03.03.2010 | St. Markus 15, 39 (1. Fastenpredigt: „Das Kreuz Christi - Die Selbstvorstellung Gottes“

MITTWOCH NACH REMINISZERE – 3. MÄRZ 2010 – ERSTE FASTENPREDIGT ÜBER DAS KREUZ CHRISTI: „DIE SELBSTVORSTELLUNG GOTTES“ (ST. MARKUS 15,39)

Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so verschied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!

Kruzifixe haben es heute nicht leicht. Seit im Jahr 1995 einige anthroposophische Eltern erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen klagten, dass ihre Kinder in einem bayrischen Schulzimmer den Anblick eines Kruzifixus ertragen mussten, gibt es immer wieder Diskussionen um die Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Räumen, nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern, selbst in Italien. In Großbritannien wurde sogar schon eine Krankenschwester aus dem Dienst entlassen, weil sie ein kleines silbernes Kruzifix um ihren Hals trug.
Doch es sind nicht nur christentumsfeindliche Eltern oder um religiöse Neutralität bemühte politische Gremien oder Arbeitgeber, die mit Kruzifixen so ihre Probleme haben. Auch in der Kirche selber werden heutzutage alle möglichen Einwände gegen die Zurschaustellung des Gekreuzigten erhoben: Ob das die Hamburger Landesbischöfin Maria Jepsen war, die den Anblick des Gekreuzigten als Erkennungszeichen des christlichen Glaubens lieber durch spielende Kinder ersetzt sehen wollte oder ob es im vergangenen Jahr ein Superintendent der rheinischen evangelischen Landeskirche war, der ganz offen, schließlich auch mit Unterstützung der rheinischen Kirchenleitung, erklärte, dass er so seine Probleme mit der Verkündigung des Opfertodes Jesu am Kreuz habe – die Verkündigung des gekreuzigten Christus wird auch innerkirchlich oftmals als problematisch angesehen und entsprechend in den Predigten verdrängt oder umgedeutet.
Und eine Verdrängung und Umdeutung dessen, worum es beim Kreuz Christi geht, stellt ja nicht zuletzt auch die Verharmlosung des Kreuzes Christi als Schmuckstück dar, als Anhänger, den man um den Hals trägt, wenn dieser Anhänger eben nicht als Bekenntnis zu dem gekreuzigten Christus gemeint ist, sondern allein als Modeschmuck, der heutzutage zum trendigen Outfit einfach dazugehört. Und nicht weniger problematisch ist die Verwendung des Kreuzes Christi als Symbol zur Durchsetzung bestimmter politischer oder gar militärischer Ziele. Nein, mit all dem hat man noch überhaupt nicht verstanden, worum es beim Kreuz Christi, ja auch konkret beim Anblick des gekreuzigten Christus geht.
Worum geht es also beim Kreuz Christi in Wirklichkeit; warum ist das Kreuz Christi für unseren christlichen Glauben von so entscheidender Bedeutung? Wir tun als Christen gut daran, gerade in dieser Frage sprachfähig zu sein. Denn beim Kreuz Christi geht es auch heute um den Kern unseres christlichen Glaubens. Ob die Aufhängung von Kruzifixen in öffentlichen Gebäuden sinnvoll oder gar notwendig ist, darüber mag man ja durchaus diskutieren können; aber wenn wir als Christen selber nicht mehr zum Ausdruck bringen können, was uns das Kreuz Christi, was uns auch der Anblick des Gekreuzigten bedeutet, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn andere dem Anblick des Kreuzes nur noch mit Unverständnis begegnen oder es tatsächlich nur noch als modisches Accessoire wahrnehmen. Dass wir allerdings auch mit allen Erklärungen Menschen nicht von der Bedeutung des Kreuzes Christi für ihr Leben überzeugen können, dass das Kreuz im Gegenteil immer auch das entscheidende Zeichen des Widerspruchs bleiben wird, das immer wieder die Gegner Christi auf den Plan ruft, dies müssen wir ebenfalls deutlich und nüchtern erkennen.
