29.04.2012 | 2. Korinther 4,16-18 | Jubilate

Jetzt gibt es Red Bull also auch mit Cranberry-, Limitte- und Heidelbeergeschmack. Doch die Wirkung bleibt immer dieselbe: Es verleiht Flügel, verhindert, dass wir müde werden, lässt uns immer noch weitermachen, auch wenn wir eigentlich gar nicht mehr können. Solche Mittelchen, mit denen man die Müdigkeit scheinbar hinter sich lassen kann, sind ja heutzutage sehr beliebt – ob man nun legale Muntermacher wie Red Bull oder illegale wie Ecstasy-Pillen zu sich nimmt. Denn nicht müde zu werden, wach und fit und attraktiv zu bleiben – das ist doch ein Gebot der heutigen Zeit. Wenn ich müde bin, dann könnte ich ja etwas verpassen – und außerdem: Wenn ich die Ausstrahlung einer Schlaftablette habe, dann komme ich auch bei anderen in aller Regel nicht gut an. Wer niemals müde zu sein scheint, der hat doch ganz andere Chancen bei denen, die ihn umgeben!

Doch die Flügel von Red Bull tragen eben nicht beliebig lange, von den Wirkungen und Nebenwirkungen von Ecstasy-Pillen einmal ganz abgesehen. Was wir auch versuchen mögen, unsere Müdigkeit zu besiegen – früher oder später kommen wir doch nicht gegen sie an. Jawohl, wir werden müde, und diese Müdigkeit, die kann in unserem Leben ganz verschiedene Gestalten annehmen:
Müde können wir sein, weil wir es in der Nacht zuvor einfach nicht geschafft haben, den Computer, das Fernsehen rechtzeitig abzuschalten, weil uns der Bildschirm so in seinen Bann gezogen hat, dass wir am nächsten Morgen kaum aus dem Bett kommen – erst recht nicht, wenn es doch scheinbar nur darum geht, zum Gottesdienst zu kommen.

Müde können wir sein, weil so viele Aufgaben und Herausforderungen auf uns einstürmen, dass wir es einfach nicht schaffen, sie so zu bewältigen, dass uns noch genügend Zeit zum Schlafen, zum Ausruhen bleibt. Und da kommt dann schnell zur körperlichen Müdigkeit das Gefühl, überfordert zu sein, von dem, was eigentlich getan werden müsste, erschlagen zu werden.

Müde können wir auch sein, wenn wir uns in unserem Leben bei der Arbeit oder auch im persönlichen Bereich so viel Mühe geben und dann am Ende feststellen, dass die ganze Mühe doch letztlich umsonst war, dass wir uns vergeblich abgemüht haben, dass der gewünschte Erfolg der Mühe ausbleibt: Es hat ja doch alles keinen Zweck!

Müde können wir sein, wenn wir über eine längere Zeit in unserem Leben um nicht weniger als um unsere Zukunft kämpfen müssen, wenn wir einen Tiefschlag nach dem anderen erhalten und uns immer wieder aufrappeln müssen, weil wir gar keine andere Chance haben als weiterzukämpfen, auch wenn wir eigentlich gar nicht mehr können.

Manchmal überkommt uns Müdigkeit in solchen Situationen ganz plötzlich: Die ganze Kraft, die wir zuvor noch zusammengenommen hatten, verlässt uns, und wir merken, wie wir gleichsam in einem tiefen Loch versinken. Aber es gibt auch eine Müdigkeit, die sich ganz langsam bei uns aufbauen kann: Müdigkeit durch beständige Überforderung oder Unterforderung, aber auch eine Müdigkeit der Seele, für die es gar nicht unbedingt irgendwelche äußeren Gründe geben muss, eine Müdigkeit der Seele, unter der Millionen von Menschen in unserem Land leiden, unter der besonders auch viele leiden, die als Flüchtlinge in unser Land gekommen sind und eigentlich keine Möglichkeit hatten, die schlimmen Erfahrungen, die sie zuvor und auf der Flucht gemacht hatten, irgendwie aufzuarbeiten und zu bewältigen. Diese Müdigkeit wird von vielen, die diese Müdigkeit nicht kennen, nicht verstanden: Mensch, reiß dich doch zusammen; dann geht es schon wieder! Nein, wenn man von solch einer Müdigkeit befallen ist, dann helfen auch keine Ecstasy-Pillen mehr; da sind dann ganz andere, auch medizinische Maßnahmen nötig.

