02.02.2010 | Hebräer 2, 14-18 (Tag der Darstellung des Herrn)

TAG DER DARSTELLUNG DES HERRN – 2. FEBRUAR 2010 – PREDIGT ÜBER HEBRÄER 2,14-18

Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er's gleichermaßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten. Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.

Heute vor einer Woche haben wir erfahren, dass Berlin im vergangenen Herbst möglicherweise nur knapp einem verheerenden Anschlag entgangen ist. Innensenator Ehrhart Körting gab am letzten Dienstag bekannt, dass es sehr deutliche Hinweise darauf gegeben habe, dass zwischen dem 30. September und dem 14. Oktober hier in Berlin tagsüber ein öffentlichkeitswirksam geplanter Anschlag durch islamistische Terroristen verübt werden sollte. Daraufhin wurden in einer Geheimaktion systematisch bestimmte U-Bahnhöfe überwacht. Ob diese Sicherheitsmaßnahmen tatsächlich einen Anschlag verhindert haben, kann man im Nachhinein natürlich schlecht feststellen.
Schwestern und Brüder, wenn wir solche Meldungen hören, dann mag es uns schon ein wenig kalt den Rücken herunterlaufen: Wir spüren etwas von der Gefährdung unseres Lebens, etwas davon, wie schnell unser Leben, von einer Sekunde auf die andere, zu Ende sein kann. Wir spüren etwas von unserer Ohnmacht und Hilflosigkeit, dass wir dagegen offenkundig so wenig ausrichten können, dass wir Terroranschlägen letztlich genauso ausgeliefert sind wie anderen Unglücken und Schicksalsschlägen. Ja, solche Meldungen können einen schon das Fürchten lehren. Und dabei wissen wir ja grundsätzlich natürlich davon, dass wir alle miteinander sterblich sind, dass wir alle miteinander unserem Tod entgegengehen, dass die Frage nicht ist, ob wir sterben, sondern allein wann wir sterben. Ja, wir mögen diese Frage verdrängen, aber letztlich treibt sie uns in unserem Leben doch immer wieder um: Sie äußert sich in der Furcht, etwas im Leben zu verpassen, zu spät zu kommen, nicht genügend mitzubekommen, zu kurz zu kommen. Nein, diese Furcht treibt ja nicht erst Menschen in der zweiten Lebenshälfte um; diese Furcht packt oft genug schon Jugendliche und junge Erwachsene: Jetzt bin ich schon 18 Jahre alt und habe immer noch keine Freundin – ob ich jetzt noch eine abbekomme? Jetzt bin ich gerade mal 20 Jahre alt, und mir fällt auf, dass bei mir schon die ersten Haare ausfallen, dass die Geheimratsecken nicht mehr zu übersehen sind. Ja, Hilfe, da kann es bei mir doch nur noch abwärts gehen! Also muss ich zusehen, jetzt noch so viel wie möglich mitzubekommen, so viel wie möglich auszuprobieren, bevor es endgültig zu spät ist und ich am Ende als Grufti den Rest meines Lebens verbringe!
Ja, Schwestern und Brüder, wir, die wir heute Abend zumeist schon über 20 Jahre alt sind, mögen über solche Panik schmunzeln; aber sie bringt ein Lebensgefühl zum Ausdruck, das weit verbreitet ist, von dem wir selber uns vielleicht auch nicht ganz frei machen können. Denn diese Furcht, sie gehört zu unserem Menschsein geradezu dazu, so macht es der Verfasser des Hebräerbriefes in der Epistel des heutigen Festtages deutlich: Als Menschen müssen wir durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte, Sklaven sein, so formuliert er es hier. Was für eine tiefe, was für eine hochmoderne Einsicht: Knechte sind wir, Leute, die die ganze Zeit auf der Flucht vor dem Tod sind, davon ihr Verhalten bestimmen lassen und die dem, dem sie zu entfliehen suchen, doch am Ende nicht entkommen können. Denn wir sind, so sagt es der Verfasser des Hebräerbriefes gleich zu Beginn unserer Epistel, wir sind „von Fleisch und Blut“, und das heißt: Wir sind und bleiben sterblich; da läuft nicht etwas schief, wenn unsere Kräfte im Laufe unseres Lebens schwinden, wenn uns im Laufe unseres Lebens mehr und mehr Beschwerden zu schaffen machen. Nein, wir sind vergänglich; die Zeit unserer irdischen Existenz ist und bleibt von vornherein begrenzt; da helfen auch kein Botox und keine Wunderpille, die ewige Jugend verspricht. Wir sind vergänglich – das ist eine Feststellung und das ist zugleich die große, entscheidende Bedrohung, die unser Leben bestimmt, es immer wieder dunkel werden lässt, weil die Vergänglichkeit eben nicht bloß unser eigenes Leben betrifft, sondern auch das Leben anderer Menschen, die wir lieb haben, um die wir uns sorgen, deren Nähe wir keinesfalls missen wollen.
