06.05.2012 | Apostelgeschichte 16,23-34 | Kantate

Neulich bekam ich beim Abendessen vor dem Fernseher einen Abschnitt aus einer Talkshow mit Günther Jauch mit. Ich merkte schnell: Diese Sendung war anders als diejenigen, die man normalerweise an diesem Sendeplatz präsentiert bekommt. Da gifteten sich nicht Vertreter verschiedener politischer Parteien oder sich bekämpfender gesellschaftlicher Gruppen in schon vorhersehbarer Manier an, sondern da saßen Menschen zusammen, die je auf ihre Weise von schweren Schicksalsschlägen getroffen worden waren: Samuel Koch, der seit seinem Unfall bei „Wetten dass“ seine Arme und Beine nicht mehr bewegen kann, saß da zusammen mit seinem Vater und einer seiner Schwestern, der frühere MDR-Intendant Udo Reiter, der seit einem Autounfall mit 22 Jahren in einem Rollstuhl sitzt, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, dessen jüngste Tochter vor einigen Jahren an Leukämie starb. Einfühlsam stellte Günther Jauch seine Fragen und sprach dabei auch ganz offen das Thema „Gott“ an, die Frage, ob und wie diese Schicksalsschläge den Glauben der Betroffenen an Gott verändert hätten. „Der Unfall hat Sie im Glauben erschüttert“, stellte Jauch gegenüber Samuel Koch fragend fest. Und Samuel Koch, der gläubige Christ, antwortete mit fester Stimme: „erschüttert, aber nicht gestürzt“. Ja, es war erstaunlich, solche Töne im Fernsehen zur besten Sendezeit vernehmen zu können.

Um ein ganz ähnliches Thema wie bei Günther Jauch geht es auch in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Auch da wird geschildert, wie Menschen Erfahrungen mit Gott machen, Erfahrungen, die sie nicht gleich verstehen, die sie im Gegenteil auch ganz schön mitnehmen, ja umhauen und sie doch am Ende erkennen lassen, was wirklich trägt. Drei wichtige Erfahrungen mit Gott schildert uns St. Lukas hier in der Apostelgeschichte:
- Gott erspart uns dunkle Löcher nicht.
- Gott kann unser Leben ganz schön erschüttern.
- Gott lässt alles zu unserer Rettung dienen.

I.
Vor einigen Tagen las ich von einem Gefangenen in einem Gefängnis, der sich über seine Haftbedingungen heftig beklagte: Er kann in seiner Haft ganz für sich allein ein Fitnessstudio benutzen, bekommt sein Essen täglich aus einem nahegelegenen Restaurant à la carte geliefert und hat ein Zimmer mit einem traumhaften Ausblick aufs Meer. Und trotzdem beklagte er sich kräftig, dass er sich in einer Isolationshaft befindet. Denn er ist der einzige Gefangene im Staat San Marino und kann nur hoffen, dass irgendwann mal wieder ein zweiter zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, damit er in seinem Gefängnis nicht mehr ganz allein herumhängen muss.

Von dem Problem, als Gefangener seine Pizza mit Meeresfrüchten ganz allein heruntermampfen zu müssen, konnten Paulus und Silas damals im Gefängnis von Philippi nur träumen. Statt eines Fitnessstudios gab es dort nur einen Block, in den ihre Beine gesteckt wurden, sodass ihnen nichts Anderes übrig blieb, als sich mit ihrem Rücken, an dem nach der Auspeitschung die Haut in Fetzen herunterhing, in den Dreck zu legen, und statt des Meerblicks gab es nur absolute Finsternis: in ein Loch waren sie geworfen worden, aus dem sie auch ohne diesen Block nicht mehr hätten entkommen können.

Da saßen oder hingen oder lagen Paulus also nun ihrem Loch, in dem sie nur deshalb gelandet waren, weil sie die christliche Botschaft verkündigt und in der Vollmacht ihres Herrn geheilt hatten. Das war also nun bei ihrem Engagement als Christen herausgekommen – und Gott hatte das offensichtlich zugelassen, ersparte ihnen die Erfahrung dieses dunklen Lochs nicht.

