01.11.2010 | Offenbarung 7,9-17 | Gedenktag der Heiligen

An den Zahlen hängt alles. Das ist jedenfalls eine Erfahrung, die wir in den Diskussionen des Alltags immer wieder machen: Wenn Meinungsumfragen zeigen, dass eine Partei in der Wählergunst dramatisch an Zustimmung verliert, dann bricht in der Partei nach nicht langer Zeit in aller Regel die Panik aus, dann wird die Frage gestellt, was man verändern muss, damit die Zahlen wieder besser aussehen. Wenn Zahlen als Argumente eingebracht werden, dann kommt man dagegen kaum an, es sei denn, man hat andere Zahlen, mit denen man diese Zahlen widerlegen kann. Ja, an den Zahlen hängt alles, so erleben wir es in unserem Alltag immer wieder.
An den Zahlen hängt alles – von diesem Denken bleiben auch wir Christen, bleiben gerade auch wir Pastoren nicht unbeeinflusst und unbeeindruckt. Da können wir sagen, was wir wollen: Wenn wir als Christen mit unserer Meinung irgendwo ganz allein dastehen, wenn die große Mehrheit die Dinge ganz anders sieht als wir, dann geht uns das schon irgendwo an die Nieren. Ja, wir kennen sie, die Zweifel: So viele Leute um uns herum sehen die Dinge ganz anders als wir – wieso sollten ausgerechnet wir paar Hanseln denn da Recht haben und behalten? Und dann kratzt es uns eben doch, wenn wir sehen, dass da nur wenige Leute bei uns im Gottesdienst sitzen, wenn Statistiken ausweisen, dass unsere Gesamtkirche allmählich immer kleiner wird, dass die Umlagebeiträge an die Allgemeine Kirchenkasse allmählich kleiner werden, wenn wir zahlenmäßig in mancherlei Hinsicht schrumpfen. Ist das nicht ein Beweis dafür, dass da bei uns irgendwas nicht ganz richtig läuft?
Und da können wir dann noch so sehr im Brustton der Überzeugung erklären, dass uns Zahlen doch egal sind, dass die Wahrheit nicht an der Mehrheit hängt – die Erfahrung mit den Zahlen nagt eben doch so leicht an uns. Wie tröstlich ist es, dass uns Christus, unser Herr, da in unserer Schwachheit heute Abend kräftig aufhilft. Der macht uns in der Epistel des heutigen Abends nämlich deutlich, dass wir nicht in der Minderheit sind, sondern uns in der Tat auf der Seite der Mehrheit befinden. Der macht uns deutlich, dass wir keinesfalls zu einer schrumpfenden Kirche gehören, sondern zu einer Kirche, die immer und immer weiter wächst. Der macht uns deutlich, dass uns um Zustimmung für den Weg, den wir als Christen gehen, nicht bange sein muss, weil wir auf diesem Weg angefeuert werden von einer Schar, die so groß ist, dass alle statistischen Erhebungen, alle Versuche, sie noch irgendwie zahlenmäßig erfassen zu können, scheitern müssen. Nein, der Seher Johannes, der uns die Worte unserer heutigen Epistel als Trost schreibt, der trickst hier nicht herum, so, wie mitunter Angehörige eines verstorbenen Großonkels ein wenig herumtricksen, ihn noch ein paar Monate nach seinem Tod im Ohrensessel im Wohnzimmer weiter herumsitzen lassen, um auf die Art und Weise noch ein paar zusätzliche Rentenzahlungen vom Staat zu kassieren. Gewiss, die Schar, von der St. Johannes hier berichtet, die entzieht sich allen Volkszählungen hier auf Erden. Und doch zählen die Leute, die uns Johannes hier vor Augen stellt, mit, weil sie eben nicht tot sind, sondern leben, weil sie tatsächlich genauso zur Kirche Jesu Christi gehören wie wir auch. Ja, gestorben sind sie bereits, sind damit nicht länger rentenzahlungsberechtigt, tauchen damit auch nicht mehr in den Jahresstatistiken unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche auf, höchstens noch unter dem Punkt „Abgänge und Beerdigungen“. Doch sie bleiben dennoch Kirchglieder, nicht, weil man sie irgendwie übersehen hätte, sondern weil der Tod für diejenigen, die getauft sind, an ihrem Status nichts mehr zu ändern vermag: Sie sind und bleiben Glieder am Leib Christi, haben Teil an seinem Leben genauso wie wir auch.
Denke daran, wenn du den Eindruck hast, du stehst in deiner Umgebung mit deinem Glauben wieder mal ganz allein da. Du bist nicht allein; du bist eingebunden in eine Gemeinschaft, die so groß ist, dass man sie nicht mehr zählen kann. Denke daran, wenn du den Eindruck hast, die Kirche sei heute aber mal wieder nicht besonders voll: Du feierst den Gottesdienst in Wirklichkeit gemeinsam mit so vielen Menschen, dass deren Zahl all unsere kirchlichen Statistikbögen sprengt. Denke daran, wenn der Gesang, den du im Gottesdienst hörst, vielleicht mitunter ein wenig kümmerlich klingt: Dieser Gesang ist in Wirklichkeit nur eine Stimme unter unzählig anderen, die bereits vor dem Thron Gottes erklingen, und auch dieser eine, scheinbar so mickrige Gesang fügt sich wunderbar in diesen Gesamtchor ein. Denke daran, wenn du den Eindruck hast, es sterben in der Kirche immer mehr Leute weg. Die sind eben nicht weg, die haben nur den Gottesdienstort gewechselt. Jede Beerdigung ist für uns Christen in Wirklichkeit ein Gemeindewachstumstag, weil wir nicht ein Gemeindeglied verlieren, sondern es nur überweisen an unsere Muttergemeinde im Himmel.
