01.01.2011 | Römer 12,21 | Tag der Beschneidung und Namengebung Jesu

Über 80 Jahre gibt es sie nun schon hier in Deutschland: die Jahreslosung. Erfunden wurde sie 1930 von dem schwäbischen Pfarrer Otto Riethmüller, der hier in Berlin-Dahlem im Burckhardthaus tätig war: Jeweils ein bestimmtes Wort der Heiligen Schrift sollte das Leben der Christen ein Jahr lang in besonderer Weise begleiten. Es gibt viele gute Gründe, die für diesen Brauch der Jahreslosung sprechen; welche Kraft eine solche Losung zu entfalten vermag, erkannten damals im Dritten Reich schon die Nazis, die prompt die Veröffentlichung der Jahres- und Monatslosungen mit Berufung auf das „Gesetz zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen Partei und Staat“ verbieten ließen.

Die Veröffentlichung einer Jahreslosung hat allerdings auch ihre problematischen Seiten, und die lassen sich an der Jahreslosung für das Jahr 2011 sehr schön deutlich machen. Hört man sie sich an, dann klingt sie nett, beinahe geeignet als Spruch fürs Poesiealbum. Aber sie klingt andererseits auch ein wenig moralinsauer, eignet sich gut als Keule zur Disqualifizierung des Handelns anderer und als Mittel zur Erzeugung eines schlechten Gewissens: Ja, wie soll ich das bloß schaffen, so viel Güte aufzubringen, dass ich damit tatsächlich all das Böse, das mich umgibt, überwinden kann? Das Grundproblem dieser Jahreslosung wie das aller Jahreslosungen besteht darin, dass in ihr ein Vers aus der Heiligen Schrift aus dem Zusammenhang gerissen wird und daraufhin in ganz andere Zusammenhänge eingefügt wird als die, in denen er ursprünglich gestanden hatte. So bedarf es beispielsweise keiner besonderen prophetischen Gabe, um vorauszusagen, dass diese Jahreslosung von bestimmten kirchlichen Kreisen als Argument in die Debatte um den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr eingebracht werden wird: Wir sollen doch das Böse mit Gutem überwinden; also dürfen wir in Afghanistan keine Gewalt anwenden, sondern höchstens Blümchen verteilen.

Schwestern und Brüder, nun mag man über die richtige Strategie für Afghanistan auch unter Christen sehr unterschiedlicher Meinung sein – fest steht jedoch, dass die Jahreslosung für das Jahr 2011 damals vom Apostel Paulus nicht als Strategiepapier für einen Militäreinsatz formuliert worden ist, sondern ganz andere Adressaten hatte. Und darum soll es nun auch in dieser Predigt gehen, dass wir die Jahreslosung dieses Jahres erst einmal wieder in den Zusammenhang einfügen, dem sie ursprünglich entnommen ist, um von daher dann zu verstehen, was denn eigentlich mit ihr gemeint ist.

Wem gilt die Jahreslosung des Jahres 2011 eigentlich? Sie gilt zunächst einmal den Christen in Rom, an die der Apostel Paulus damals seinen Brief schrieb, dem dieser Vers entnommen ist. Nun gilt dieses Wort der Heiligen Schrift gewiss auch uns heute – aber es gilt, und das ist ganz wichtig festzuhalten, getauften Christen, die Paulus zu einem Leben aus der Taufe anleiten will. Die Jahreslosung ist keine allgemeine Wahrheit, die sich jeder anständige Mensch hinter die Ohren schreiben sollte, sondern sie soll Christen dienen und helfen, in der empfangenen Taufgnade zu bleiben. 

Und damit sind wir schon beim Nächsten: Weil die Jahreslosung getauften Christen gilt, gilt sie Menschen, die sich seit ihrer Taufe in einem Kampf befinden, in einem Kampf, in dem der Widersacher Gottes, der Teufel, versucht, Menschen aus der Gemeinschaft mit Christus wieder herauszulösen und sie auf seine Seite zu ziehen. Nur auf dem Hintergrund dieses Kampfes kann unsere Jahreslosung überhaupt recht verstanden werden: Sie ist keine Benimmregel und keine Anleitung zum erfolgreichen Umgang mit Konflikten am Arbeitsplatz und erst recht keine taktische Anweisung für die Bundeswehr. Sondern sie soll eine Hilfe für den Christen sein, den entscheidenden Kampf seines Lebens zu bestehen und bei Christus, in seiner Gemeinschaft, zu bleiben.

