28.08.2011 | 2. Könige 25,8-12 | 10. Sonntag nach Trinitatis

„Sie trieben uns raus wie obdachlose Hunde. Man hat uns Russlanddeutschen alles geraubt – die Häuser, das Land, das Vieh, das Geld, die Heimat, die Rechte“ – So hat eine Überlebende die Folgen jenes Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 beschrieben, das die Deportation der gesamten deutschen Bevölkerung aus der Wolgarepublik anordnete. Vorausgegangen war der Angriff Adolf Hitlers auf die Sowjetunion; von da an galten die Deutschen, die in großer Zahl in der Wolgarepublik und in anderen Teilen der Sowjetunion lebten, als „Diversanten und Spione“, als Feinde des Sowjetvolkes, wie es in dem Erlass heißt. Auch einige derer, die heute hier bei uns im Gottesdienst sitzen, können noch aus eigener Erfahrung davon berichten, wie dieser Erlass umgesetzt wurde, wie sie innerhalb von kurzer Zeit ihre Häuser verlassen mussten und in Viehwaggons Richtung Sibirien abtransportiert wurden, wo sie schließlich im sibirischen Winter ankamen, wenn sie denn den Transport selber überhaupt überlebt hatten. Ja, so manche von euch könnten etwas davon erzählen, wie ihre Familien auseinandergerissen wurden, wie die Kinder sich mitunter jahrelang ohne ihre Eltern durchs Leben schlagen mussten, könnten etwas erzählen von der furchtbaren Arbeit in der Trud-Armee, von Schikanen und entsetzlichem Leid, das sie durchstehen mussten. So manche von euch könnten etwas erzählen von den Jahren der Kommendatur nach dem Krieg, in denen sie, weiterhin fern von der Heimat, das Dorf, in dem sie lebten, nicht verlassen durften, angefeindet als Faschisten, auch wenn sie mit Hitler persönlich in ihrem Leben nie etwas zu tun gehabt hatten. Gewiss, auch schon vor 1941 hatten viele Bewohner der Wolgarepublik bereits Schweres durchmachen müssen, hatten erleben müssen, wie ihre Kirchen geschlossen und die Glocken aus den Kirchtürmen geholt wurden, hatten entsetzliche Hungersnöte durchmachen müssen, hatten miterleben müssen, wie Familienangehörige eines Tages vom Geheimdienst abgeholt wurden und nie mehr zurückkamen. Doch dieser 28. August 1941 hat sich als Datum noch einmal in besonderer Weise in das kollektive Gedächtnis vieler Russlanddeutscher eingeprägt.

Und ausgerechnet an diesem heutigen Gedenktag, 70 Jahre nach jenem folgenschweren Stalin-Erlass, hören wir heute in der alttestamentlichen Lesung dieses 10. Sonntags nach Trinitatis nun ebenfalls den Bericht von einer Deportation, von der Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat, hören einen Bericht davon, wie Menschen alles, was sie hatten, verlieren und verschleppt werden in ein fremdes Land.
Doch dieser Bericht steht nicht bloß in einem Lehrbuch für vorderorientalische Geschichte, sondern dieser Bericht steht in der Bibel, in der Heiligen Schrift; denn es sind nicht irgendwelche Menschen, deren Deportation da berichtet wird, sondern es ist das Volk Gottes, Israel, Gottes Augapfel, das miterleben muss, wie seine Hauptstadt, ja die Stadt Gottes mit dem Tempel, völlig zerstört wird, das miterleben muss, wie es aus dem Land verschleppt wird, das Gott doch einst den Vätern als ihr Land versprochen und auch gegeben hatte. Den Israelsonntag feiern wir heute, denken dabei an die besondere Erwählung dieses einen Volkes Israel und an sein Geschick, lassen uns durch dieses Geschick auch selber zur Buße rufen, wir, die wir durch die Taufe selber auch zu Gottes Volk gehören.

Können wir also von der Schilderung der Deportation des jüdischen Volkes im Jahr 587 vor Christi Geburt nach Babylon nun gleich zur Deportation der Wolgadeutschen im Jahr 1941 nach Christi Geburt springen? Nein und Ja.

