24.07.2011 | St. Johannes 1,35-42 | 5. Sonntag nach Trinitatis

Berlin bekommt einen neuen römisch-katholischen Erzbischof. Kaum war die Meldung über die Nachrichtenticker gelaufen, da hörte man schon, wie nicht anders zu erwarten, das erste Wehklagen derer, die es sich wohl am liebsten gewünscht hätten, dass der Papst Frau Käßmann zur neuen Berliner Erzbischöfin ernannt hätte: Konservativ soll der neue Erzbischof angeblich sein, ja, er soll angeblich sogar linientreu sein, soll allen Ernstes noch die Lehre der römisch-katholischen Kirche vertreten. Der passt doch gar nicht zu einer weltoffenen Stadt wie Berlin, in der sich die Kirche doch an das gesellschaftliche Umfeld anpassen muss, wenn sie denn Zukunft haben will, wenn sie denn nicht im Ghetto enden will. So und so ähnlich konnte man es in den Tagen nach der Ernennung des Erzbischofs immer wieder hören und nachlesen.

Nun ist der neue Erzbischof Woelki nicht unser Bischof, und er ist mir auch noch nicht näher bekannt. Doch eines hat mir spontan an ihm gefallen: Der Wahlspruch, den er sich damals bei seiner Bischofsweihe gleichsam als Motto für seinen Dienst als Bischof ausgesucht hatte: Nos sumus testes – wir sind Zeugen. Jawohl, das ist unsere Aufgabe als Christen und als Kirche insgesamt: Zeugen zu sein. Zeugen haben nicht den Auftrag, sich in dem, was sie sagen, der Erwartungshaltung derer anzupassen, denen sie das Bezeugte berichten. Sondern ihr Auftrag ist nur, von dem zu erzählen, was sie selber vernommen haben, ganz gleich, ob dies den Zuhörern passt oder nicht. Im Gegenteil: Wenn sie den Zuhörern das erzählen würden, was sie gerne hören möchten, dann würden sie ihrer Aufgabe als Zeugen eben gerade nicht gerecht werden, dann könnte man ihre Aussage auch vergessen.

Nos sumus testes – wir sind Zeugen. Genau darum, Schwestern und Brüder, geht es auch in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Eindrücklich schildert uns der Evangelist St. Johannes darin nicht bloß, was sich damals am Jordan ganz zu Beginn der Wirksamkeit Jesu ereignet hat. Sondern er schildert uns in dieser Geschichte zugleich auch, wie Kirche eigentlich funktioniert, wie das geschieht, dass Menschen zum Glauben an Christus finden. Eine Art von Skizze zeichnet uns St. Johannes hier vor Augen – eine Skizze, die es uns ermöglicht, auch uns selber in dieser Geschichte, die uns hier erzählt wird, wiederzufinden. Ja, auch wir gehören zur Kirche,
- weil Menschen uns zu Jesus geführt haben
- weil wir dort hingekommen sind, wo Jesus wohnt
- weil Jesus selber uns gesehen hat

I.
Kein Mensch kommt von sich aus auf die Idee, an Christus zu glauben. So haben wir es schon mit dem Kleinen Katechismus Martin Luthers gelernt, und so wird es uns auch hier in unserer Predigtlesung vor Augen gestellt: Auf die Idee, dass es so etwas wie einen Gott geben könnte, mag ein Mensch vielleicht noch aufgrund von eigenem Nachdenken kommen. Doch auf die Idee, an Christus zu glauben, kommen wir selber ganz gewiss nicht. Da muss schon einer kommen und mit dem Finger auf ihn zeigen, muss uns von ihm erzählen, warum er auch für unser Leben wichtig ist.