Solche dunklen Löcher gibt es auch heute noch. Es gibt sie in ganz wörtlichem Sinne, und wir haben Brüder in unserer Mitte, die kennen solche Löcher, solche Folterzellen aus ihrem eigenen Leben, solche Löcher, in die sie gesteckt worden waren, weil man sie bei der Ausübung des christlichen Glaubens erwischt hatte. Und solche dunklen Löcher gibt es auch in übertragenem Sinne: Erkrankungen der Seele, bei denen man das Gefühl hat, in solch einem dunklen Loch gelandet zu sein, Schicksalsschläge wie etwa der Unfall eines Samuel Koch, der sich nun in seinem Körper dauerhaft so ähnlich fühlt wie Paulus und Silas da in ihrem Block, Erfahrungen von Ausweglosigkeit, in denen man nicht mehr weiß, wie es im Leben überhaupt noch mal weitergehen soll. Schwestern und Brüder: Es gibt wohl so manche unter euch, denen solche Erfahrungen von dunklen Löchern in ihrem Leben nicht erspart geblieben sind.

Ganz nüchtern sollen wir das wahrnehmen: Gott verschont uns von solchen Erfahrungen nicht. Wenn man Christ wird, heißt das nicht, dass man in seinem Leben keine Probleme mehr hat, dass sich nun mit einem Male alles im Leben zum Guten wendet. Die Wege, die Gott uns führt, sind oftmals ganz andere. Doch etwas ganz Anderes ist nun in diesem Zusammenhang ganz wichtig, so stellt es uns St. Lukas vor Augen: Paulus und Silas, die waren auf solch eine Erfahrung eines dunklen Lochs vorbereitet. Um Mitternacht halten sie ihr Stundengebet, singen und loben Gott, dass ihr Gesang durch das gesamte Gefängnis schallt. Paulus und Silas, sie kannten die Texte, sie kannten die Lieder, kannten sie offenkundig auswendig, denn lesen konnten sie da unten in ihrem Loch ganz sicher nichts. Und genau diese geistliche Überlebensration hilft ihnen nun, selbst in solch einem dunklen Loch auszuhalten, ja den Glauben zu bewähren.

Liebe Schwester, lieber Bruder, weißt du eigentlich, was du dir Gutes tust, wenn du regelmäßig hierher zum Gottesdienst kommst? Das ist ja nicht eine Pflichtübung, die du hier vollziehst, sondern das, was du dir hier durch immer neue Wiederholung einprägst, das wird auch dich einmal tragen, wenn du in Lebenssituationen kommst, in denen dir kein selbstformuliertes Gebet mehr über die Lippen kommt, in denen du nicht damit rechnen kannst, dass dich deine positiven Emotionen irgendwie noch weitertragen. Wenn du einmal so richtig in einem dunklen Loch steckst, wirst du das merken, was dir dann hilft: Das, was auch Paulus und Silas geholfen hat, das, was dir durch Übung vertraut ist. Ja, es hilft dir, wenn du auch ansonsten im Alltag daran gewöhnt bist, zu bestimmten, festen Zeiten zu beten. Das hilft dir weiter, wenn dein Alltagsrhythmus unterbrochen wird, denn diesen Rhythmus des Gebets kann dir keiner nehmen. Das hilft dir, wenn du Lieder auswendig kannst, wenn du Gebete auswendig kannst, wenn du Worte der Heiligen Schrift, ja sogar des Katechismus auswendig kannst. Wenn dir sonst im dunklen Loch alles genommen wird: Das kann dir keiner nehmen. Wie viele Christen haben in ihrem Leben schon diese Erfahrung gemacht! Ja, mache dich ganz bewusst daran, dir in deinem Leben solch eine Überlebensration aufzubauen! Du wirst sie brauchen, denn Gott erspart uns dunkle Löcher nicht.

II.
Und dann haut es die Gefängnisinsassen mit einem Mal um: Ein Erdbeben, wie es dort in Philippi nicht unüblich ist, erschüttert das Gefängnis bis in seine Grundmauern.