Ja, Mut machen kann uns die Schar aller Heiligen im Himmel, dass wir aufhören mit dem Schielen auf unsere menschlichen Zahlenergebnisse. Die erfassen eben nur einen Bruchteil der Wirklichkeit, die sich mit Zahlen eben nicht mehr ausdrücken lässt.
Doch Mut macht uns nicht bloß die große Zahl der Heiligen und Vollendeten als solche. Mut macht uns auch der Weg, den sie gegangen sind. Wir mögen mitunter meinen, in unserem Leben liefe irgendetwas schief, wenn uns der Gegenwind ins Gesicht bläst, wenn uns Leid und Schicksalsschläge treffen. Die Heiligen und Vollendeten im Himmel weiten uns auch hier den Blick: Der Weg in den Himmel war auch für sie keine Wellnessveranstaltung, kein Spaziergang. Aus der großen Trübsal sind die gekommen, die Johannes hier vor dem Thron Gottes und vor dem Thron des Lammes erblickt. Und die große Trübsal, die Johannes hier vor Augen hat, besteht eben nicht bloß darin, dass sich ihre Hoffnungen auf zahlenmäßigen Erfolg in ihrer Gemeindearbeit nicht ganz so erfüllt haben. Die, die Johannes hier erblickt, die haben schon ganz Anderes durchgemacht, sind für ihren Glauben schikaniert worden, haben für ihren Glauben schließlich sogar in vielen Fällen ihr Leben lassen müssen. Ja, es ist gut, dass wir uns daran durch die Epistel des heutigen Festtags erinnern lassen: Wir jammern in unserem Leben oft genug auf recht hohem Niveau, haben es als Christen heutzutage in vielem so viel leichter als die Christen, an die Johannes damals die Worte seiner Offenbarung richtete. Und die, die am Ziel sind, rufen es von daher uns zu: Halte durch mit deinem Glauben, auch wenn so vieles dagegen zu sprechen scheint! Es lohnt sich allemal, den Weg weiterzugehen, ganz gleich, was für Nachteile auch damit verbunden sein mögen. Lasst euch durch nichts und niemand davon abbringen, bei Christus zu bleiben, in seiner Gegenwart zu leben, euch von ihm immer wieder beschenken zu lassen! Nein, ihr habt als Christen nicht die Verheißung, dass euer Leben durch den Glauben an Christus leichter und problemfreier wird. Aber ihr habt die Verheißung, dass der Weg, auf dem ihr als Christen geht, zu einem Ziel führt, das zu erreichen alle Nachteile, die ihr als Christen habt, allemal aufwiegt.
Und damit sind wir schon bei der dritten Ermutigung, die wir durch die Heiligen und Vollendeten erfahren: Sie lassen uns ein wenig erahnen von der Freude, die wir am Ziel unseres Lebens erfahren werden, von dem vollkommenen Glück, das uns dort erwartet. Gewiss, diese Freude lässt sich mit menschlichen Worten nur sehr ansatzweise beschreiben. Doch wir können ein wenig davon erahnen, was uns da am Ziel erwartet, wenn es dort weder Hunger noch Durst gibt, sondern Quellen lebendigen Wassers. Ja, wir können ein wenig davon erahnen, was uns da erwartet, wenn uns hier in unserer Epistel versprochen wird, dass Gott persönlich all unsere Tränen von unseren Augen abwischen wird. Du weißt um die Tränen, die du in deinem Leben vergießt, du weißt, was dich zu Boden drückt, dich weinen, ja dich vielleicht mitunter gar verzweifeln lässt. All diese Tränen, all diese Traurigkeit wird kein Geringerer als Gott selber von deinen Wangen abwischen, wird dich trösten, nein, nicht mit billigen Sprüchen, sondern mit der Teilhabe an einer Welt, in der es keinerlei Anlass mehr zum Weinen, zum Sorgen, zur Verzweiflung gibt.
Die Heiligen sind schon da am Ziel. Und wir – was ist mit uns? Wer sagt uns, dass wir dort auch einmal hinkommen? Der Älteste, den uns St. Johannes hier vor Augen stellt, der sagt es uns: Der sagt von denen, die dort am Ziel ankommen, sie hätten ihre Kleider hell gemacht im Blut des Lammes. Ein kühnes Bild ist das – seit wann macht Blut Kleider hell und nicht dunkel? Seit Christus am Kreuz gestorben ist, macht sein Blut Kleider hell, gibt sein Blut uns Anteil an seiner Gerechtigkeit, an seinem Leben. Ja, auch du hast diese Wäsche bereits hinter dir seit dem Tag deiner Taufe. Da hat Christus auch dein Kleid hell gemacht durch sein Blut, hat alles abgewaschen, was dich von Gott trennt, was dich daran hindern könnte, für immer in seiner Gemeinschaft zu leben. Zieh nur dieses Taufkleid nicht wieder aus, lass deine Taufe den großen Trost deines Lebens sein! Dann brauchen dich alle möglichen Zahlen, die deinen Glauben in Frage zu stellen drohen, die dich zu frustrieren drohen, nicht länger zu beeindrucken. Du bist schon verbunden mit der Schar, die niemand zählen kann, gehst auch dem Tag entgegen, an dem auch du einmal dort stehen wirst, wo sie jetzt schon stehen. Ja, das gilt für dich, so gewiss du jetzt schon ein Heiliger bist. Und das bist du doch schon – so gewiss du getauft bist! Amen.