05.09.2010 | Römer 8, 12-17 (14. Sonntag nach Trinitatis)

14. SONNTAG NACH TRINITATIS – 5. SEPTEMBER 2010 – PREDIGT ÜBER RÖMER 8,12-17

So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

Wenn ich mit Brautpaaren in unserer Gemeinde Gespräche zur Vorbereitung auf die Ehe führe, dann ist dabei ein wichtiges Thema immer auch die Herkunftsfamilie. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind alle miteinander von unserer Herkunftsfamilie geprägt, davon, wie die Eltern miteinander umgegangen sind, wie sie miteinander gesprochen oder eben auch nicht gesprochen haben, wie sie Konflikte gelöst oder eben auch nicht gelöst haben, wie sie ihre Kinder erzogen haben, was ihnen im Leben wichtig war und worauf sie keinen Wert gelegt haben. Das steckt uns allen miteinander in den Knochen, und unwillkürlich verhalten wir uns selber immer wieder genauso, wie wir es zu Hause bei unseren Eltern erlebt haben. Ja, das tun wir selbst dann, wenn wir uns als Jugendliche oder auch als Erwachsene geschworen haben, alles ganz anders zu machen als unsere Eltern. So ist es beispielsweise statistisch belegt, dass bei Kindern, deren Eltern sich haben scheiden lassen, die Wahrscheinlichkeit, dass auch ihre Ehe geschieden wird, doppelt so hoch wie bei Kindern, die bei ihren Eltern kein Zerbrechen der Ehe erlebt hatten. Und ebenso besteht bei Kindern, bei denen ein Elternteil alkoholkrank war, eine um ein mehrfaches höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie selber auch am Alkoholismus oder an anderer Drogenabhängigkeit erkranken, als bei Kindern, die keinen Drogenmissbrauch in ihrer Familie erlebt haben.
Wichtig ist es, dass Brautpaare sich vor ihrer Hochzeit das klar machen, wie sie von ihrer Herkunftsfamilie geprägt sind, damit es dann nicht bald in der Ehe zu Konflikten kommt, weil jeder der beiden Partner unwillkürlich die eigenen Herkunftserfahrungen als selbstverständlich auch bei dem jeweils anderen voraussetzt und sich dann wundert, wenn der in bestimmten Situationen so ganz anders tickt, als man es doch scheinbar selbstverständlich erwarten konnte. Ja, viel gewonnen ist schon damit, dass beide Partner sich ihrer eigenen Herkunft und der Herkunft ihres Partners bewusst sind und so das eigene Verhalten und das Verhalten des Partners besser einordnen können. Gelöst sind damit allerdings die Probleme unterschiedlicher Herkunft noch nicht, denn, wie gesagt, keiner der beiden kann einfach aus seiner Haut herausschlüpfen, selbst wenn es bei ihm oder ihr erkennbare Fortschritte geben sollte bei dem Versuch, es im eigenen Leben nun anders und besser zu machen, als man es selber zuvor erfahren hatte.
Um die prägende Kraft unserer Herkunft geht es auch in der Epistel des heutigen Sonntags. Wenn der Apostel Paulus hier von Herkunft redet, dann bezieht er sich allerdings nicht bloß auf die Erfahrungen zurück, die wir in unserer Kinder- und Jugendzeit gemacht haben. Sondern er spricht von Prägungen, die noch viel, viel tiefer in uns drinstecken und die wir von daher auch noch viel weniger loswerden können als die Prägungen aus unserem Elternhaus. „Fleisch“, so nennt der Apostel Paulus hier diese prägende Kraft unserer Herkunft. Dieser Begriff klingt für uns heute zugegebenermaßen ziemlich missverständlich. Bei Fleisch denken die einen an ein argentinisches Steakhouse, die zweiten denken vielleicht an die Masse, die unsere Knochen umgibt, und die dritten denken vielleicht an Sex, wenn sie dieses Wort hören, und folgern messerscharf, dass der Paulus wohl ein ziemlich verklemmter Typ gewesen sein muss, wenn er hier so schlecht über das Fleisch redet.