Schwestern und Brüder: Ein Erdbeben mitzuerleben, ist nicht witzig. Das ist lebensgefährlich, und es ist zugleich eine traumatische Erfahrung, wenn man merkt, dass etwas, worauf man sich bisher immer fest verlassen hat, gar nicht so selbstverständlich ist: Dass der Boden, auf dem man steht, einen trägt und einem festen Halt gibt. Solche Erdbeben in unserem Leben, die muss man nicht immer an der Richterskala ablesen können. Es gibt auch Erschütterungen ganz anderer Art, die uns den Boden unter den Füßen wegziehen können, so erfährt es zum Beispiel der Gefängniswärter hier in der Geschichte: Von einer Minute auf die andere erfährt er, dass er nicht mehr alles in seinem Beruf im Griff hat, dass im Gegenteil seine gesamte berufliche Zukunft, ja sein Leben einzustürzen scheint.

Gott kann unser Leben ganz schön erschüttern. Diese Erfahrung hatten die Teilnehmer der Talkrunde bei Günther Jauch gemacht, und diese Erfahrung hat auch schon so mancher von euch gemacht, wie einem von einer Minute auf die andere der Boden unter den Füßen weggerissen werden kann. Nein, das sind keine schönen, keine prickelnden Erfahrungen, keine interessanten Horizonterweiterungen. Sondern solche Erfahrungen sind erst einmal nur furchtbar.

Doch St. Lukas schildert uns hier, wie Gott auch solche Erschütterungen nutzen kann, um daraus am Ende doch noch Gutes entstehen zu lassen, Menschen zu einer Lebenswende zu verhelfen. Ja, bei so manchem Menschen muss offenbar tatsächlich erst einmal der Boden unter den Füßen zu schwanken beginnen, muss all das, was für einen bisher ganz selbstverständlich galt, fraglich werden, bevor er oder sie anfängt, noch einmal ganz neu über sein Leben nachzudenken, vielleicht auch zu bedenken, wie hohl das eigene Leben bisher gewesen ist.

Schwestern und Brüder, ich gestehe: Manchmal geht mir tatsächlich der Gedanke durch den Kopf, dass diesem oder jenem Menschen ein Erdbeben in seinem Leben doch mal so richtig gut täte. Da gibt es Menschen, die leben ihr Leben mit einer Dickfelligkeit vor sich hin, dass man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte. Die interessieren sich wirklich nur für ein trautes Familienleben, für den Beruf, für ihre Hobbys, für ihren Urlaub, für ein bisschen Spaß am Wochenende – und merken gar nicht, dass sie damit am Ziel ihres Lebens vorbeileben, dass sie drauf und dran sind, das Ziel ihres Lebens zu verpassen. Alle Versuche des Pastors oder anderer Gemeindeglieder, daran etwas zu ändern, lassen sie freundlich an sich abtropfen: Man hat ja nichts gegen Kirche; aber die anderen Beschäftigungen nehmen so viel Zeit in Anspruch – da bleibt für Gott einfach keine Zeit übrig. Und ganz nett ist das Leben ja auch ohne ihn.

„Herr, wie wäre es mit einem Erdbeben?!“ – Ja, ich ertappe mich manchmal bei diesem Gedanken. Man will den Leuten ja nichts Böses, im Gegenteil. Es wäre viel schöner, wenn sie von sich aus den Weg zu Christus, zum Glauben finden würden. Aber manchmal kommen die Erdbeben dann tatsächlich, rütteln Menschen wach, lassen sie auf diese Weise den Weg zu Christus finden wie den Gefängniswärter hier in der Geschichte auch.

III.
Denn das eine macht uns St. Lukas hier auch ganz deutlich: Wenn Gott das Leben von Menschen erschüttert, dann tut er dies nicht, weil er Freude daran hätte, ihnen einen Schreck einzujagen, weil er vielleicht gar Freude daran hätte, Menschen zu quälen. Im Gegenteil: Gott hat nur ein Ziel, er will nur eines: dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

Und worin besteht die Wahrheit? Sie besteht darin, dass nicht wir Menschen etwas tun müssen, um von Gott gerettet zu werden, sondern dass Gott selber alles tut, um uns selig zu machen, um uns in den Himmel zu bringen.