So war es damals auch: Da geht Jesus damals am Jordan an Johannes dem Täufer vorbei. Niemand von den Jüngern Johannes des Täufers wäre von sich aus darauf gekommen, dass dieser Jesus jemand Besonderes sein könnte: Er trug keinen Heiligenschein, er war auch ansonsten durch kein Requisit als jemand zu erkennen, an den man glauben sollte, weil in ihm Gott selber bei uns Menschen gegenwärtig ist. Doch Johannes stößt seine Jünger nun gleichsam mit der Nase auf ihn, Jesus: Siehe, das ist Gottes Lamm – das ist er, der die Sünde der ganzen Welt trägt,  der damit auch meine und deine Sünde wegnimmt, die uns von Gott trennt. Wie viel die Jünger des Johannes von dieser Aussage des Täufers verstanden haben, wissen wir nicht. Aber so viel bekommen sie jedenfalls mit, dass dieser Jesus offenbar noch wichtiger ist als Johannes und dass es sich lohnt, ihm zu folgen. Und so machen sie sich auf den Weg hinter Jesus her, weil Johannes sie zu ihm geschickt hat.

Später wiederholt sich diese Geschichte noch einmal in ähnlicher Weise: Da kommt der Andreas zu Simon, seinem Bruder, und erzählt ihm auch etwas über Jesus, was er, Simon, bisher noch nicht wusste und worauf er von sich aus ebenfalls nie gekommen wäre: Wir haben den Messias gefunden, den, auf den wir in unserem Volk schon so lange gewartet haben, ihn, den lang ersehnten Retter. Und als Simon daraufhin nicht gleich aufspringt, hilft Andreas noch ein wenig nach und führt seinen Bruder zu ihm, Jesus.

Nos sumus testes – wir sind Zeugen: Jawohl, genauso funktioniert Kirche bis heute. Wir sind eben nicht die ersten, die an Jesus Christus glauben, sondern da hat es schon vor uns Menschen gegeben, die ihn als ihren Herrn und Heiland erkannt haben und die uns auf ihn gewiesen und uns zu ihm geführt haben wie Johannes und Andreas damals auch. Und da könnte nun jeder von euch aus seiner eigenen Lebensgeschichte solche Menschen benennen, die für euch solch ein Johannes oder solch ein Andreas gewesen sind: Bei einigen von euch sind es die Eltern gewesen, die euch auf ihn, Christus, hingewiesen haben, die es euch vielleicht auch selber vorgelebt haben, wie wichtig es ist, zu ihm, Christus, zu gehören. Bei einigen von euch waren es vielleicht die Großeltern, die diese Johannes- und Andreas-Aufgabe übernommen haben. Bei einigen von euch war es vielleicht ein Freund, der euch zu Christus geführt hat, vielleicht auch hier und da ein Pastor. Doch gerade in unserer Gemeinde können wir das ja sehr deutlich wahrnehmen, dass der Glaube nun wirklich nicht an einem bestimmten Pastor hängt: Dass unsere Gemeinde in den vergangenen beiden Jahrzehnten so stark gewachsen ist, dass so viele Menschen in unserer Mitte den Weg zu Christus gefunden haben, ist auch bei uns durch genau solch eine Stafette geschehen, wie sie uns der Evangelist hier schildert: Menschen werden zu Christus geführt, entdecken in ihm das wahre Leben und erzählen dann anderen, die ihnen nahestehen, auch davon. Wie oft habe ich das erlebt, dass Menschen von anderen Gemeindegliedern hierher mitgebracht worden sind; wie oft habe ich das erlebt, dass Menschen hierhergekommen sind, weil andere sie auf das aufmerksam gemacht haben, was in unserer Mitte geschieht! Ja, dankbar dürfen wir sein, dass es in unserem Leben Andreasse und Johannesse gegeben hat, die uns geholfen haben, den Weg zu Christus zu gehen, den wir allein niemals gegangen wären. Andreas und Johannes zu sein, Menschen auf Christus aufmerksam zu machen und sie zu ihm einzuladen, das ist auch unser Auftrag als Christen. Wenn der Attentäter von Oslo und Utøya nun von sich behauptet, er sei christlich, dann können wir ihm nur entgegenhalten: Nein, das ist nicht christlich, Menschen zu ermorden und mit einer Waffe Angst und Schrecken zu verbreiten. Und ebenso wenig kann man gleichzeitig Christ und Nationalist sein, weil Christus, das Lamm Gottes, unterschiedslos die Sünden der ganzen Welt, die Sünden aller Menschen trägt, weil unser Andreas- und Johannesdienst eben ohne Ausnahme allen Menschen gilt, ganz gleich, woher sie stammen, weil die Kirche Jesu Christi notwendigerweise multiethnisch ist und unterschiedslos Menschen aus den verschiedensten Völkern in sich vereinigt, wie wir es ja auch in unserer Gemeinde erleben dürfen. Christen sind wir zunächst und vor allem; ob wir daneben auch noch Deutsche, Russen, Iraner, Amerikaner oder Norweger sind, ist für uns als Christen nicht sonderlich von Bedeutung und soll es auch nicht sein. Wir laden nicht zu einem nationalen Kulturgut ein, sondern zu Christus. Und wir laden ein allein mit unserem Wort, nicht etwa mit einer Waffe. Und da brauche ich euch nun an dieser Stelle auch gar nicht dazu aufzufordern, in diesem Sinne für andere Menschen auch zum Andreas oder Johannes zu werden: Wer einmal entdeckt hat, wer dieser Jesus ist, dass er unendlich mehr ist als bloß ein weiser Lehrer oder Prophet, der kann seinen Mund gar nicht halten, der muss anderen davon erzählen, was ihm selber wichtig geworden ist.