Und dann klingt das, was der Apostel hier schreibt, doch noch einmal ganz anders: Jawohl, das erfahren wir Christen in der Tat immer wieder in unserem Leben, dass wir mit Bösem konfrontiert werden, nein, nicht bloß als Zuschauer, sondern als direkt Betroffene. Da bekommen wir es beispielsweise mit, wie hinter unserem Rücken böse Gerüchte über uns in Umlauf gebracht werden. Oder wir erleben es, dass Menschen sich uns gegenüber gemein und unverschämt aufführen, uns blöde anmachen, uns vielleicht auch Dinge unterstellen, die wir gar nicht getan haben. Oder wir müssen es erleben, dass es Menschen gelingt, uns ins Unrecht zu setzen, obwohl wir doch eigentlich gar nichts Unrechtes getan haben. Und mitunter erleben wir es vielleicht sogar auch, dass wir Opfer offensichtlicher Straftaten werden, dass Menschen uns durch diese Straftaten nicht bloß schädigen, sondern uns mitunter auch schweres Leid zufügen. Was bedeutet die Jahreslosung nun in diesem Zusammenhang?

Die Jahreslosung macht uns auf einen doppelten Trick aufmerksam, mit dem der Teufel versucht, aus solchen Situationen für sich Kapital zu schlagen:
Der erste Trick besteht darin, dass er, der Teufel, der Diabolos, der Durcheinanderwerfer, uns den Blick verschwimmen lässt, in welchem Kampf wir uns als Christen eigentlich befinden. Wenn wir solch Böses erfahren, dann geraten wir als Christen leicht in die Gefahr zu meinen, die Auseinandersetzung mit dem Gegner, der uns dies Böse angetan hat, sei die eigentliche Aufgabe, vor die wir nun in unserem Leben gestellt seien: Gegen den müssen wir uns doch wehren, den müssen wir doch besiegen und zur Strecke bringen, der uns solch böse Dinge erfahren lässt! Doch halt: Der Gegner, mit dem wir als Christen zuerst und vor allem zu kämpfen haben, ist doch der Teufel, der, der uns von Christus wegziehen will – und nicht der Mensch, der uns etwas Böses angetan hat! Bevor wir uns also daran machen, uns gegen einen Menschen zur Wehr zu setzen, der uns Böses hat widerfahren lassen, sollten wir uns zunächst und vor allem fragen: Hilft mir das, was ich jetzt tue, bei Christus zu bleiben, oder schadet es meiner Beziehung zu Christus eher? Will ich bewusst Christus mit dabei haben, wenn ich mich jetzt daran mache, auf das Böse zu reagieren, was mir angetan worden ist, oder möchte ich den jetzt mal lieber draußen vorlassen, damit ich mich dann doch etwas robuster zur Wehr setzen kann? Ach, Schwestern und Brüder, wie oft gelingt es dem Teufel, uns so sehr in die Auseinandersetzung mit einem Menschen zu verwickeln, der uns etwas Böses angetan hat, dass uns der eigentliche Kampf, der uns als Christen in unserem Leben aufgetragen ist, ganz und gar aus dem Blick gerät!

