28.11.2010 | Jeremia 23,5-8 | 1. Sonntag im Advent

Ist das gerecht, wenn ein Mitschüler für dieselbe Leistung eine bessere Note bekommt als man selber, weil der Vater des Mitschülers mit dem Lehrer befreundet ist? Ist das gerecht, wenn ein Familienvater sechzig Stunden in der Woche schuftet und dennoch nicht genügend Geld verdient, um damit sich und seine Familie ernähren zu können? Ist das gerecht, wenn man einen Menschen, der fast 15 Jahre hier in Deutschland lebt und sehr gut Deutsch spricht, wieder in sein Heimatland abschieben will, wo ihm möglicherweise um seines Glaubens willen die Verhaftung und der Tod drohen? Schwestern und Brüder, wir machen alle immer wieder die Erfahrung, dass es hier und da in unserem Leben und im Leben anderer Menschen nicht gerecht, sondern zutiefst ungerecht zugeht – und über solche Ungerechtigkeit regen wir uns mitunter auch gewaltig auf. Ja, warum eigentlich? Warum gehen wir eigentlich davon aus, dass es in dieser Welt, dass es in unserem Leben gerecht zugehen muss? Warum begnügen wir uns nicht damit, anzuerkennen, dass sich der Stärkere, Einflussreichere in dieser Welt nun mal durchsetzt und die Schwächeren nun mal Pech haben?
In der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags macht Gott selber erkennbar, dass es sein Wille ist, dass in dieser Welt Gerechtigkeit herrscht, dass es unter den Menschen gerecht zugeht, dass nicht einfach das Gesetz des Stärkeren zählt.
Doch diesem Willen Gottes entsprachen die Erfahrungen, die die Menschen damals zur Zeit des Propheten Jeremia in dem kleinen Staat Juda machen mussten, überhaupt nicht. Nein, da ging es nicht gerecht zu; da wurde das Recht der Armen und Elenden mit Füßen getreten, da wurden Arbeiter um ihren Lohn betrogen, da schwelgten die Führer des Volkes im Luxus, nutzten ihre Machtpositionen aus, um Witwen, Waisen und Ausländer zu bedrängen, scheuten auch nicht davor zurück, Gewalt anzuwenden, um ihre Interessen durchzusetzen, so beklagt es der Prophet Jeremia ganz offen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, verkündet ganz offen, dass dies alles dem Willen Gottes widerspricht.
Doch dann bestieg ein neuer König den Thron, ein König mit einem verheißungsvollen Namen: Zedekia hieß er, auf Deutsch: Der HERR ist gerecht. Wenn das kein Grund zur Hoffnung war, dass nun endlich einer kommen würde, der dieser ganzen Ungerechtigkeit ein Ende bereiten würde, der nun endlich dafür sorgen würde, dass es im Lande wieder gerecht zuging! Gerechtigkeit konnte doch nur von einem durchgesetzt werden, der auch in der entsprechenden Position war, der auch die entsprechende Macht hatte. Doch der Zedekia mit seinem hoffnungsvollen Namen stellte sich schnell als ganz große Enttäuschung heraus, als größte Pflaume unter all den Königen der Vergangenheit überhaupt: Statt Recht zu schaffen, ging es unter seiner Herrschaft noch ungerechter zu als unter seinen Vorgängern. Nein, Gerechtigkeit brachte dieser Mensch ganz gewiss nicht zuwege!
Wir können diese Enttäuschung der Menschen damals gewiss ein ganzes Stück weit nachempfinden: Ja, auch wir erwarten es ja vor allem von denen, die politische Verantwortung tragen, im Parlament, in der Regierung, in den Gerichten, dass sie dafür zuständig sind, dass Gerechtigkeit bei uns im Land herrscht. Und in der Tat: Das Thema „Gerechtigkeit“ ist auch in den politischen Diskussionen unserer Tage immer wieder ein zentrales Schlagwort: Von Chancengerechtigkeit, von Bildungsgerechtigkeit, von sozialer Gerechtigkeit ist da die Rede. Und dann setzen Menschen bei Wahlen die Hoffnung auf bestimmte Politiker und Parteien, dass sie dafür sorgen, dass es in unserem Land gerechter zugeht, als dies bisher der Fall gewesen zu sein schien. Doch nach den Wahlen macht sich dann regelmäßig die große Enttäuschung breit, dass die Hoffnungen, die die Menschen auf die Gewählten gesetzt hatten, sich dann doch wieder nicht erfüllt haben, dass die Gerechtigkeit eben doch nicht so im Lande eingezogen ist, wie man sich dies erwartet hatte. Gewiss, vergessen wir es nicht: Es geht in unserem Lande heutzutage in vielfacher Hinsicht sehr viel gerechter zu als damals in Juda zur Zeit des Königs Zedekia. Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, haben heute ganz andere Möglichkeiten, sich zu wehren, als dies damals der Fall war. Doch dass es in unserem Land wirklich gerecht zugeht, dass jedem Menschen Gerechtigkeit widerfährt, angefangen von der Benotung in der Schule und seinen Startchancen im Leben bis hin zu Entscheidungen der großen Politik, werden wir wohl kaum behaupten können. Offenbar ist das auch ganz schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine wirklich gerechte Gesellschaft zu schaffen, so sehr wir uns dies auch wünschen und vielleicht auch guten Willens sein mögen.