Müdigkeit – das ist ein Thema, das mir auch persönlich nicht fremd ist. Ja, kurz vor dem Urlaub bin ich immer hundemüde, weil ich da jedes Mal so viel vorarbeiten muss, dass mir in den Tagen davor immer nicht viel Zeit zum Schlafen bleibt. Und auch diese anderen Müdigkeiten kenne ich sehr wohl: das Gefühl, nicht annähernd das zu schaffen, was ich eigentlich schaffen müsste, Menschen warten lassen zu müssen, für ich eigentlich hätte da sein müssen, ja, auch die Enttäuschung, sich so sehr um Menschen bemüht zu haben, um Konfirmanden, um Jugendliche, um Gemeindeglieder, die doch früher einmal gerne und ganz von allein kamen, und dann am Ende festzustellen, dass die ganze Mühe scheinbar doch umsonst war, dass sie doch nicht mehr wollen, doch nicht mehr kommen. Jawohl, das macht müde, so merke ich es immer wieder auch bei mir.

Doch gerade wenn wir solch eine Müdigkeit auch aus unserem eigenen Leben kennen, dürfen wir den Trost vernehmen, der aus den Worten des Apostels Paulus in unserer heutigen Predigtlesung zu uns spricht. Auf den ersten Blick scheint der Apostel für unsere Situation, für unsere Müdigkeit gar kein Verständnis zu haben: „Darum werden wir nicht müde“, schreibt er hier. Kennt der heilige Paulus also ein Aufputschmittel, von dem wir keine Ahnung haben – oder ist für ihn vielleicht der christliche Glaube selber dieses Aufputschmittel, das ihn pausenlos high macht, ihn immer nur glücklich und voller Power seinen Dienst vollziehen lässt? „Glaube an Jesus – und deine Müdigkeit ist weggeblasen, deine Enttäuschung, ja auch deine Depression!“ Sollte das etwa die Botschaft unserer heutigen Predigtlesung sein?

O nein, dann würden wir den Apostel Paulus ganz gewaltig missverstehen. Als er die Worte an die Christen in Korinth schrieb, die wir eben gehört haben, war er ein körperliches Wrack, chronisch krank, gezeichnet von Folterungen. Und enttäuscht war er auch, seelisch verletzt von dem, was er in seiner Gemeinde in Korinth erfahren hatte, von den Anfeindungen und menschlichen Gemeinheiten, die er dort hatte erleben müssen. Der Paulus war kaputt, als er diese Worte schrieb, ganz klar.

Und es ist ja auch nicht so, dass er das verdrängen würde, dass er sich selber oder anderen etwas vormachen würde. Ganz unverhohlen spricht er davon, dass „unser äußerer Mensch verfällt“, dass er aufgerieben wird, wie es wörtlich hier heißt. Und mit diesem „äußeren Menschen“ ist eben nicht nur der Körper des Menschen gemeint, sondern auch die Seele. Die kann sich auch verbrauchen, kann Narbengewebe bilden, das sich nicht mehr so einfach entfernen lässt. Depressionen lassen sich medizinisch in aller Regel heutzutage gut behandeln, gottlob. Aber nicht jede seelische Erkrankung lässt sich einfach beseitigen; das gibt es durchaus, dass Menschen seelische Krankheiten mit sich ihr ganzes Leben herumschleppen, Krankheiten, die sie aufreiben, jawohl. Wir werden im Laufe unseres Lebens, von einigen wenigen Damen in unserer Mitte vielleicht abgesehen, nicht immer frischer und jugendlicher; wir nutzen uns ab, körperlich und seelisch. Und dazu trägt eben auch die „Trübsal“ bei, von der der Apostel hier spricht, Erfahrungen, die uns bedrücken und belasten, Krankheiten, Schicksalsschläge, seelische Verletzungen. All das sieht der Apostel ganz klar, benennt es hier auch schonungslos.
Und doch schreibt er hier nun: „Wir werden nicht müde.“ Was meint er damit?