Doch Paulus meint mit „Fleisch“ in Wirklichkeit etwas völlig anders. Er meint mit diesem Wort eine Lebenseinstellung, von der wir Menschen von Natur aus geprägt sind und die uns zugleich in Unfreiheit leben lässt, auch wenn wir das selber gar nicht so spüren und empfinden. „Fleisch“ – das umschreibt beispielsweise eine Lebenseinstellung nach dem Motto: „Hauptsache, ich komme in meinem Leben zum Zug; Hauptsache, ich verpasse nichts in den paar Jahren, die ich hier auf der Erde zubringe.“ Nein, das heißt nicht, dass wir Menschen dies so ausdrücklich als unser Lebensmotto formulieren; aber die Haltung, die darin zum Ausdruck kommt, die bestimmt dann doch immer wieder unser Denken und Handeln. Auf uns selbst bezogen sind wir Menschen von Anfang an, in uns selbst verkrümmt, so formuliert es Martin Luther noch ein wenig drastischer. Um mich, um meine Selbstverwirklichung, wie man es dann so schön nennt, geht es in meinem Leben, darum, dass ich auch ja nicht zu kurz komme, dass ich im Gegenteil erhalte, was mir zusteht. Das prägt unseren Umgang mit Geld und Besitz, das prägt unseren Umgang mit anderen Menschen, das prägt oft genug auch unsere Lebensplanung insgesamt. Unfreie, getriebene Menschen sind wir mit solch einer Lebenseinstellung, Menschen, die bewusst oder unbewusst spüren, wie ihnen ihre Lebenszeit trotz aller Bemühungen davonläuft, dass sie eben nicht alles mitnehmen und erleben können, was sie doch eigentlich wollen, dass sie eben doch nicht genügend mitnehmen, weil es eben doch so vieles gibt, was sie noch nicht haben und doch eigentlich gerne haben und erleben möchten.
„Fleisch“ – das kann weiterhin heißen, dass ich mich von anderem in meinem Leben treiben und bestimmen lasse und glaube, dass es dazu doch auch gar keine Alternative gibt, dass ich dagegen doch gar nicht ankomme. „Fleisch“ – das kann beispielsweise heißen, dass ich mich in meiner Lebensausrichtung, in meinen Lebensentscheidungen immer wieder an dem orientiere, was alle anderen doch auch tun. Wenn alle das machen und gut finden, dann muss das doch richtig sein – und wenn ich mit meiner Meinung, mit meinem Verhalten ziemlich allein dastehe, dann muss doch bei mir etwas nicht ganz richtig sein, dann muss ich mich eben anpassen, um nicht als Außenseiter dazustehen. „Fleisch“ – das kann in diesem Zusammenhang auch heißen, dass ich mich von meinen Trieben so bestimmen lasse, als hätte ich gar keine Möglichkeit, sie irgendwie zu steuern und zu kontrollieren. Das kann der Trieb sein, materiell immer mehr haben zu wollen, das kann der Trieb sein, immer besser sein zu wollen als andere, das kann natürlich auch der Sexualtrieb sein, der dafür sorgt, dass uns der Verstand immer wieder zwischen die Beine rutscht. Auch hier gilt wieder: Unfreie, getriebene Menschen sind wir mit solch einer Lebenseinstellung, Menschen, die sich von anderen, von deren Meinungsdruck, oder die sich von anderem, etwa von ihren Trieben, beherrschen lassen.
„Fleisch“ – das kann weiterhin heißen, dass ich mich selbst darüber definiere, was ich geleistet habe und zu leisten vermag. Wenn ich viel leiste, wenn ich Erfolg habe, wenn ich vielleicht auch entsprechend gut verdiene, dann bin ich gut. Wenn ich dagegen versage, wenn meine Kräfte nicht so weit reichen, wie ich möchte, dann bin ich eben nichts wert, dann tauge ich nichts. Diese Lebenseinstellung lässt sich dann sogar noch religiös überhöhen: Dann glauben wir Menschen, wir müssten sogar Gott selber mit dem beeindrucken, was wir zu leisten vermögen und was wir geleistet haben. Und entsprechend haben wir dann Angst vor solch einem Gott, der genau aufpasst, was wir tun, der alles genau bewertet und der uns bestraft, wenn wir nicht die Leistung bringen, die er von uns verlangt. Ach, Schwestern und Brüder, wie tief steckt solch eine „fleischliche“ Prägung in uns Menschen drin, wie sehr hat solch ein Denken, solch eine Angst vor dem strafenden Gott, die Kindheit vieler Menschen verdunkelt, wie sehr macht sie es auch heute noch vielen Menschen schwer, sich der Kirche und dem Glauben zu nähern, weil diese Einstellung ihre Wahrnehmung gleichsam blockiert! Ja, unfreie Menschen sind wir, wenn wir unser Leben als großen Leistungstest verstehen, wenn wir uns immer wieder treiben lassen von der Angst vor Gott.