Wenn man von der Bedeutung des Kreuzes Christi sprechen will, kann man damit problemlos eine ganze Predigtreihe gestalten. Genau das möchte ich in den Predigten der Wochengottesdienste der diesjährigen Fastenzeit tun. Heute soll es dabei zunächst einmal um das Kreuz als Selbstvorstellung Gottes gehen.
Zu diesem Thema habe ich einen einzelnen und doch entscheidenden Vers aus dem vorletzten Kapitel des Markusevangeliums ausgewählt. Da heißt es in Markus 15,39: „Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so verschied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ Warum hat dieser Vers im Markusevangelium eine solch besondere Bedeutung? Es ist das einzige Mal im gesamten Markusevangelium, dass ein Mensch Jesus Christus als Sohn Gottes bekennt. Dass Jesus der Sohn Gottes ist, das ist für das Markusevangelium entscheidend wichtig; schon der erste Vers seines Evangeliums lautet: „Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.“ Aber dann bekennen die Menschen im Markusevangelium eben nicht angesichts der Wunder und großen Taten, die Jesus vollbringt, dass er der Sohn Gottes ist. Sondern dieses Bekenntnis spricht ein Heide, ausgerechnet im Anblick des gekreuzigten Christus. Ja, so macht es uns St. Markus damit eindrücklich deutlich: Wenn wir ihn, Jesus, wirklich erkennen wollen, wenn wir durch ihn erkennen wollen, wer Gott wirklich ist, dann müssen wir auf den Kruzifixus, auf den gekreuzigten Christus schauen. Allein im Anblick des Gekreuzigten erkennen wir Christus wirklich, erkennen wir in ihm Gott selber.
Gott gibt sich uns in dem gekreuzigten Christus zu erkennen, stellt sich uns in ihm vor – das ist die Botschaft des Markusevangeliums, ja die Botschaft des ganzen Neuen Testaments: Der Kruzifixus – er ist die Selbstvorstellung Gottes schlechthin. Gott stellt sich uns vor – und widerspricht damit zugleich allen Vorstellungen, die wir Menschen uns von Gott machen mögen:
Wenn Menschen sich Gott vorstellen, dann stellen sie sich eben in aller Regel keinen Menschen vor, der blutend festgenagelt an einem Kreuz hängt und schließlich stirbt. Sondern wenn Menschen sich Gott vorstellen, dann stellen sie sich beispielsweise einen lieben älteren Herrn vor, der gütig lächelnd auf das Weltgeschehen herniederblickt und für alles Verständnis hat, was wir Menschen in unserem Leben so anstellen. Oder sie stellen sich ein überaus großes Wesen vor, vor dem man sich niederwerfen muss, das man mit Opfern oder guten Werken besänftigten muss, das einem jedenfalls gehörig Angst einjagen kann. Oder sie stellen sich Gott als großen Erziehungshelfer vor, der immer genau aufpasst, was wir Menschen tun, oder ihre blühende Fantasie entwickelt vielleicht noch ganz andere Gottesbilder und Gottesvorstellungen. Kein Wunder, dass im 19. Jahrhundert der Philosoph Ludwig Feuerbach den Religionen unterstellte, letztlich würden sie in den Bildern, die sie sich von Gott machen, nur ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte und auch ihre eigene Furcht an den Himmel projizieren; Gott sei letztlich nur das Ergebnis solcher menschlichen Vorstellungen. Mit dieser Analyse hat Feuerbach grundsätzlich durchaus recht. Nur an einem Punkt versagt diese Analyse; und dieser Punkt ist das Kreuz Christi. Kein Mensch wäre von sich aus auf die Idee gekommen, sich Gott als schwachen, leidenden, gekreuzigten Menschen vorzustellen. Diese Vorstellung ist im Gegenteil so absurd, für unser menschliches Denken so verrückt, dass wir sie von uns aus mit dem lebendigen Gott sicher nicht zusammengebracht hätten.
