11.12.2011 | Römer 15,4-13 | 3. Sonntag im Advent

Anderthalb Jahre hat es jüngst in Belgien gedauert, bis sich die Parteien nach den Parlamentswahlen auf eine neue Regierung geeinigt hatten. Nun wurde ein Ministerpräsident gewählt, und es sieht so aus, dass die Regierung ihre Arbeit jetzt aufnehmen kann. Aber wie lange sie Bestand haben wird, weiß keiner; eine wackelige Angelegenheit bleibt das auf jeden Fall. Der Grund dafür, dass man sich mit der Regierungsbildung so schwer getan hatte, ist einfach: Belgien besteht aus zwei unterschiedlichen Landesteilen mit zwei unterschiedlichen Sprachen und zwei ganz unterschiedlichen Volksgruppen. Und die in einem Land zusammenzuhalten, ist ganz schwierig. Wir haben es in Europa in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder erlebt, wie Länder, in denen verschiedene Volksgruppen zusammengefasst waren, zerfielen, weil das Interesse an der eigenen Nation, der eigenen Herkunft und Prägung wichtiger war als das Interesse an einem gemeinschaftlichen Zusammenleben: Tschechen und Slowaken, Serben und Kroaten, griechische Zyprioten und türkische Zyprioten, sie wollten lieber für sich sein, als mit den anderen zusammenzubleiben.

Wie Herkunft und Prägung das Zusammenleben in einer Gemeinschaft ganz schwierig machen können, davon konnte auch die erste christliche Gemeinde in Rom bereits so einiges berichten: Da gab es in ihrer Mitte Menschen, die aus dem Judentum stammten, die geprägt waren von den Vorschriften der alttestamentlichen Gesetze, die ihr ganzes Leben bestimmt hatten, Gesetze, die zum Beispiel festlegten, welche Speisen man essen durfte und welche nicht, Gesetze, in denen es zum Beispiel auch um die besondere Beachtung des Sabbat ging. Und da gab es auf der anderen Seite in der Gemeinde Menschen, die aus dem Heidentum stammten, die in ihrem Leben solche Gesetze nie kennengelernt hatten, denen der Gedanke ganz fremd war, dass man bestimmte Speisen nicht essen dürfte oder dass man etwa an einem Samstag nicht arbeiten dürfte. Und nun lebten diese so unterschiedlichen Menschen als Christen in ein und derselben Gemeinde zusammen. Und da gab es dann immer wieder auch Ärger und Konflikte in diesem Zusammenleben miteinander: Wenn die einen beim gemeinsamen Mittagessen einen leckeren Braten auf den Tisch packten, dann aßen die anderen davon nicht, weil es ja sein könnte, dass das Tier, das man nun in Bratenform zu sich nahm, ursprünglich mal als Opfer in einem heidnischen Tempel dargebracht worden sein könnte. Nein, da blieben sie lieber Vegetarier, als Fleisch zu sich zu nehmen, das nicht dem biblischen Gesetz entsprach. Und so knirschte es an allen Ecken und Enden: Die einen warfen den anderen vor, die Aussagen der Bibel nicht ernst genug zu nehmen, während die anderen den einen vorwarfen, sie hätten wohl noch nicht kapiert, was es heißt, dass Christus das Ende des Gesetzes ist, dass wir durch seinen Tod an all diese Speisegebote und Sabbatgebote nicht mehr gebunden sind. Jeder unterstellte dem anderen, dass der andere eigentlich kein ganz richtiger Christ sei, weil der sein Leben als Christ ja anders führte als man selber. Und darauf geht der Apostel Paulus nun am Schluss seines Briefes an die Gemeinde in Rom ein. Aus dem, was er vorher geschrieben hat, geht klar hervor, dass Christus in der Tat das Ende des Gesetzes ist, dass wir uns in der Tat um die Einhaltung von Speise- und Sabbatvorschriften keine Gedanken machen müssen. Und dennoch ergreift Paulus hier nicht Partei, möchte nicht, dass diejenigen, die sich weiter an die Vorschriften des Alten Testaments gebunden fühlen, sich in ihrem Gewissen verletzt sehen und bedrängt fühlen. In einer christlichen Gemeinde muss es möglich sein, dass Christen mit ganz unterschiedlicher Prägung ihr Christsein auch auf unterschiedliche Weise leben, so macht es der Apostel hier deutlich. Denn es gibt bei aller Unterschiedlichkeit der Lebensstile eben doch so viel, was Christen in einer Gemeinde miteinander verbindet, viel mehr, als was Menschen in einem Staatengebilde jemals zusammenhalten könnte.

Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Prägung leben auch in unserer Gemeinde zusammen – ja, die Zusammensetzung unserer Gemeinde ist in Wirklichkeit so bunt, dass man, menschlich gesprochen, wirklich nur darüber staunen kann, wie ein Zusammenleben solch unterschiedlicher Menschen eigentlich gut gehen kann. Ja, es gibt in unserer Gemeinde tatsächlich auch Einheimische, Deutsche, ja, sogar eine ganze Reihe von gebürtigen Berlinern. Doch auch die unterscheiden sich schon wieder sehr voneinander: Da gibt es, zugegebenermaßen nur einige wenige, Gemeindeglieder, die schon seit dem Tag ihrer Taufe als kleine Babys zur lutherischen Kirche gehört haben, die in anderen Gemeinden unserer Kirche Verwandte haben, die von klein auf die lutherische Kirche, den lutherischen Glauben gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen haben. Da gibt es andere Berliner, die erst in den letzten Jahren zu unserer Gemeinde dazugekommen sind, die hier in unserer Mitte die lutherische Kirche, den lutherischen Gottesdienst, Sakrament und Liturgie entdeckt haben und hier nun auch ihr Zuhause gefunden haben. Manches mag ihnen immer noch neu und ungewohnt sein, vielleicht auch die Dichte der Gemeinschaft, die sie hier bei uns erleben; aber letztlich sind sie mit ihrer Herkunft immer noch ziemlich eng dran an den Ur-SELKies unter uns. Dann sind in den vergangenen zwanzig Jahren viele Menschen, darunter viele Deutsche, zu unserer Gemeinde hinzugekommen, die ursprünglich aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion stammen. Dass sie alle mehr oder weniger gut Russisch sprechen und verstehen können, verbindet sie ebenso wie manch andere kulturelle Prägung. Und doch gibt es auch unter ihnen natürlich wieder deutliche Unterschiede: Da gibt es manche, die ihren christlichen Glauben auch in den schlimmsten Zeiten staatlicher Unterdrückung durchgehalten haben, die sich heimlich zu ihren Versammlungen, zum gemeinsamen Singen und Beten getroffen haben. Eine ganz besondere Frömmigkeit haben sie in dieser Zeit ausgebildet, wundern sich darüber, dass wir hier im Gottesdienst die Lieder alle so schnell singen, wundern sich darüber, dass wir hier in Berlin so viele Lieder nicht kennen, die sie drüben so gerne und mit solcher Inbrunst gesungen haben, wundern sich vielleicht auch darüber, dass auch hier in unserer Gemeinde manches als völlig harmlos angesehen wird, was ihnen früher als unchristlich und sündig galt. Und da gibt es andere, die aus der früheren Sowjetunion zu uns gekommen sind, die dort drüben kaum einen oder gar keinen Kontakt zur christlichen Kirche und zum christlichen Glauben hatten, die all dies erst hier bei uns in unserer Gemeinde kennengelernt haben, die den Bezug zum Glauben nach der langen glaubenslosen Zeit immer noch erst langsam entwickeln, sich damit vielleicht auch wegen der Sprache immer noch schwertun. Und dann gibt es natürlich auch die Jüngeren, die hier nun gleich ganz in die Gemeinde hineinwachsen und von klein auf erfahren, dass christlicher Glaube Freiheit und Freude bedeutet. Und dann haben wir in den vergangenen Jahren erlebt, wie Menschen auch aus vielen anderen Ländern in unsere Gemeinde gekommen sind, Menschen, die noch einmal ihre ganz eigene Prägung und Lebensgeschichte mitgebracht haben: Fest im lutherischen Glauben verwurzelte Amerikaner und Südafrikaner, Chinesen und Mongolen, die den christlichen Glauben ganz neu für sich entdeckten – und nun in den vergangenen beiden Jahren auch eine ganze Reihe von Menschen aus dem Iran, die ursprünglich Muslime waren, die früher auch in einem ganz bestimmten System von Gesetzen gelebt haben und es sich früher wohl auch kaum hätten vorstellen können, gemeinsam mit uns beim Mittagessen zu sitzen und Schweinefleisch zu essen. Mancher unserer neuen Brüder und Schwestern tut sich damit schon ganz leicht, andere tun sich damit noch schwerer; ihre Erfahrungen auf dem Weg zum christlichen Glauben sind jedenfalls noch einmal ganz eigene. Und nun leben wir hier alle miteinander in einer Gemeinde – und es funktioniert offensichtlich, was doch, menschlich gesprochen, eigentlich gar nicht funktionieren kann: Wir nehmen einander an, wie Paulus dies hier in unserer Predigtlesung formuliert, erkennen einander als Brüder und Schwestern, wissen miteinander darum, dass wir unsere Prägung und Herkunft nicht verleugnen, nicht aufgeben müssen, wenn wir hier in dieser Gemeinde zusammenleben. Lutherischer Christ zu sein bedeutet nicht: Deutsch zu sein und preußische Tugenden zu pflegen, auch wenn ich manchmal schmunzelnd beobachte, wie so mancher, der zu unserer Gemeinde hinzugekommen ist, schon stärker deutsch geprägt ist als mancher Einheimische. Ich kann Russe sein und bleiben und dennoch lutherischer Christ sein. Ich kann Iraner sein und bleiben und dennoch lutherischer Christ sein. Ich kann Mongole sein und bleiben und dennoch lutherischer Christ sein. Denn es gibt so viel Anderes, was uns in Wirklichkeit verbindet. Dreierlei nennt Paulus hier:
- das gemeinsame Hören auf die Heilige Schrift
- den gemeinsamen Empfang der Vergebung
- die gemeinsame Hoffnung