Doch das Problem dieser Prägung durch unsere Herkunft, die Paulus hier mit dem Stichwort „Fleisch“ umschreibt, besteht nicht bloß darin, dass solch eine Lebenseinstellung mitunter ein gewisses Unwohlsein bei uns hervorzurufen vermag. Ich kann mich im Gegenteil mit solch einer Lebenseinstellung sogar sauwohl fühlen, es genießen, immer mit der Masse zu schwimmen, es genießen, möglichst viel zu bekommen, es genießen, meine Triebe hemmungslos auszuleben. Doch ganz gleich, ob wir uns mit dieser Prägung gut oder schlecht fühlen mögen – unser Leben endet mit dieser Lebenseinstellung in einer Sackgasse, in der Sackgasse des ewigen Todes, so macht es uns der Apostel Paulus hier in unserer Epistel deutlich, mit seinen Worten gesprochen: „Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben.“
Und wie können wir nun an dieser Prägung, von der, wohlgemerkt, keiner von uns ausgenommen ist, wie können wir nun an dieser Prägung irgendetwas ändern? Es ist, wie gesagt, oft genug schon ziemlich schwer für zwei Brautleute, sich vor ihrer Hochzeit ihrer Prägung durch die eigene Herkunftsfamilie bewusst zu werden, und dann entsprechend damit umzugehen und daran zu arbeiten. Im Falle der Prägung, von der der Apostel Paulus hier spricht, ist die ganze Geschichte jedoch völlig aussichtslos. Ich mag mir noch so sehr klarmachen, dass es nicht gut für mich ist, wenn ich mich in meinem Leben von der Angst treiben lasse, etwas zu verpassen, ich mag mir noch so sehr klarmachen, dass es nicht gut ist, mich von der Meinung anderer oder von meinen Trieben treiben zu lassen, ich mag mir noch so sehr klarmachen, dass es nicht gut ist, mich von Leistungsanforderungen oder von der Angst vor einem strafenden Gott treiben zu lassen – diese Prägung, die der Apostel Paulus hier „Fleisch“ nennt, steckt so tief in uns drin, dass wir sie nicht wegreflektieren und nicht wegdiskutieren und auch nicht wegtherapieren können. Da ist schon ein viel tiefergehender Eingriff erforderlich. Und genau dieser Eingriff ist nun das eigentliche Thema dessen, was Paulus uns hier in dieser Epistel schreibt. Auch für diesen Eingriff gebraucht der Apostel wieder einen Fachausdruck, der leicht missverstanden werden kann. Er spricht hier nämlich vom „Geist“.
Wenn wir heute das Wort „Geist“ hören, dann denken die einen erst mal an Halloween, andere denken an gute Stimmung in einer Gruppe, in der ein guter Geist, ja vielleicht gar Begeisterung herrscht, wiederum anderen fällt zum Thema „Geist“ nur Wodka ein, und wiederum andere denken an die Aktivitäten ihrer grauen Zellen und was sie damit so alles anstellen können, und nennen das ihren „Geist“. Und dann gibt es natürlich auch noch die esoterisch Angehauchten, die bei „Geist“ einfach an etwas Übersinnliches denken und die, kaum dass sie das Wort „Geist“ gehört haben, anfangen, nur noch „Ommm“ zu sagen.
Doch wenn Paulus hier vom Geist redet, meint er etwas vollkommen Anderes: Er meint damit, dass der lebendige Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, dass dieser lebendige Gott in dein und in mein Leben eingegriffen hat, ganz konkret in unserer Heiligen Taufe. Was hat er da in der Taufe gemacht? Er hat uns zunächst einmal und vor allem adoptiert, so schreibt es St. Paulus hier. Wir haben seit unserer Taufe noch einmal ein ganz neues Zuhause, ein neues Elternhaus: Wir haben Gott, den Herrn der Welt, nun als unseren Vater, als einen Vater, der uns nicht verprügelt, der uns nicht missbraucht, vor dem wir keine Angst zu haben brauchen, sondern der uns im Gegenteil aufatmen lässt, uns Freiheit schenkt, uns ihm vertrauen lässt. Nein, diese Adoption war eben nicht bloß eine Formalität, kein bloßer Rechtsakt, sondern durch diese Adoption hat unser Leben in der Tat eine ganz neue Herkunft und damit auch eine neue Prägung erhalten. Und genau das meint Paulus, wenn er hier vom „Geist“ redet. Das ist nicht unser mickriger menschlicher Geist, das ist nicht ein übersinnliches Phänomen, sondern das ist der lebendige Gott selber, der in unserem Leben am Werk ist, der uns von daher noch einmal ganz anders ticken lässt.