Doch genau so ist er, der lebendige Gott: Er knüpft nicht an unsere menschlichen Vorstellungen von einem höheren Wesen an, wenn er sich uns vorstellt, sondern er durchkreuzt diese menschlichen Vorstellungen im wahrsten Sinne des Wortes: Mit den Worten des Apostels Paulus: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden. Denn es steht geschrieben: Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.“ Nein, wir glauben nicht an unsere eigenen Wünsche und Sehnsüchte, wenn wir uns zur Selbstvorstellung Gottes in dem gekreuzigten Christus bekennen, sondern wir glauben an den, der unsere Vorstellungen von ihm zerbrochen und sich gerade so als der lebendige Gott erwiesen hat.
Nein, das mit der Selbstvorstellung Gottes am Kreuz, das war ja nicht bloß ein pädagogischer Gag, den Gott da gelandet hat, um uns Menschen ein wenig zu verblüffen. Sondern diese Selbstvorstellung Gottes am Kreuz, die hat, man wagt es kaum auszusprechen, Rückwirkungen auf ihn selber gehabt: Da am Kreuz hat Gott sich im wahrsten Sinne des Wortes darauf festnageln lassen, dass er ein leidender Gott ist, einer, der mit leidet mit unserer Schwachheit, dass er ein liebender Gott ist, der in seiner Liebe dazu bereit ist, bis in den Tod zu gehen. Ja, so sehr hat sich Gott in diesem gekreuzigten Christus festgelegt, dass er damit abbildbar geworden ist, dass er uns damit die Möglichkeit geschenkt hat, ein Gottesbild zu haben, das nicht unter das Bilderverbot des Alten Testaments fällt, weil es eben kein selbstgeschaffenes Gottesbild ist, sondern die Selbstvorstellung Gottes verkündigt. Und eben dieses Gottesbild, das anzuschauen uns erlaubt ist, ist das Bild des Gekreuzigten, ist der Kruzifixus, der eben darum in unseren Gotteshäusern, in unseren Wohnungen hängt.
Gott stellt sich uns vor, gibt sich in dem gekreuzigten Christus letztgültig zu erkennen – damit gibt Gott zugleich auch eine Antwort auf die Frage nach dem Leid in dieser Welt, nein, keine Antwort, die unsere Fragen danach, warum so viel Schreckliches in dieser Welt geschieht, endgültig zum Schweigen bringen würde, aber eben doch eine Antwort, die uns davor bewahrt, Irrwege bei der Suche nach eigenen Antworten zu gehen: Ja, es macht einen Unterschied, ob ich ein selbstgebasteltes Gottesbild, ob ich den lieben Vater überm Sternenzelt, den gütigen Opa oder auch den furchtbaren Gott, vor dem ich mich nur niederwerfen kann, nach dem Leid in dieser Welt frage oder ob ich diese Frage stelle im Anblick des gekreuzigten Christus. Dann erkenne ich: Der, den ich da nach dem Leid in meinem Leben, nach dem Leid in dieser Welt frage, der weiß, was Leiden heißt, nicht bloß theoretisch, sondern aus eigener Erfahrung. Der, den ich nach dem Leid in meinem Leben, nach dem Leid in dieser Welt frage, der will nicht mein Unheil, der ist kein Sadist, der hat vielmehr selber den Tod erlitten – nein, nicht nur für ein paar auserwählte Menschen, sondern für alle Menschen dieser Welt, gerade auch für diejenigen, die von schrecklichen Schicksalsschlägen heimgesucht werden. Ja, diesem Gott, der sich so zu erkennen gegeben hat, dem traue ich es zu, dass er mir einmal die rechte Antwort auf die Frage nach dem Warum geben wird, dem traue ich es zu, mir einmal erklären zu können, welchen Sinn all das Schreckliche und Unbegreifliche in meinem Leben und in dieser Welt gehabt hat. Ja, ohne den Anblick des Gekreuzigten könnten wir mitunter in unserem Leben und an unserem Leben nur verzweifeln. Doch er, der Gekreuzigte, hilft uns, unsere Fragen und Zweifel auszuhalten. Nein, ohne das Kreuz Christi könnten wir niemals angemessen von Gott, vom Glauben an ihn reden. Das Kreuz – es ist und bleibt für uns Christen unverzichtbar. Amen.