Wie reagierte der Prophet Jeremia, nein: Besser müssen wir sagen: Wie reagierte Gott selber nun damals auf die offensichtliche Ungerechtigkeit, die die Könige auf dem Davidsthron in Jerusalem, die nicht zuletzt auch der unsägliche König Zedekia produzierte? Gewiss, er nennt diese Ungerechtigkeit deutlich beim Namen, kündigt das Strafgericht denen an, die das Recht gegenüber den Schwachen und Wehrlosen beugen. Doch dann lässt Gott den Jeremia kein politisches Gegenprogramm verkündigen, keine Methode, wie man denn nun eine wirklich gerechte Gesellschaft schaffen kann. Nein, Gott macht es ganz klar, dass wir Menschen von uns aus überhaupt nicht dazu in der Lage sein werden, jemals eine wirklich gerechte Gesellschaft zu schaffen. Denn den Grundschaden unseres menschlichen Zusammenlebens können wir nicht heilen und werden wir von uns aus auch niemals heilen.
Und so setzt Gott hier noch einmal ganz anders an: Er richtet keine Appelle an uns Menschen, doch nun endlich mal nett und friedlich und gerecht miteinander umzugehen. Sondern er spricht von dem, was er einmal tun will und wird: Er wird einmal einen Nachfolger aus dem Königsgeschlecht Davids erstehen lassen, der das Recht und die Gerechtigkeit aufrichten wird, die wir Menschen von uns aus niemals schaffen könnten. Gott selber wird in diesem künftigen König die Gerechtigkeit zur Chefsache erklären, wird dafür sorgen, dass die Gerechtigkeit herrschen wird, an der wir Menschen, ganz gleich, ob wir Politiker sind oder nicht, immer wieder nur scheitern können.
Einen König wird Gott einmal zu den Menschen, ganz konkret zunächst einmal zu seinem Volk Israel schicken. Im Heiligen Evangelium dieses Sonntags haben wir den Bericht vom Einzug dieses Königs in seine Stadt Jerusalem gehört. Nicht mit militärischer Macht zieht er in die Stadt ein, sondern auf einem Esel, lässt es zu, dass die Menschen auf ihn als ihren König ihre ganze Hoffnung setzen. Ja, er, der König, schafft Gerechtigkeit. Doch er macht dies ganz anders, als die Menschen damals und heute es von sich aus erwartet hätten. Er ruft nicht zur Revolution gegen die Römer auf, sondern er packt das Übel an der Wurzel.
Woran liegt es denn, dass das mit der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft, in jeder menschlichen Gesellschaft einfach nicht so hinhaut, wie wir uns dies doch vielleicht sogar alle miteinander wünschen würden? Das liegt an unserem gestörten, ja kaputten Verhältnis, das wir zu Gott haben, so macht es uns die ganze Heilige Schrift sehr deutlich. Das steckt in uns drin, dass wir zunächst und vor allem um uns selber kreisen, dass wir Gottes Gebote immer wieder als Einschränkung und Bedrohung unserer Freiheit ansehen und darum meinen, uns über sie hinwegsetzen zu können. Eine Katastrophe wäre es von daher für uns, wenn Gott mit uns tatsächlich gerecht in dem Sinne umgehen würde, wie wir Gerechtigkeit normalerweise verstehen, dass nämlich jeder bekommt, was er verdient. Würde Gott in dem Sinne Gerechtigkeit bei uns walten lassen, wenn er unser Leben beurteilt, dann wären wir verloren, und zwar für immer und ewig.
Doch glücklicherweise versteht Gott unter Gerechtigkeit etwas ganz anderes, sieht Gottes Gerechtigkeit ganz anders aus: Sie zielt gerade nicht darauf ab, uns das zu geben, was wir verdient haben, sondern zielt darauf ab, die kaputte Gemeinschaft zwischen ihm, Gott, und uns wieder in Ordnung zu bringen. Diese Gerechtigkeit setzt der König, den Gott zu uns schickt, durch, und zwar wirklich um jeden Preis, ja um den Preis des Lebens dieses Königs, der zugleich kein Geringerer ist als der ewige Sohn Gottes selber. Der König lässt sich ans Kreuz nageln, nimmt auf sich, was wir Menschen verdient haben, und nimmt damit alles weg, was unser Verhältnis zu Gott belasten, was unsere Gemeinschaft zu ihm in Frage stellen könnte. Gott schenkt uns Menschen das, was wir nicht verdient haben – so sieht seine Gerechtigkeit aus, so will Gott unser Herz gewinnen und erneuern.