Das ist unser Leben, ein Leben unter der Macht des Todes. Und nun stellt der Verfasser des Hebräerbriefes hier eine spannende Behauptung auf: Es ist ja eine gängige Klischeebehauptung, dass Religion die verzweifelte Reaktion des Menschen auf seine Sterblichkeit sei. Der Mensch sei nicht dazu in der Lage zu akzeptieren, dass er ein vergängliches Lebewesen sei; also projiziere er seine Wünsche, unsterblich zu sein, gleichsam an den Himmel und erfinde eine Religion, die ihm ein Weiterleben nach dem Tode zusichere. Doch der Verfasser des Hebräerbriefes behauptet hier genau das Gegenteil: Die Furcht vor dem Tod macht den Menschen gerade nicht unbedingt religiös, sondern treibt ihn im Gegenteil erst recht unter die Gewalt des Teufels. Furcht vor dem Tod veranlasst den Menschen dazu, zu glauben, er habe keine Zeit, jedenfalls nicht genügend Zeit, um sich allzu sehr mit Gott, mit der Kirche zu beschäftigen, um der Einladung Gottes zum Gottesdienst zu folgen. Furcht vor dem Tod veranlasst den Menschen dazu, sich nur aufs Materielle zu konzentrieren, möglichst viel mitzunehmen von dem, was er bekommen kann. Furcht vor dem Tod veranlasst den Menschen dazu, sich gerade nicht mit seiner Endlichkeit auseinanderzusetzen, sondern das Ende und die eigene Verantwortung vor Gott zu verdrängen. Ja, der Tod, er spielt dem Teufel in die Hände, so drastisch formuliert es der Hebräerbrief hier: Der Teufel ist es, der die Gewalt hat über den Tod, der ihn für seine Interessen ausnutzt.
Nein, der Tod macht die Menschen nicht unbedingt fromm; man schaue sich nur einmal hier in Berlin um, wie die Menschen mit dem Tod umgehen, dann ahnen wir, wie recht der Hebräerbrief mit seiner Behauptung hat. Ja, selbst für uns Christen, die wir uns der Realität des Todes hier im Gottesdienst immer wieder von Neuem stellen, stellt der Tod kein so überzeugendes Argument dar, dass wir nicht mehr in der Gefahr stünden, uns von Christus abzuwenden, ihm gegenüber in unserem Leben gleichgültiger zu werden, seine Einladung zu vernachlässigen. Ja, gerade auch das kennzeichnet unser Leben als Christen, dass es ein Leben ist, das von der Versuchung geprägt ist, von einem inneren Kampf, in dem wir es immer wieder mit Mächten und Kräften zu tun haben, die uns von dem lebendigen Gott wegziehen wollen.
Schonungslos stellt der Verfasser des Hebräerbriefes unsere Lage als Menschen dar, so schonungslos wie kaum irgendwo sonst im ganzen Neuen Testament. Ja, ganz offen spricht er aus, was Sache ist, damit wir anfangen zu begreifen, was eigentlich Grund und Inhalt unseres Glaubens ist:
Gott reagiert auf die trostlose, ja hoffnungslose Lage, in der wir uns als Menschen befinden, so stellt es der Hebräerbrief hier heraus. Nein, Gott reagiert darauf nicht so, dass er uns ein paar Fernsehprogramme schickt, die uns allmählich verblöden lassen, bis wir nicht mehr so genau merken, in welcher Lage wir uns eigentlich befinden. Gott reagiert darauf nicht so, dass er uns ein paar tiefsinnige Anweisungen zukommen lässt, wie wir die paar Jahre hier auf Erden möglichst anständig und nett über die Bühne bekommen. Er bekundet uns auch nicht sein Mitleid und begnügt sich auch nicht damit, ganz nüchtern festzustellen, dass wir uns unsere Lage ja nun mal selber eingebrockt haben – womit er ja durchaus recht hätte. Sondern Gott ergreift die einzig mögliche Maßnahme, die uns wirklich hilft, die uns nicht bloß seelisch oder moralisch aufrüstet, sondern uns befreit aus unserer Sklaverei unter der Macht des Todes und des Teufels: Er lässt seinen Sohn Mensch werden. 