Und damit sind wir bei dem zweiten Trick, mit dem uns der Teufel in dem Kampf, in den wir in unserem Leben gestellt sind, umzulegen versucht: Er weiß genau: Wenn wir auf Böses, das uns angetan wird, selber böse reagieren, dann mag es sein, dass wir zwar den Kampf mit dem Menschen, der uns dieses Böse zugefügt hat, nach menschlichem Ermessen für uns entscheiden, ihm eine reinwürgen, ihn die gerechte Strafe zuteil werden lassen. Doch wenn wir diesen Erfolg dadurch erreichen, dass wir selber die Waffen der Gegenseite gebrauchen, dass wir selber böse werden, um den Bösen zu besiegen, dann verlieren wir zugleich in dem entscheidenden Kampf, in den wir als Christen seit unserer Taufe gestellt sind. Wenn es dem Bösen gelingt, uns böse zu machen, dann hat er gewonnen. Und genau das gelingt ihm in der Tat immer wieder ganz wunderbar. Denn er hat eben auch nach unserer Taufe immer noch wunderbare Anknüpfungspunkte in unserem menschlichen Herzen, die er nur ein wenig kitzeln muss – und schon springen wir voll darauf an: Wut, Rachegelüste, gekränkte Eitelkeit, Kleben an Geld und Besitz: Es ist schon erstaunlich, wie schnell all dies bei uns zum Vorschein kommt, wenn wir denn nur mit Bösem konfrontiert werden. Von dem neuen Menschen, den Christus in der Taufe geschaffen hat und der uns und unser Leben doch bestimmen soll, ist dann oftmals sehr schnell nichts mehr zu bemerken. Ja, der Trick, dass wir im Kampf mit dem Bösen selber zu den Waffen des Bösen greifen und damit, ohne es uns bewusst machen, in Wirklichkeit die Seiten wechseln, gelingt dem Widersacher Gottes, dem Bösen in Person, immer und immer wieder in unserem Leben. Ja, er gelingt ihm mitunter sogar so gut, dass wir uns am Ende noch nicht einmal dafür schämen, sondern auch noch stolz auf den vermeintlichen Erfolg in unserem Leben sind, der in Gottes Augen doch in Wirklichkeit eine verheerende Niederlage ist.

Ja, hoffnungslos verloren scheinen wir in dem Kampf mit dem Bösen, scheinen keine Chance zu haben gegen die Tricks, mit denen er, der Böse, uns auch nach unserer Taufe aufs Kreuz zu legen vermag. Nein, ganz sicher kommen wir gegen den Bösen nicht dadurch an, dass wir uns bemühen, nun doch selber gut zu sein. Doch dass uns die Worte der Jahreslosung als getauften Christen gelten, bedeutet zugleich ja doch auch, dass wir in dem Kampf mit dem Bösen eben nicht allein dastehen, dass wir ihn, Christus, in diesem Kampf mit dabei haben an unserer Seite. Und gerade da, wo der Böse mit seinen Tricks über uns zu triumphieren scheint, holt Christus seine entscheidende Waffe heraus, gegen die er, der Böse, eben nicht ankommt: Und diese entscheidende Waffe ist seine Vergebung. Ja, wir können die Worte der Jahreslosung für dieses Jahr überhaupt nur recht verstehen, wenn wir bedenken, dass sie gleichsam das Lebensmotto unseres Herrn Jesus Christus ist, die Zusammenfassung seiner Mission zu uns Menschen: Scheinbar war es dem Bösen ja gelungen, ihn, Christus, zu besiegen, ihn am Kreuz jämmerlich sterben zu lassen. Doch er, Christus, machte aus dem scheinbar größten Triumph des Bösen in Wirklichkeit dessen bitterste Niederlage: Indem er sich nicht wehrte, sondern Gottes Auftrag gehorsam blieb bis in die letzte Tiefe hinein, nahm er damit alle Schuld von uns Menschen, alles Versagen, alle Niederlagen im Kampf gegen den Teufel auf sich und erwirkte durch seinen Tod die Vergebung all dieser Schuld.

Und genau so überwindet Christus immer und immer wieder in unserem Leben nun das Böse mit dem Guten: Unserem Versagen setzt er sein Wort der Vergebung entgegen, und dieses gute Wort der Vergebung erweist sich immer wieder neu als stärker als alles Böse, hindert den Bösen daran, uns von ihm, Christus, zu trennen. Überwinde das Böse mit Gutem – das ist also zunächst und vor allem eine Einladung an dich, zur Beichte zu kommen, jawohl, ganz regelmäßig in diesem Jahr 2011, das vor dir liegt. Ohne Gottes Vergebung wirst du nämlich in dem entscheidenden Kampf deines Lebens nie und nimmer bestehen können.

