17.02.2008 | Hebräer 11, 8-10 (Reminiszere)

REMINISZERE – 17. FEBRUAR 2008 – PREDIGT ÜBER HEBRÄER 11,8-10

Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wußte nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.

„Into the Wild“ – „In die Wildnis“, so heißt der neue Film des amerikanischen Regisseurs Sean Penn, der die Geschichte eines amerikanischen Studenten aus gutem Hause namens Christopher McCandless zeigt, der eines Tages aus der Gesellschaft, in der seine Karriere schon vorgezeichnet erscheint, ausbricht, sein ganzes Vermögen, das er hat, einer Hilfsorganisation spendet, und sich auf den Weg quer durch die USA bis nach Alaska begibt, wo er ganz allein für sich die Wahrheit, das wahre Leben finden möchte. Unterwegs begegnet er immer wieder anderen Aussteigern; doch niemand kann ihn aufhalten auf seinem Weg ins gelobte Land Alaska. Dort findet er in der atemberaubenden Natur am Ende jedoch nicht das wahre Leben, sondern dort stirbt er am Ende einen jämmerlichen Tod: Er verhungert. Der Film beruht auf einer wahren Geschichte, die sich vor zwanzig Jahren ereignet hat; er bewegt nicht nur wegen seiner schönen Landschaftsaufnahmen, sondern nicht zuletzt, weil er einen Menschen zeigt, der radikal umgesetzt hat, wovon Menschen an manchen Stellen in ihrem Leben immer wieder einmal träumen mögen: Ausbrechen zu dürfen aus den vorgezeichneten Wegen des Lebens, nicht gelebt zu werden, sondern selber zu leben. Und der Film bewegt, weil er gerade kein kitschiges Happy End hat, sondern zeigt, wie brutal die Natur selber den Wunsch eines Menschen zunichte macht, in ihr das wahre Leben finden zu können.
Eine Aussteigergeschichte wird uns auch in der Predigtlesung des heutigen Sonntags Reminiszere erzählt: die Geschichte von einem Menschen, der wohl auch zum Entsetzen seiner Umgebung, seiner Familie sein vertrautes Umfeld verlässt und loszieht, wobei er im Unterschied zu Christopher McCandless noch nicht einmal weiß, wo es eigentlich hingehen soll. Diese Geschichte endet im Unterschied zu der Geschichte von dem jungen Studenten jedoch nicht tragisch: Abraham stirbt am Ende alt und lebenssatt; er scheitert nicht, sondern findet am Ende sogar durch den Tod hindurch die Erfüllung seines Lebens.
Um eines gleich von vornherein klarzustellen: Gott fordert euch mit der heutigen Predigtlesung nicht dazu auf, gleich nach dem Gottesdienst eure Krankenversicherung zu kündigen, eure Sachen zu packen und euch irgendwo in die Pampa zu begeben, die hier in Deutschland ja auch gar nicht so einfach zu finden ist. Wohl aber macht uns der Hebräerbrief hier deutlich, dass wir auch als Christen alle miteinander Aussteiger sind und entsprechend auch genau das leben sollen, was wir sind: Eine Schar von Menschen, die von Gott aus dieser Welt herausgerufen sind, auf Griechisch heißt das: ekklesia, auf Deutsch: Kirche. Was heißt das also für uns, dass wir als Christen Aussteiger sind und als Aussteiger leben? Es heißt, so zeigt es der Hebräerbrief hier,

- Gehorsam einzuüben
- Ausländer zu bleiben
- warten zu können.

I.