II.
Und dann gehen also die beiden Jünger des Johannes hinter Jesus her; der dreht sich um und fragt sie, was sie suchen. Und da stellen die beiden Jünger nun eine ganz entscheidende, ja die entscheidende Frage: Wo wohnst du, wo ist deine Herberge, wo bist du zu finden, wo können wir mit dir zusammen sein, mit dir leben? Und Jesus antwortet ganz einfach: Kommt und seht! Er lädt sie ein, zu ihm zu kommen und bei ihm zu wohnen, zunächst einmal einen Tag lang. Und das reicht. Die beiden Jünger kommen und sehen und bleiben. Nichts schildert der Evangelist hier davon, was die beiden Jünger an diesem Tag möglicherweise alles mit Jesus besprochen haben, nichts davon, was Jesus zu ihnen gesagt hat. Sie waren einfach da bei ihm – und das verändert ihr ganzes Leben. Nur ganz vorsichtig deutet der Evangelist dies an, indem er die Stunde benennt, in der den beiden Jüngern offenbar die Augen aufgingen: Vier Uhr nachmittags war es, als geschah, was die beiden dazu veranlasste, fortan Menschen zu Jesus einzuladen und ihnen zu erzählen: Wir haben den Messias gefunden!

Ja, genau so ist es auch bei uns gewesen, genau so funktioniert Kirche: Es geht in der Kirche nicht zuerst und vor allem darum, dass wir andere Menschen so lange mit guten Argumenten für den christlichen Glauben platt machen, bis die gar nicht mehr anders können, als auch selber an Jesus zu glauben. So klappt das in aller Regel nicht, erst recht nicht, wenn uns solche Ereignisse wie nun in Norwegen gerade auch als Christen erst einmal ein Stück weit die Sprache verschlagen. Sondern wir können als Kirche, als Christen, die zur Kirche gehören, immer wieder nur einladen: Kommt und seht! Kommt dorthin, wo Christus ist, wo er selber gegenwärtig ist! Kommt und seht, dass dort, wo Christus ist, eben nicht die Angst und der Tod herrschen, sondern stattdessen Leben und Freude. Ja, kommt und seht! Und dann geschieht es immer wieder, dass Menschen in der Tat kommen und sehen und bleiben. Ja, so ist es auch bei uns gewesen, dass wir gekommen sind, gesehen haben und geblieben sind.