I.
Was uns zunächst einmal miteinander verbindet, ist die Heilige Schrift, ist das gemeinsame Hören auf Gottes Wort, so macht es der Apostel Paulus hier in unserer Predigtlesung deutlich. Die Heilige Schrift, sie ist für uns eben nicht bloß ein interessantes historisches Dokument, das wir gut oder weniger gut finden können. Sondern sie beleuchtet umgekehrt unser Leben, lässt uns erkennen, in was für einer Lage wir uns befinden, und da unterscheidet Deutsche, Russen, Iraner und Chinesen eben überhaupt nichts. Alle sind wir auf Gottes Erbarmen angewiesen, alle können wir Gott nur so erkennen, wie er sich selber in diesem seinem Wort zu erkennen gibt. Ja, das hält uns ganz konkret hier in unserer Gemeinde zusammen, dass wir nicht anfangen, Richter zu spielen über die Heilige Schrift, sie zu kritisieren, sondern dass wir uns umgekehrt von ihr kritisieren lassen, uns von ihr dann aber auch trösten und aufbauen lassen. Wir mögen das als so selbstverständlich ansehen, dass wir so mit der Heiligen Schrift umgehen; aber so selbstverständlich ist das in Wirklichkeit leider gar nicht, dass wir in unserer Gemeinde so einmütig auf Gottes Wort hören, dass wir so einmütig auch in der Lehre sind, im gemeinsamen Festhalten am Bekenntnis, ganz gleich, wo wir auch herkommen mögen.