Diesen König, der dadurch Gerechtigkeit schafft, dass er am Kreuz für uns stirbt, diesen König sollen wir auch als Kirche verkündigen, nicht nur heute am Ersten Sonntag im Advent, sondern zu jeder Zeit. Einladen sollen und dürfen wir die Menschen dazu, sich Gerechtigkeit dadurch widerfahren zu lassen, dass sie sich die Schuld und das Versagen ihres Lebens von diesem König immer wieder neu vergeben lassen. Einladen sollen und dürfen wir die Menschen dazu, auch Glieder von Gottes Volk zu werden, bei Gott eine Heimat zu finden, aus der sie niemals mehr vertrieben werden können.
Damals hat Gott durch den Propheten Jeremia angekündigt, dass er etwas ganz Neues schaffen wird, ein Heilsereignis, das den Auszug des Volkes Israel noch einmal überbieten wird. Und dann hat Gott die Erfüllung seines eigenen Versprechens, das er damals den Bewohnern Jerusalems gemacht hat, tatsächlich noch einmal überboten in der Sendung seines Sohnes. Darum rechnen wir unsere Jahre bis heute nun nach diesem neuen Heilsereignis, nach Christi Geburt, selbst wenn sich ein Mönch im Mittelalter bei der Berechnung der Geburt Christi vermutlich um sieben Jahre verrechnet hat. Es kommt nicht auf die Zahlen an; es kommt darauf an, dass wir wissen, was für uns und unser Leben allein zählt: Dass mit der Geburt Jesu, die wir in diesen kommenden Wochen feiern, die entscheidende Zeitenwende stattgefunden hat, dass  Jesus, unser König, unser Verhältnis zu Gott in Ordnung gebracht hat, uns ohne unser Verdienst zu gerechten Menschen gemacht hat.
Kann es uns von daher als Christen egal sein, ob es ansonsten in unserer Gesellschaft gerecht zugeht? Nein, das kann und soll es nicht. Wir dürfen und sollen uns geradezu darüber aufregen, wenn uns Ungerechtigkeit begegnet, wenn vor allem anderen Menschen Unrecht widerfährt. Gottes Wille ist, dass Menschen auch hier auf Erden gerecht miteinander umgehen, dass keinem Menschen seine Menschenwürde genommen wird, dass nicht Menschen ihren Vorteil auf Kosten anderer durchsetzen. Gerade von uns Christen, die er mit seiner Gerechtigkeit beschenkt hat, erwartet Gott, dass wir so auch unseren Mitmenschen Gerechtigkeit widerfahren lassen und uns für ihr Recht einsetzen. Doch auch wenn wir uns als Christen für Gerechtigkeit in unserer Welt, in unserer Gesellschaft, ja in unserer eigenen Umgebung engagieren, sollen wir zugleich wissen: Solange wir hier auf Erden leben, wird es niemals eine wirklich gerechte Gesellschaftsordnung geben, wird die Ungerechtigkeit niemals aus unserem Leben, aus unserem Zusammenleben verschwinden. Unsere Welt bleibt von der Sünde gezeichnet; das können wir auch mit noch so vielen Appellen nicht ändern. Und eben darum sollten wir auch unsere Erwartungen an Politiker und an politische Parteien nicht zu hochschrauben: Wenn es ihnen hier und da gelingt, in dieser kaputten Welt mehr Gerechtigkeit zu schaffen, dann sollen und dürfen wir Gott dafür dankbar sein, sollen von Politikern nicht erwarten, was allein der Messias zu schaffen vermag.
Dieser Messias Jesus ist mit dem, was er getan hat, noch nicht fertig. Der wird tatsächlich einmal eine neue Welt schaffen, in der nur noch Gerechtigkeit herrschen wird, in der auch wir einmal für immer zu Hause sein werden. Ja, auch dich will er in dieser neuen Welt mit dabei haben; dafür hat er, der Messias, am Kreuz gehangen. Auch dich will er in dieser neuen Welt mit dabei haben – das hat er dir in deiner Taufe versprochen. Verliere dies Ziel bei aller Enttäuschung über die Ungerechtigkeit in dieser Welt niemals aus den Augen; gib darum auch nicht frustriert auf, wenn es darum geht, um Gerechtigkeit in dieser Welt zu kämpfen. Das entscheidende und wichtigste Gerechtigkeitsproblem in deinem Leben, das hat er, dein König Jesus Christus, für dich doch schon gelöst, als er die Schuld deines Lebens auf sich genommen hat. Nein, am Ende werden sich nicht die Starken, die Rücksichtslosen in dieser Welt durchsetzen. Am Ende werden sich einmal alle Menschen vor diesem König verantworten müssen, auch und gerade die, die für furchtbares Unrecht in dieser Welt verantwortlich waren und sind. Gott geb’s, dass uns immer klar bleibt, was uns dann am Ende einmal allein zu retten vermag: nicht unser gerechtes, anständiges Leben, sondern allein die Gerechtigkeit, die Christus auch dir gleich wieder schenkt hier im Heiligen Mahl, die Gerechtigkeit, die er selber leibhaftig in Person ist, er, „der HERR unsere Gerechtigkeit“. Amen.