Nein, es geht im christlichen Glauben nicht zuerst darum, dass wir ganz viel reden und erklären können. Das können wir natürlich auch, aber das ist nicht das Entscheidende: Das Entscheidende ist, dass Menschen in die Gegenwart Christi treten und da bleiben, wo er zu Hause ist, dass Menschen erfahren, dass Gott eben nicht unendlich weit weg von uns ist, sondern dass das Wort Fleisch geworden ist und unter uns, in unserer Mitte wohnt, dass Gott sich finden lässt, ganz konkret in den Gestalten von Brot und Wein im Heiligen Mahl. Da ist er anzutreffen, und wenn wir ihm dort begegnen, dann bedarf es oft gar nicht vieler Worte. Hauptsache, wir sind da, wo er ist.

Schwestern und Brüder, ich weiß: Es gibt auch in unserer Gemeinde etliche Gemeindeglieder, die können vielleicht nicht sehr gut mit Worten das ausdrücken, was sie glauben. Aber sie lassen sich immer wieder von Christus einladen: Kommt und seht! Sie kommen dorthin, wo er ist, begegnen ihm, bleiben bei ihm und singen dann am Ende immer wieder: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen!“ Das allein ist wichtig, das allein zählt, dass Menschen dorthin kommen, wo die Herberge Christi ist. Wir Menschen können uns noch so viele kluge Gedanken über Gott und Jesus machen – wenn wir nicht kommen und sehen und bleiben dort, wo er zu finden ist, dann haben wir das Entscheidende verpasst und verpennt. „Wo ist deine Herberge? Wo wohnst du?“ – Das ist sie, die wichtigste Frage, die wir an Jesus richten können. Und Christus gibt uns die Antwort, textet uns nicht zu, sondern reicht uns seinen Leib und sein Blut, er, das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt. Darum geht es im christlichen Glauben, darum geht es in der Kirche.

III.
Aber nun macht uns der Evangelist St. Johannes hier noch ein Drittes deutlich, was ganz entscheidend ist, damit wir verstehen, wie Kirche funktioniert, ja warum wir zur Kirche gehören:
Er schildert uns hier jeweils, dass Jesus die Menschen ansieht, die sodann in seine Gemeinschaft aufgenommen werden. Das ist nicht nur eine nebensächliche Beschreibung, sondern darin zeigt uns der Evangelist etwas ganz Wichtiges:
Wir mögen uns noch so viel Mühe geben, Menschen auf Christus hinzuweisen und sie zu ihm einzuladen: Letztlich ist es immer wieder Christus selber, er allein, der Menschen zum Glauben an ihn führt und sie in seiner Gemeinschaft hält. Dass du heute Morgen hier in der Kirche sitzt, liegt letztlich ganz und gar daran, dass Christus, dein Herr, auch dich angeschaut hat, dass er dich in deiner Taufe bei deinem Namen gerufen hat wie den Simon Petrus damals auch. Dass du heute Morgen hier in der Kirche sitzt, liegt daran, dass Christus dich schon längst gekannt hat, bevor du ihn gekannt hast, dass auch du für ihn so wichtig bist, dass er auch für dich sein Leben in den Tod gegeben hat. Immer wieder blickt dich Christus an, voller Liebe, möchte nichts lieber, als dich immer wieder neu in seine Arme zu schließen, hier an seinem Altar, hier, wo er zu Hause ist.

Genau so baut Christus sich seine Kirche, gebraucht gewiss Menschen als seine Werkzeuge und behält das Heft des Handelns doch stets in der Hand. Er schenkt uns den Glauben, und er hilft uns, bei ihm zu bleiben dort, wo seine Herberge ist. Genau davon und damit von ihm, dem Herrn, können und sollen wir als Christen, als Kirche reden. Denn wir sind seine Zeugen. Amen.