, sondern dass er treu ist, dass er zu dem steht, was er dir versprochen hat? Ahnst du es, was es bedeutet, singen zu dürfen: „Lasset mich voll Freuden sprechen: Ich bin ein getaufter Christ!“? Ja, ahnst du es, was es bedeutet, dass du es noch viel besser hast als Mose damals, dass du wissen darfst: Gott sucht die Sünden der Menschen nur noch an einem heim, und das reicht für alle künftigen Generationen: an Christus, den er für die Missetaten aller Menschen hat am Kreuz sterben lassen, damit niemand um seiner Sünde willen mehr von Gott getrennt sein muss. Ja, ahnst du es, wie gut du es hast, dass auch dir diese wunderbare Botschaft gilt, ja, mehr noch: dass Gott tatsächlich so ist, so voller Liebe, dass er seinen einzigen Sohn für dich in den Tod gibt?

Ja, wenn du es ahnst, dann mache es wie Mose damals auch: Bete für die Menschen, die eigentlich Gottes Zorn verdient haben, bete für sie, dass Gott auch ihnen vergeben möge, auch ihnen gnädig sein möge! Ja, mehr noch: Nagele Gott darauf fest, was er ihnen versprochen hat, erinnere ihn an seinen Bund, den er mit ihnen geschlossen hat, an seinen neuen Bund, der doch beruht auf der Vergebung der Sünden! Lass nicht locker, tritt für die Menschen ein, die dir auf dem Herzen liegen! Gott lädt dich dazu ein, so auf ihn einzudringen, indem er sich dir in seinem Wort so vorstellt, wie er es bei Mose auch getan hat.

Und dann packe Gott bei seinem Wort, auch wenn es um dich selber geht. Er hat es doch nicht dabei belassen, davon zu sprechen, dass er gnädig und barmherzig ist. Er hat seine Zusage an dich noch konkreter gefasst. Er hat zu seinen Boten gesagt: Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen. So gibt sich Gott dir zu erkennen, so fest bindet er sich an das Wort von Menschen, nur damit du gewiss sein darfst: Da ist wirklich nichts mehr, was mich von Gott trennt; da ist wirklich nichts mehr, weswegen ich vor Gott Angst haben müsste.

Am kommenden Freitag begehen wir den Gedenktag der Reformation. Da geht es genau um das, was hier in unserer Predigtlesung beschrieben wird: Ganz lange hatte sich Martin Luther mit der Frage herumgeschlagen, wie er denn nun gewiss sein kann, dass Gottes Liebe und Güte und Barmherzigkeit tatsächlich auch ihm persönlich gilt – bis er schließlich erkannte: Gott selber hat sich doch an sein Wort gebunden: Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen. Wer Gott wirklich ist, was er wirklich von dir denkt und was er wirklich mit dir vorhat, das sagt er dir in seinem Wort. Hör nur zu, und dann lass dir dieses Wort der Vergebung zusprechen – jeden Sonntag neu in der Beichte. Nimm dir Zeit, über dieses Wunder zu staunen, das noch viel größer ist als die Wunder, die Gott damals dem Mose angekündigt hat: Gott vergibt dir deine Schuld, restlos, endgültig – so, dass er dich in alle Ewigkeit nie mehr darauf ansprechen wird. Darauf kannst du dich verlassen. Amen.