Wir können diesen Sprung nicht mit einer Haltung vollziehen, als ob uns das Geschick des jüdischen Volkes heute gar nichts mehr anginge, als ob Gott seine Versprechungen gegenüber Israel zurückgenommen hätte. Nein, Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen, so haben wir es eben in der Epistel gehört. Und so ist das, was wir eben in der alttestamentlichen Lesung gehört haben, Teil auch unserer Geschichte, die wir in dieses Gottes Volk nun mit eingepfropft worden sind wie ein Zweig in einen Ölbaum, so formuliert es Paulus selber in Römer 11. Und von daher kann und soll uns das eben nicht unberührt lassen, was uns hier am Ende des 2. Königebuches geschildert wird, betrifft uns das, was dem jüdischen Volk angetan wird, auch als Christen immer wieder ganz direkt. Und wir können von daher den Sprung von der Schilderung der Deportation des jüdischen Volkes zur Deportation der Wolgadeutschen auch nicht so vollziehen, dass wir damit Verbrechen, die am Volk Israel begangen worden sind, irgendwie zu verharmlosen versuchen, sie aufzurechnen versuchen gegen Verbrechen, die anderen Völkern widerfahren sind. Leid und Verbrechen lassen sich niemals durch Vergleiche mit anderem Leid und anderen Verbrechen relativieren.

Doch wenn wir uns das klarmachen, dann kann uns der Bericht aus dem 2. Königebuch doch zugleich auch eine wichtige Hilfe sein im Rückblick auf die entsetzlichen Geschehnisse damals vor 70 Jahren:
Es fällt zunächst einmal auf, wie nüchtern der Verfasser hier die furchtbaren Ereignisse rund um die Zerstörung Jerusalems und die damit verbundene Deportation der Bevölkerung schildert: Er beschreibt einfach, was geschieht; kein Wort der Klage oder des Vorwurfs gegenüber den Babyloniern, erst recht kein Wort der Klage oder des Vorwurfs gegenüber Gott ist hier in diesen Versen zu vernehmen. Sondern diese Worte sind, so macht es der Zusammenhang der Verse deutlich, selber ein Akt der Buße, ein Bekenntnis: Ja, Gott hatte Recht; er hatte alles Recht der Welt dazu, so mit uns zu verfahren. Wir hatten uns von ihm abgewandt, hatten anderen Götter vertraut und nicht ihm allein – und nun nehmen wir auch das Gericht an, das er mit der Zerstörung Jerusalems über uns verhängt hat:  So lautet die Botschaft dieser Verse, die wir eben gehört haben.

Nein, das heißt nicht, dass wir in unserem persönlichen Leben oder auch im Geschick von Völkern Leiden und Schicksalsschläge jeweils als Ergebnisse konkreten Versagens, konkreter menschlicher Schuld deuten können und sollen. Gewiss, wir können historische Linien ziehen und darauf verweisen, dass es ohne die Machtübernahme Hitlers in Deutschland nicht zu dieser Deportation gekommen wäre, dass Deutsche in Russland die Folgen des Versagens von Deutschen in Deutschland zu spüren bekamen. Doch zum Verstehen des eigenen Geschicks vor Gott hilft das auch nicht unbedingt weiter, und unser Gerechtigkeitsempfinden wird dadurch auch nicht unbedingt befriedigt. Und doch kann die Haltung, die in jenen Worten aus dem 2. Königebuch zum Ausdruck kommt, auch für uns heute noch eine wichtige Hilfe sein, ganz gleich, ob wir nun die entsetzliche Zeit ab 1941 selber durchgemacht haben oder nicht: Diejenigen, die damals vor 70 Jahren verschleppt wurden, erfuhren ganz elementar am eigenen Leibe, dass sie nichts Anderes mehr in ihrem Leben hatten, worauf sie hoffen konnten, als allein auf ihn, Gott, allein. Alles Andere, woran das Herz eines Menschen sonst noch hätte hängen können, wurde ihnen genommen, und sie erkannten, was allein letztlich im Leben eines Menschen trägt und zählt: Gott und seine Versprechen, die er uns gegeben hat.