Gottes Sohn wird Mensch – das klingt für uns so harmlos, so selbstverständlich. „Mach’s wie Gott, werde Mensch“, so lautet ein etwas flapsiger Spruch. Doch der Spruch hinkt: Während es für uns ja ein erstrebenswertes Ziel sein mag, wirklich Mensch zu werden, unserer Bestimmung gerecht zu werden, war das für Gott alles andere als erstrebenswert. Mensch zu werden – das heißt eben auch etwas Anderes als bloß kurz mal bei den Menschen vorbeizuschauen, wie manchmal ein Promi im Big Brother-Container von RTL 2 vorbeischaut und spätestens nach ein paar Tagen wieder von dort verschwindet. Nein, Gottes Sohn ist Mensch geworden, hat Fleisch und Blut angenommen, nicht bloß übergangsweise, sondern auf Dauer, und das heißt: Er ist sterblich geworden, nicht bloß theoretisch, sondern ganz praktisch, hat selber den Tod erlitten und damit eigentlich das Ende aller Beziehungen zu Gott. Doch an diesem Tod hat der, der die Gewalt über den Tod hatte, sich die Zähne ausgebissen, ja durch diesen Tod, den er, der Sohn Gottes, erlitten hat, hat der Tod nun auch für die, die zu ihm gehören, seinen Schrecken verloren. Er bedeutet nicht mehr das Ende, das Furcht einjagt, das uns in Panik versetzt; er bedeutet nun den Durchgang in ein neues Leben in der Gemeinschaft mit ihm.
Ja, diese Gewissheit lässt uns als Christen tatsächlich anders leben, uns anders umgehen mit unserer Endlichkeit, selbst mit ganz konkreten Bedrohungsszenarien. Auch islamistische Terroristen können dann nicht die Gewalt über uns, über unser Leben und Handeln gewinnen: Sie haben nicht das letzte Wort über unser Leben; das hat Gott allein, ganz gleich, was für Verbrechen den Terroristen auch gelingen mögen, ganz gleich, was unser Leben sonst bedrohen und schließlich auch beenden mag. Wir brauchen keine Angst zu haben, das Wichtigste in unserem Leben zu verpassen, wir brauchen auch keine Angst davor zu haben, dass unsere Kräfte in unserem Leben allmählich schwinden. Wir haben doch den auf unserer Seite, der unser Fleisch und Blut angenommen hat, der uns genau versteht – auch in unseren Zweifeln und Versuchungen.
Denn Christus, unser Herr, ist eben nicht nur Mensch geworden, sondern er hat selber Versuchungen durchgemacht, so betont es der Hebräerbrief hier sehr ausdrücklich. So ganz und gar ist er Mensch geworden, dass er versuchbar geworden ist, dass ihm der Kampf nicht fremd geblieben ist, in dem wir uns auch und gerade als Christen befinden, dieser Kampf, in dem der Teufel uns immer wieder von Gott und dem Gehorsam ihm gegenüber abzubringen versucht. Ja, auch wenn wir wissen, dass Christus die Macht des Todes und des Teufels gebrochen hat, stehen wir doch immer wieder in der Gefahr, uns anzupassen an die Haltung unserer Umgebung gegenüber dem Tod, ja mehr noch: stehen wir immer wieder in der Gefahr, uns von ihm, Christus, zu entfernen, unser Leben letztlich doch ohne ihn zu führen, uns damit wieder in den Machtbereich dessen zu begeben, der die Gewalt über den Tod hatte und uns dadurch bis heute knechten will.
Doch gottlob: Wir stehen auch in diesen Versuchungen nicht allein da. Wir haben ihn, Christus, den Hohenpriester, der für uns vor Gott, seinem Vater, eintritt, der für uns bittet kraft seines Todes am Kreuz, der für uns bittet, eben weil er uns in unseren Versuchungen und Anfechtungen nur allzu gut verstehen kann. Meldungen über die Bedrohung unseres Lebens, Krankheiten, Schicksalsschläge, ja der nahende Tod – sie mögen uns auch als Christen immer wieder in Unruhe versetzen, mögen bei uns doch immer wieder Furcht auslösen. Doch Christus lässt uns dabei nicht allein. Er nimmt sich unser an, auch heute Abend wieder, wenn wir hier im Heiligen Mahl mit dem eigenen Mund erfahren, dass er, Christus, tatsächlich Fleisch und Blut angenommen hat. Das hilft, das stärkt uns in unseren Versuchungen, das lässt uns auch in Zukunft ganz getrost in eine U-Bahn steigen. Christus lebt in uns – und er tritt zugleich für uns ein, als Sühner für die Sünden und das Versagen auch unseres Lebens. Wann unser Leben auch einmal zu Ende gehen wird: Wir werden selbst im Tod nicht allein sein, werden selbst dort gehalten sein von ihm, unserem Herrn, der damals als kleines Kind in den Tempel gekommen ist, um seinen Weg zu gehen, der ihn ans Kreuz und uns in den Himmel führt. Amen.