Wichtig ist allerdings eines: Dass wir tatsächlich gemeinsam immer wieder auf Gottes Wort in der Heiligen Schrift hören, natürlich zunächst und vor allem im Gottesdienst, aber eben dann auch, wenn wir darüber hinaus in der Gemeinde zusammenkommen, um die Heilige Schrift zu studieren. Ich freue mich ganz besonders über den Eifer und das Interesse, das unsere Brüder und Schwestern aus dem Iran bei diesem Studium der Heiligen Schrift an den Tag legen, wie sehr sie daran interessiert sind, immer weiter in die Heilige Schrift einzudringen, sie immer besser kennenzulernen. Da können sie vielen von uns ein Vorbild sein, tragen gerade auch auf diese Weise dazu bei, dass wir als Gemeinde zusammenbleiben und zusammenwachsen.

II.
Das Zweite, was uns miteinander verbindet, ist, dass wir gemeinsam davon leben, immer wieder von Christus angenommen zu werden, immer wieder seine Vergebung zu empfangen. Die Einheit unserer Gemeinde gründet nicht darin, dass wir alle so nette Menschen sind – ja, das sind wir auch. Aber unsere Einheit gründet sich darin, dass wir immer wieder gemeinsam hier am Altar knien, dass uns gemeinsam immer wieder von Christus die Hand aufgelegt und die Vergebung zugesprochen wird, dass wir gemeinsam den Leib und das Blut unseres Herrn im Heiligen Mahl empfangen. Da spielt die unterschiedliche Herkunft, da spielen die verschiedenen Sprachen und Prägungen dann keinerlei Rolle. Gemeinsam erfahren wir es, wie beglückend es ist, von Christus angenommen zu sein, gemeinsam bekommen wir dadurch die Kraft geschenkt, auch einander anzunehmen, den anderen, die andere als Bruder und Schwester zu erkennen, die genauso aus der Begegnung mit Christus leben wie wir selber auch. Nehmen wir es darum immer wieder auch ganz bewusst wahr, wer hier mit uns gemeinsam am Altar kniet, nein, nicht nur unmittelbar neben uns, sondern wer bei der Beichte, wer beim Abendmahl überhaupt mit nach vorne kommt. Mit denen sind wir in Christus verbunden, und das wiegt tausendmal schwerer als alle Unterschiede zwischen uns, die damit ihre trennende Kraft verlieren.


III.
Und noch ein Drittes verbindet uns bei allen Unterschieden der Herkunft, der Sprache, der Mentalität: Es ist die gemeinsame Hoffnung, die wir haben. Gemeinsam feiern wir Advent, gemeinsam warten wir auf das Kommen unseres Herrn, gemeinsam freuen wir uns darauf, für immer miteinander in seiner Gemeinschaft leben zu dürfen. Die, mit denen wir zusammen Gottesdienst feiern, werden wir in alle Ewigkeit nie wieder los werden, werden mit ihnen für immer verbunden bleiben in der gemeinsamen Anbetung unseres Herrn. So unterschiedlich die Lebenswege auch sein mögen, auf denen wir zu Christus geführt worden sind: sie münden am Ende eben doch ein in dasselbe Ziel. Und davon dürfen wir schon ein wenig erleben hier im Gottesdienst, wenn wir miteinander singen und Gott loben, wenn wir schon einmal einstimmen in die himmlische Liturgie.

Der Gottesdienst ist es also, der unsere so kunterbunt gemischte Gemeinde zusammenhält, der Gottesdienst, in dem wir Gottes Wort hören, seine Vergebung empfangen und gemeinsam dem wiederkommenden Herrn entgegenblicken. Was menschlich gesprochen doch eigentlich gar nicht funktionieren kann, das funktioniert bei uns eben doch: Weil Christus, um den wir uns versammeln, eben nicht bloß eine Idee ist, sondern der lebendige Herr. Gott geb’s, dass sich das dann auch in unserem Umgang miteinander außerhalb des Gottesdienstes auswirkt, dass keiner über einen anderen die Nase rümpft, dass keiner dem anderen die Anerkennung als Bruder, als Schwester verweigert, sondern so mit den anderen umgeht, wie doch auch Christus mit uns umgeht. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat – zu Gottes Lob! Amen.