Ja, das ist etwas, was mich in Gesprächen mit älteren Menschen, die die Deportation und ihre Folgen in der Sowjetunion selber noch erlebt haben, immer wieder bewegt hat und bewegt, dass diese Erfahrungen diese Menschen nicht dazu veranlasst haben, sich von Gott abzuwenden, ihm Vorwürfe zu machen für das, was sie durchmachen mussten, für die geraubte Kindheit und Jugend, sondern dass diese Erfahrungen diese Menschen in so vielen Fällen dazu veranlasst haben, ihr Vertrauen umso mehr ganz auf Gott zu setzen. Was für Schwierigkeiten, ja auch was für Risiken haben viele dieser Menschen in jenen Jahren auf sich genommen, wenn sie sich heimlich zusammenfanden, um zu beten, zu singen, in der Heiligen Schrift zu lesen! Was für tiefe geistliche Erfahrungen haben sie damit nun schließlich auch nach Deutschland gebracht, Erfahrungen, die zu hören und zu vernehmen uns gerade auch in unserem so satten, reichen Land sehr gut tut. Die, die damals vor 70 Jahren dabei waren, die können es bezeugen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass uns Glocken am Sonntagmorgen zum Gottesdienst rufen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir es so einfach haben, Gottes Wort zu hören, dass es erst recht nicht selbstverständlich ist, dass es Pastoren gibt, die von Christus den Auftrag und die Vollmacht haben, Sünden zu vergeben und den Leib und das Blut Christi auszuteilen. Das kann sich alles auch ganz schnell ändern, so kann es uns so mancher hier in unserer Mitte bezeugen – und keiner von uns kann behaupten, dass wir Gottes Gericht nicht verdient hätten, dass uns Gott und sein Wort immer so wichtig in unserem Leben gewesen sind, dass nichts Anderes neben oder über ihm gestanden hätte! Ja, Gnadenzeit ist das, was wir jetzt hier in Deutschland erleben, Gnadenzeit, von der keiner weiß, wie lange sie noch dauern wird. Nutzen wir die Zeit, solange es noch Tag ist, lassen wir uns vom Geschick Israels wie vom Geschick unserer Brüder und Schwestern in der Wolgarepublik immer wieder zur Umkehr, zur Hinwendung zu Gott bewegen!

Aufgeschrieben hat jemand damals den Bericht von der Zerstörung Jerusalems – und indem er ihn damals aufgeschrieben hat, hat er damit zugleich eine Hoffnung zum Ausdruck gebracht: Dass sein Volk eben doch eine Zukunft hat, dass es mit diesem Volk trotz der Deportation dennoch weitergehen wird – wie auch immer. 70 Jahre Exil hatte Gott damals durch den Propheten Jeremia den Bewohnern Jerusalems angekündigt und hat diese Zeit später sogar gnädig noch etwas verkürzt. 70 Jahre nach der Deportation von der Wolga haben diejenigen, die diese Zeit überlebt haben, auch eine neue Heimat und damit auch eine neue Zukunft für ihre Nachkommen geschenkt bekommen. Ein unermesslicher Segen sind sie mit ihren Nachkommen für uns hier in unserer Gemeinde in den letzten Jahren geworden; ja, wir haben es in unserer Mitte sehr handgreiflich erfahren dürfen, wie Gott aus dem Bösen, das damals in jenem Dekret Stalins stand, doch Gutes hat erwachsen lassen.

Und doch wissen wir als Christen zugleich: Deutschland ist nicht das Gelobte Land, es ist erst recht nicht das letzte Ziel unserer Wünsche und Hoffnungen als Christen. Dazu muss man noch nicht einmal ins Fernsehen schauen und sich die Nachrichten angucken. Da reicht ein Blick in die Heilige Schrift. Die macht uns deutlich, dass unsere Heimat für uns Christen ohnehin nicht hier auf Erden ist: nicht in Russland, nicht in Kasachstan, nicht in Deutschland, nicht in den USA. Unsere Heimat ist allein bei Christus, unsere Heimat ist dort, wo er sich finden lässt, hier noch verborgen unter den Gestalten von Brot und Wein und dann einmal sichtbar in der ewigen Herrlichkeit. Verdient haben wir es nicht, dass wir in dieser Heimat für immer leben dürfen, so macht es uns die Heilige Schrift, so macht es uns auch unsere heutige Predigtlesung deutlich. Und doch dürfen wir gewiss sein, dass diese Heimat für immer einmal unser sein wird, dass wir aus ihr einmal nie mehr werden vertrieben werden können. Dafür hat er, Christus, sein eigenes Blut am Kreuz vergossen, in jener Stadt Jerusalem, deren Zerstörung wir heute auch als Christen gedenken und die uns bis heute auf das himmlische Jerusalem verweist, wo wir einmal für immer unser Wohnrecht haben werden. Da gehören wir alle miteinander hin, ganz gleich, was wir auch für eine Muttersprache haben mögen. Ach, Schwestern und Brüder, liebe Ältere und liebe Jugendliche: Gott geb’s, dass uns nichts und niemand von dem Weg zu diesem Ziel abbringen möge! Amen.