24.12.2013 | Kolosser 2,3-10 | Heilige Christnacht
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Nun sind sie also alle ausgepackt: die Weihnachtsgeschenke unterm Tannenbaum. Manche Geschenke konnte man auch trotz Verpackung relativ leicht identifizieren – etwa den 90 Zoll-Plasmabildschirm. Andere Geschenke sahen erst einmal sehr klein und mickrig aus; erst als man sie auspackte, stellte man fest, dass sich in der unscheinbaren Verpackung etwas Kostbares verbarg. Und wieder andere Geschenke hatten vielleicht keinen großen materiellen Wert, waren aber für den Beschenkten darum so wertvoll, weil er darin die Liebe spürte, die in diesem Geschenk mit verpackt war.

Es gibt viele Weihnachtsbräuche, deren christliche Ursprünge die meisten Menschen in unserem Land gar nicht mehr kennen und die sie dennoch weiter pflegen. Dazu zählt nicht nur das Aufstellen eines Weihnachtsbaums, dazu zählt gerade auch das Schenken. Was es mit diesem Schenken auf sich hat, das macht uns der Apostel Paulus in der Predigtlesung der Heiligen Christnacht sehr eindrücklich deutlich. Da ermuntert er uns nämlich dazu, auch ein Geschenk auszupacken, ein Geschenk, das längst nicht so pompös aussieht wie ein großer Flachbildschirm und das offenbar auch nicht denselben Unterhaltungswert hat wie eine Spielekonsole. Ganz klein ist dieses Geschenk, so klein, dass es in einen Futtertrog in einen Stall passt. Wenn wir uns dieses Geschenk anschauen, dann mögen wir zunächst einmal ziemlich enttäuscht sein: Das kennen wir doch schon längst, das haben wir doch schon längst; das brauchen wir doch eigentlich gar nicht mehr: Das Jesuskind in der Krippe, das haben wir uns in den vergangenen fünf Wochen doch nun schon genügend angeschaut; langsam reicht es. Und vor allem: Was sollen wir damit noch anfangen? Eine hübsche Dekoration ist es, gewiss. Aber die fliegt nun bald wieder raus, wenn das Fest vorbei ist!

Stopp! – ruft der Apostel Paulus: Packt dieses Geschenk nicht so schnell und einfach zur Seite, glaubt nicht, dass ihr es schon längst kennt und darum wisst, dass ihr dafür keinen Bedarf habt! Fangt doch erst einmal an, dieses Geschenk überhaupt auszupacken! Denn darin verbirgt sich viel mehr, als ihr beim ersten Hinschauen ahnt. Denn in diesem kleinen Kind in der Krippe von Bethlehem liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis, schreibt der Apostel. Nein, nicht nur einen Schatz findest du in diesem Kind; sondern alle Schätze überhaupt. Wohlgemerkt nicht alle Schätze an Geld und Besitz; die befinden sich an anderen Orten. Aber man muss noch nicht einmal Christ sein, um zu ahnen, dass Geld und Besitz nicht alle Schätze eines Lebens darstellen, ja, dass auch ein Weihnachtsfest ganz schön hohl wäre, wenn man seine Bedeutung auf den finanziellen Wert der Geschenke reduzieren würde.

Weisheit und Erkenntnis – darin kommt etwas von der Sehnsucht nach dem wahren Leben zum Ausdruck, die ganz tief in uns Menschen drinsteckt, von der Sehnsucht danach, sein Leben nicht zu verpassen, sondern den tiefsten Sinn des Lebens zu entdecken und danach sein Leben auszurichten. Immer wieder haben Menschen sich auf die Suche nach diesem Sinn des Lebens begeben, haben gesucht nach spirituellen Erfahrungen, die ihnen diesen Sinn erschließen. Ganz tief haben Menschen in sich hineingehorcht, haben gedacht, sie könnten diesen letzten Sinn, das Göttliche in sich selber entdecken, wenn sie sie sich nur tief genug in sich hineinversenken. Andere haben den Sinn ihres Lebens darin zu erkennen geglaubt, dass sie sich als Teil einer langen Reihe von Wiedergeburten sahen und meinten, sie müssten nun abbüßen und besser machen, was sie in einem ihrer vorherigen Leben versäumt hatten. Wieder andere sehen den Sinn ihres Lebens einfach darin, Spaß zu haben und die paar Jahre, die wir hier auf Erden haben, einigermaßen zu genießen. Und wieder andere erklären, der Sinn des Lebens bestünde darin, sich Gott bedingungslos zu unterwerfen und seinen Gesetzen zu folgen.