Und dann mag es, ja dann wird es in der Tat auch geschehen in deinem Leben, dass diese Vergebung, aus der du lebst und leben darfst, dass diese Vergebung nicht ohne Wirkung bleibt auch in deinem Umgang mit anderen Menschen. Wenn du es immer wieder erfährst, dass Christus dir stets aufs neue deine Schuld vergibt, obwohl du ihn doch mit deinem Leben, mit deinem Verhalten Tag für Tag enttäuschst und ihm weh tust, wenn du es immer wieder erfährst, wie Christus trotzdem auch im Verhältnis zu dir das Böse mit Gutem überwindet, dann mag es sehr wohl geschehen, dass dich das zu prägen beginnt, dass du anfängst, so dann auch mit anderen Menschen umzugehen, die dir Böses antun.
Nein, ich verspreche dir nicht, dass du sie auf diese Weise mit einer Art von Verblüffungseffekt aufs Kreuz zu legen vermagst. Gewiss: Unterschätzen wir das nicht: Viel Böses können wir schlicht und einfach dadurch vermeiden, dass wir es ins Leere laufen lassen. Wenn mich ein anderer anblafft und ich ihm mit einem freundlichen Wort antworte, dann kann ich mitunter die Strategie des Bösen damit ganz schön durcheinanderbringen. Wenn ich auf Sticheleien mit Fröhlichkeit reagiere, dann ist das gewiss eine sehr viel vernünftigere Taktik, als wenn ich deswegen, wie von der anderen Seite erwünscht, unter die Decke gehe. Doch es mag auch sehr wohl sein, dass unsere Bereitschaft, dem anderen mit Liebe und Vergebung zu begegnen, von der anderen Seite als Schwäche missverstanden und entsprechend ausgenutzt wird. Aber die entscheidende Frage ist und bleibt doch die, welchen Kampf wir denn nun gewinnen wollen: den Kampf mit dem Menschen, der uns etwas Böses antut, oder den Kampf mit dem Widersacher Gottes, der uns böse machen und von Gott wegziehen will. Wenn der es nicht schafft, uns zu erbittern, dann hat er verloren, selbst wenn wir nach menschlichem Urteil in einer Auseinandersetzung den Kürzeren ziehen.

Schwestern und Brüder: um Christus geht es zunächst und vor allem in der Jahreslosung, um das, was er getan hat und tut, damit unser Heil und unsere Rettung nicht von unseren Kampfkünsten und Kampferfolgen, nicht von unserer Kraft und unserer Güte abhängig ist. Doch wenn wir wissen, dass Christus in uns immer wieder das Böse mit seiner Güte, mit seiner Vergebung überwindet, wird die Jahreslosung für uns dann auch zu einer Lebensaufgabe – immer wieder neu zu bedenken, wer denn nun der entscheidende Gegner unseres Lebens ist und welcher Sieg für unser Leben denn der eigentlich wichtige ist. Ja, zu einer Lebensaufgabe wird es dann für uns, die Tricks des Teufels immer klarer wahrzunehmen und nicht immer wieder gleich auf sie hereinzufallen. Nein, das wird uns nie so vollkommen gelingen, dass wir auf Gottes Vergebung nicht mehr angewiesen sein werden. Doch die Worte der Jahreslosung brauchen in unserem Leben auch nicht vergeblich zu verhallen; ja, sie haben die Kraft, unseren Blick auf das wirklich Wichtige im Leben zu schärfen.

Dem Kampf, in den wir seit unserer Taufe gestellt sind, werden wir bis an unser Lebensende nicht entkommen, und der wird auch bei jedem Menschen konkret wieder ein wenig anders aussehen. Und dies gilt, um noch einmal auf sie zurückzukommen, beispielsweise auch für die Soldaten in Afghanistan. Die Jahreslosung spricht nicht davon, dass ein Staat zum Schutz der Schwachen vor der Gewalt des Bösen nicht auch selber Gewalt anwenden dürfte. Aber für den einzelnen Soldaten, wenn er denn Christ ist, heißt das in der Tat, dass er sich in seinem Handeln und Verhalten eben nicht vom Bedürfnis nach Rache und Vergeltung antreiben lassen darf, auch und gerade, wenn er Böses erfahren hat, wenn er erfahren hat, was vielleicht seinen eigenen Kameraden geschehen ist. Dann nicht auch selber böse zu werden, das ist, so stelle ich es mir vor, für die Betroffenen unglaublich schwer – und gerade auch dafür brauchen die Soldaten unsere Fürbitte, dass sie aus dem Bösen, das sie erleben, nicht selber böse zurückkehren, sondern immer wieder neu von der Kraft der Vergebung Christi leben. Helfen wir dazu einander auch in der Gemeinde, ja machen wir uns gerade so dann auch Mut, miteinander hier in der Gemeinde bei Christus zu bleiben, als Menschen, die es auch im Umgang miteinander in der Gemeinde einüben, was Paulus hier sagt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ Amen.