Der Gefängniswärter merkt hier zunächst einmal nur eines: Hinter der Erschütterung, die ich gerade erfahren habe, steht Gott. Der hat mein Leben durcheinandergewirbelt. Aber wie komme ich denn nun in das richtige Verhältnis zu Gott, dass er für mich nicht bloß eine Schreckensgestalt, eine Quelle von Angst bleibt? Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?

Paulus und Silas gehen auf die Frage des Gefängniswärters nur indirekt ein: „Glaube an den Herrn Jesus“ ist gerade nicht die Antwort auf die Frage, was der Gefängniswärter tun soll. Sondern Paulus und Silas machen dem Gefängniswärter mit diesen Worten klar, dass seine Frage völlig falsch war: Glauben heißt: Gerade nichts selber tun, sondern sich einfach nur beschenken zu lassen, beschenken zu lassen von Gott, von dem, was Jesus Christus für uns getan hat. Und genau das geschieht dann auch: Gott beschenkt reichlich in dieser Nacht, beschenkt nicht bloß den Gefängniswärter, sondern auch gleich noch sein ganzes Haus, seine Frau, seine Kinder, seine Sklaven und wer da noch alles mit dazugehört haben mag, beschenkt sie alle miteinander mit der Wiedergeburt zum ewigen Leben durch das Wasser der Taufe, rettet diese Menschen damit, macht sie selig, macht sie zu Menschen, die sich von Herzen darüber freuen, dass Gott ihr Heil, ihre Rettung nicht nur will, sondern sie tatsächlich auch wirkt.
Schwestern und Brüder, wenn wir in unserem Leben in dunklen Löchern sitzen, oder wenn uns der Boden unter den Füßen weggerissen wird, dann mögen falsche Gottesbilder, die wir uns selber gebastelt hatten, bei uns einstürzen. Genauso haben es auch der Vater von Samuel Koch und der Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider bei Günther Jauch bezeugt. Der Glaube an Gott ist keine harmlose Angelegenheit, eignet sich nicht als religiöses Hintergrundgeräusch für ein Leben, in dem Gott sonst weiter keine Rolle spielt. Doch wenn wir danach fragen, wer Gott wirklich ist, brauchen wir uns nicht mit den Erfahrungen der dunklen Löcher und des schwankenden Bodens zu begnügen. Gott hat auch uns ganz eindeutig gezeigt, was er wirklich mit uns vorhat, was er wirklich will: Das hat er auch uns gezeigt in unserer Taufe, als er uns zu seinen Kindern und zu Erben des ewigen Lebens gemacht hat. Seitdem steht bombenfest: Auch alles Schwere in unserem Leben soll uns nur zum Besten dienen. Denn Gott will, dass wir selig werden, ja, hat selber schon unsere Rettung an uns vollzogen an unserem Tauftag. Was in unserem Leben auch wackeln mag: Gottes Geschenk der Taufe kippt nicht um; das zeigt seine Kraft sogar erst so richtig in der Stunde unseres Todes.

Der Gefängniswärter von Philippi hat seine Taufe groß gefeiert, hat gesungen und gejubelt und mit Paulus und Silas auch gleich das Mahl gefeiert. Nichts Anderes machen wir heute Morgen hier im Gottesdienst: Wir kommen hierher mit all den dunklen Erfahrungen und all den Erschütterungen unseres Lebens in unseren Knochen. Aber nun feiern wir hier, loben Gott, der sich in unserer Taufe als unser Vater zu erkennen gegeben hat, preisen Christus, unseren Herrn, der für uns in das dunkle Loch des Todes gestiegen ist, fangen schon einmal an mit seinem großen Festmahl im Himmel, das nie mehr enden wird, wenn wir hier nach Christi Befehl das Heilige Mahl feiern. Gott will auch dich aus all deinen Löchern einmal endgültig herausholen, lässt es dich jetzt schon leibhaftig erfahren, wie er dich packt und herausziehen will, wenn du den Leib und das Blut deines Herrn gleich im Heiligen Mahl empfängst. Samuel Koch hat es auf den Punkt gebracht: Erschüttern mag Gott dich im Leben – doch stürzen will er dich nicht, sondern retten. Glaube darum an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Amen.