Doch Paulus öffnet uns hier die Augen für eine ganz andere Wirklichkeit: Alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis liegen ganz und gar verborgen in einem kleinen Baby, das arm und hilflos in einem Viehstall liegt. In ihm, ja, in ihm allein kannst und darfst du den letzten Sinn und das letzte Ziel deines Lebens, darfst du das wahre Leben überhaupt erkennen, denn, so fährt der Apostel fort, in ihm, diesem kleinen Kind wohnt die ganze Fülle der Gottheit wahrhaftig. Wenn du Gott finden willst, dann gehe nicht im Wald spazieren, dann horche nicht in dich selber hinein, dann versuche auch nicht, dir eine ganz eigene Lebensphilosophie zusammenzubasteln. Sondern dann komm zur Krippe, komm zu dem Kind in der Krippe. Da findest du Gott, da und nirgends sonst. Nein, in Christus wohnt nicht bloß ein bisschen Göttliches, Christus ist nicht bloß ein Prophet, der in besonderer Weise mit Gott verbunden ist. Sondern er ist Gott, in ihm findest du Gott ganz – und eben darin auch den tiefsten und letzten Sinn deines Lebens. Wo sollte der auch anders zu finden sein als in dem, der dir das Leben geschenkt hat und der dich auch einmal nach deinem Leben fragen wird? Wenn du auch nur ahnst, was es bedeutet, dass Gott wirklich Gott ist, dann wirst du nicht aufhören, dieses eine große Geschenk immer wieder auspacken zu wollen, dieses eine große Geschenk, das Gott dir gemacht hat, als er für dich Mensch geworden ist, als er dir leibhaftig nahe gekommen ist.

Nein, du musst kein Flugticket ins Heilige Land buchen, um an diesen leibhaftigen Gott heranzukommen. Du musst dich nicht auf lange Pilgerreisen begeben. Der Weg zum tiefsten Sinn deines Lebens, zum wahren Leben, zur Begegnung mit dem Mensch gewordenen Gott ist viel, viel kürzer. Ein paar Schritte nur, dann stehst du auch heute Nacht wieder hier am Altar. Und da begegnet er dir, er, in dem die Fülle der Gottheit wohnt, begegnet dir wieder, verpackt in ein Stück Brot und in einen Schluck Wein. Er lädt dich ein, will dir persönlich sein Geschenk überreichen, sich selber, sein Leben und damit die Erfüllung deines Lebens. Nein, es soll nicht bei einer kurzen einmaligen Begegnung mit ihm bleiben, nicht bei einem einmaligen Rendezvous bei der Weihnachtsfeier in der Kirche. Der Apostel lädt uns dazu ein, in ihm, Christus, fest verwurzelt zu bleiben mit unserem ganzen Leben, aus der Begegnung mit ihm immer wieder die Kraft für unser Leben zu schöpfen, auch wenn hier in der Kirche längst kein Weihnachtsbaum mehr steht. Was in dem einen großen Geschenk Jesus Christus verborgen ist, das kann man eben nicht durch einmaliges Auspacken erkennen, wie man einen Flachbildschirm auspackt. Ein ganzes Leben reicht nicht aus, um auch nur zu erahnen, was für Schätze in diesem Jesus Christus zu finden sind, was es bedeutet, in ihm Gott selber zu begegnen, was es bedeutet, ihn, Jesus Christus, mit unserem Mund anrühren zu dürfen, was es bedeutet, dass mit diesem Jesus Christus die Fülle der Gottheit eben auch in uns wohnt, wenn wir hier vom Altar in unsere Kirchenbank und schließlich in unseren Alltag zurückkehren.

Höre darum mit dem Geschenkeauspacken nicht heute Nacht auf! Fahre damit fort, das ganze Jahr über, staune immer wieder neu darüber, wie reich du beschenkt bist, ja, freue dich darüber, was für einen wunderbaren Sinn dein Leben hat: Du bist dazu gerufen, in alle Ewigkeit über das Geheimnis Gottes zu staunen, dem du jetzt schon begegnen darfst und das du einmal mit eigenen Augen schauen wirst. Darum, ja darum allein feiern wir Weihnachten. Amen.