Nein, die Prägung durch das „Fleisch“ ist für uns als getaufte Christen jetzt kein unabänderliches Schicksal mehr, dass wir nun mal nicht anders leben können als so, wie es uns unsere Herkunft nun mal vorgibt. Wir müssen uns nicht mehr treiben lassen von den Anziehungskräften unseres Ich, von der Meinung anderer, von unseren Trieben, von irgendwelcher Angst vor Gott. Wir dürfen leben als Kinder, die alle Privilegien einer Abstammung aus einer heilen Familie, aus der Familie Gottes, genießen, als Kinder, die allen Grund haben, auf ihre Herkunft, auf ihren Vater stolz zu sein, der dazu in der Lage war und ist, auch Lebensläufe, die scheinbar schon endgültig festgelegt sind, noch einmal umzubiegen und zu verändern. Ja, wir dürfen leben als Kinder, die schlicht und einfach unendlich geliebt sind von ihrem Vater und die eben dadurch eine tragfähige Grundlage haben für ein neues, anderes Leben.
Ja, getauft sind wir, gewiss, den Geist Gottes haben wir empfangen, ganz gewiss. Doch das heißt nun leider nicht, dass damit unsere alte Prägung einfach aus unserem Leben ganz verschwunden wäre. Sie braucht unser Leben nicht mehr zu bestimmen, und doch steckt sie uns immer noch in den Knochen, dass wir doch immer wieder in alte Verhaltensmuster, in alte Denkweisen zurückrutschen und uns davon nicht freimachen können. Nein, der Apostel Paulus sortiert hier in unserer Epistel nicht zwei Menschengruppen auseinander: die einen, die nach dem Fleisch leben, und die anderen, die nach dem Geist leben. Gewiss, wer Gottes Geist nicht empfangen hat, der kann tatsächlich nicht anders, als nur so zu leben, wie er von Geburt an geprägt ist. Doch wer getauft ist, bei wem Gott im Leben zu wirken angefangen hat, der steht zeit seines Lebens in einem Kampf, in dem es immer wieder neu darum geht, in der Kraft des Geistes Gottes die alte Prägung hinter sich zu lassen und nun als freier Mensch zu leben. Immer wieder brauchen wir darum die Ermutigung durch Gottes Wort, immer wieder brauchen wir dafür die Kraft der Vergebung, wenn wir wieder einmal in diesem Kampf gescheitert sind, immer wieder haben wir es nötig, dass Christus selbst mit seinem Leib und Blut in uns Wohnung nimmt, um uns in diesem Kampf zu unterstützen.
Doch der Kampf lohnt sich – nicht unbedingt in der Weise, dass wir uns als Christen besser und glücklicher fühlen, als wie Nichtchristen sich fühlen. Aber der Kampf lohnt sich, weil wir darin schon jetzt in unserem Leben etwas davon erfahren dürfen, wie gut es ist, ein freier Mensch sein zu dürfen, Kind Gottes, unendlich geliebt vom Vater im Himmel. Und der Kampf lohnt sich erst recht, weil wir wissen, worauf unser Leben in der Kraft des Geistes Gottes hinausläuft: darauf, dass wir mit Christus zur Herrlichkeit erhoben werden, wie Paulus es hier formuliert, darauf, dass wir einmal für immer die herrliche Freiheit der Kinder Gottes werden erfahren und genießen dürfen. Ja, das ist eine solch wunderbare Aussicht, dass wir sie auch all denen gönnen, die jetzt davon noch keine Ahnung haben, die ihre Art zu leben für die einzig mögliche halten. Ja, sie mögen Angst haben, ihr Leben zu verändern, weil sie fürchten, damit etwas zu verpassen. Doch Gottes Geist ist dazu in der Lage, auch ihr Leben zu verändern, auch sie erfahren zu lassen, dass sie nicht etwas verlieren, sondern etwas gewinnen, wenn sie in der Gemeinschaft mit Christus leben. Nein, es muss in unserem Leben nicht alles so bleiben, wie es immer war. Denn Gottes Geist, der war und ist bei uns am Werk – ja, auch jetzt in dieser Predigt. Amen.