Nein, dem Apostel geht es nicht darum, die letzten verbliebenen Kräfte zu mobilisieren, einfach nicht aufzugeben und immer weiterzumachen. Sondern er spricht hier von einer anderen Wirklichkeit, von einer anderen Realität in unserem Leben, die man nicht gleich mit den Augen wahrnehmen kann und die doch genauso wirklich, ja tatsächlich sogar noch viel wichtiger ist als die Müdigkeit, die Erschöpfung, die Enttäuschung, die Schwäche, die wir in unserem Leben erfahren und empfinden. Von dem inneren Menschen spricht der Apostel hier. Dieser innere Mensch, der steckt nicht schon seit unserer Geburt in uns drin, den können wir auch nicht in uns selber bilden mit irgendwelchen Meditationsübungen, sondern dieser innere Mensch, den hat Christus selber in uns geschaffen in unserer heiligen Taufe. Seitdem tragen wir diese neue Wirklichkeit in uns, diese Wirklichkeit, die letztlich kein anderer ist als er, der auferstandene Christus selber, der in uns lebt. Und diese neue Wirklichkeit in unserem Leben, die bleibt bestehen, auch wenn wir körperlich und seelisch müde und kaputt sind und selber gar nicht mehr weiter wissen. Diese neue Wirklichkeit in unserem Leben, die bleibt bestehen, auch wenn wir krank sind, ja selbst, wenn es irgendwann einmal auf unser Sterben zugeht. Auch wenn wir es manchmal so fühlen und empfinden mögen: In unserem Leben findet nicht bloß ein allmählicher Abriss statt, dass unser Leben, unsere Kräfte, unsere Möglichkeiten immer weniger werden. Das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die, dass Christus uns Tag für Tag in all dem, was wir erleben, schon vorbereitet auf das Ziel unseres Lebens, auf den Tag, an dem wir einmal nur noch dieser neue Mensch sein werden, an dem wir einmal mit einem neuen Leib und einer ganz heilen Seele, ohne einen Hauch von Müdigkeit ihn, Christus, selber schauen werden. Jeden Tag bereitet uns Christus darauf vor, auch und gerade durch das Schwere, das wir in unserem Leben erfahren. Es soll uns helfen wahrzunehmen, dass das, was wir in unserem Leben sehen können, was uns unmittelbar vor Augen steht, nicht alles ist. Es soll uns davor bewahren, uns nur an das Sichtbare, Greifbare zu klammern und damit die eigentliche Realität unseres Lebens zu übersehen.

Wenn ich mich mein ganzes Leben lang mit Red Bull immer wieder wach halte, wenn ich mir mit allen möglichen Schönheitsoperationen immer wieder ein jugendliches Aussehen zu geben versuche, wenn ich nach außen hin immer attraktiv, gut in Form und hellwach erscheine und doch von dieser eigentlichen Realität meines Lebens nichts weiß und nichts wissen will, dann verschlafe ich mein Leben in Wirklichkeit, auch wenn ich scheinbar die ganze Zeit gut drauf bin. Und wenn ich umgekehrt auch meine Enttäuschungen, meine Müdigkeit, meine Krankheiten, meine Behinderungen, meine Hinfälligkeit annehme und zugleich weiß, dass ich viel mehr bin, ein Mensch, für den Christus gestorben ist und in dem Christus lebt, dann bin ich in Wirklichkeit hellwach, auch wenn mich andere möglicherweise ganz anders beurteilen.

Es kann dann allerdings durchaus auch geschehen, dass Menschen, die mit uns Christen zu tun haben, auch selber etwas von diesem inneren Menschen, diesem neuen Menschen in uns zu ahnen beginnen. Das kann geschehen, dass sie darüber staunen, dass wir als Christen offenbar noch einmal eine ganz andere Kraftquelle für unser Leben haben, die ihnen fehlt. Das kann geschehen, dass sie darüber staunen, dass wir mit unseren Grenzen noch einmal ganz anders umgehen können als sie, weil wir wissen, dass wir mehr sind als das, was wir als Show nach außen hin präsentieren könnten. Und das kann dann sogar geschehen, dass Gott uns auch in ganz schweren Zeiten tatsächlich Kräfte zuwachsen lässt, von denen wir selber spüren, dass wir die nicht aus uns selber haben.

Christen sehen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, schreibt der Apostel hier. Genau das üben wir ja jede Woche von Neuem ein, wenn wir das Heilige Abendmahl feiern. Da sehen wir nur ein Stück Brot und einen Kelch mit Wein. Was soll das schon bewirken, mag man denken. Doch wir sehen auf das Unsichtbare, sehen auf den Leib und das Blut des Herrn, die sich in den sichtbaren Gestalten verbergen und die doch die eigentliche Gabe dieses Sakraments sind. Ja, Christus lebt in uns durch die Gaben des Heiligen Mahles, fängt dadurch immer wieder an, uns zu erneuern, uns vorzubereiten auf den Tag unserer Auferstehung: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tag auferwecken“, so sagt es Christus selber. Darum werden wir nicht müde – weil diese Speise eine Kraft hat, die selbst die härteste Ecstasy-Pille niemals entfalten könnte: die macht uns wach, die weckt uns auf, selbst wenn wir schon in einem Sarg in der Erde liegen. Was für eine wunderbare Lebensperspektive, was für eine Hoffnung! Wir werden einmal nie mehr müde sein. Dafür lohnt sich dann sogar die eine oder andere Stunde Schlafverzicht, auch am Sonntagmorgen! Amen.