Den Abraham hatte damals nicht die Sehnsucht nach einem Öko-Bauernhof überkommen, als er sich eines Tages mit seiner Frau und seinem beweglichen Hab und Gut auf den Weg aus Haran machte. Nichts wird uns in der Heiligen Schrift davon berichtet, dass er sich dort in Haran etwa unwohl gefühlt hätte. Nein, das Einzige, was Abraham zu diesem scheinbar irrsinnigen Schritt veranlasste, seine vertraute Umgebung zu verlassen und sich auf einen Weg zu begeben, dessen Ziel er selber nicht kannte, das Einzige, was Abraham zu diesem irrsinnigen Schritt veranlasste, war das Wort Gottes, war sein Ruf: Gott hatte ihm gesagt, dass er sein Vaterhaus, seine Familie, seine Verwandtschaft verlassen und losziehen sollte – das reichte als Argument. Das reichte sogar als Argument dafür, dass er loszog, obwohl er selber gar nicht wusste, wohin die Reise eigentlich gehen sollte. Für total durchgeknallt werden die Freunde und Verwandten den Abraham damals gehalten haben, dass er da loszog, ohne ihnen erklären zu können, wo er sich denn nun stattdessen niederlassen würde. Was war denn schon dieser angebliche Ruf von Gott im Vergleich zu den ganz handfesten Vorteilen, die er mit seinem Wegzug aus Haran preisgab?
Wie gesagt: Unsere Predigtlesung fordert euch nicht dazu auf, hier aus Berlin wegzuziehen. Ich bin im Gegenteil heilfroh, wenn ihr hier wohnen bleibt. Aber Aussteiger seid ihr dennoch, seit dem Tag eurer heiligen Taufe, als auch in eurem Leben ein Herrschaftswechsel stattfand, als Christus das Kommando über euer Leben übernahm. Da hat er auch für euch begonnen, der Weg zu einem Ziel, das ihr im Augenblick auch noch nicht sehen und erkennen könnt. Und auf dem Weg zu diesem Ziel ist auch für euch dies eine entscheidend wichtig: Gehorsam einzuüben.
„Gehorsam“ – dieses Wort hat heute in unserer Gesellschaft keinen positiven Klang mehr. Wir wollen nicht gehorchen, wir wollen selber entscheiden, was für uns gut und richtig ist, und wenn uns jemand mit guten Argumenten überzeugt, dann sind wir ja durchaus dazu bereit, diesen Argumenten zu folgen. Aber dass wir einfach etwas tun, nur weil ein anderer es uns sagt – das möchten wir nicht gerne, das sehen wir gar nicht ein. Nun möchte ich diese Entwicklung in unserer Gesellschaft auch gar nicht beklagen; im Gegenteil: Dass wir uns die eigene Meinungsbildung nicht abnehmen lassen wollen, ist gewiss eine gute Sache, und auch Eltern tun gut daran, die Kinder, je älter sie werden, immer mehr mit Argumenten zu überzeugen, statt einfach nur darauf zu pochen, die Kinder hätten ihnen zu gehorchen.
Doch bei Gott ist das etwas anderes: Während Menschen immer eine beschränkte Wahrnehmung der Dinge haben und sich irren können, weiß Gott ganz genau, was für uns gut und richtig ist, und wenn er uns das in seinem Wort sagt, dann ist in der Tat Gehorsam die einzig richtige Haltung auf unserer Seite, auch wenn dieser Gehorsam natürlich selber aus der Liebe und dem Vertrauen zu Gott erwächst, dass er es wohlmachen wird.
Eigentlich ist das ja ganz logisch, dass es richtig ist, Gott zu gehorchen. Eigentlich wissen wir es ja genau, dass es beknackt wäre, zu denken, wir könnten etwas besser wissen als Gott. Aber in der Praxis sieht das alles dann doch nicht so einfach aus, denn auch wir können ja so wenig davon sehen, dass Gott Recht hat in dem, was er uns sagt. Da geht es uns genau wie dem Abraham damals auch: Da haben die anderen scheinbar doch die viel näherliegenden, einleuchtenderen Argumente, weshalb das doch Blödsinn ist, an dem festzuhalten, was Gott sagt. Und wir – was können wir dem entgegenhalten? Dass Gott es nun mal gesagt hat, mehr nicht.  Da machen wir uns allen Ernstes am schönen Sonntagausschlafmorgen auf den Weg hierher in die Kirche. Und weshalb? Nur weil Gott es gesagt hat, weil er uns einlädt, weil er uns sagt, dass das für uns gut und wichtig ist. Und deshalb kommen wir hierher, selbst wenn der Gottesdienst mal eine Viertelstunde länger dauert, einfach, weil Gott es gesagt hat. Da halten wir auch an unbequemen Mahnungen und Weisungen in der Heiligen Schrift fest, auch wenn noch so viele tönen, das könne man doch heute nicht mehr sagen, das sei doch nicht mehr zeitgemäß, das müsse man doch den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen anpassen. Nein, da machen wir nicht mit, schlicht und einfach, weil wir daran festhalten, dass die Heilige Schrift Gottes Wort ist, dass wir sie nicht nach unseren Vorstellungen umdeuten können, sondern ihr zu gehorchen haben, auch wenn uns das mal nicht passt. Da halten wir daran fest, dass es uns nicht erlaubt ist, das Leben eines Menschen, sei er schon geboren oder noch nicht, sei er geistig zurechnungsfähig oder nicht, sei er ein Pflegefall oder nicht, zu beenden. Und wenn uns dann alle möglichen Argumente vorgetragen werden, weshalb es in dem einen oder dem anderen Fall doch sinnvoll und gut und nützlich sein könnte, eben doch das Leben eines Menschen vorzeitig zu beenden, und dass doch auch die Mehrheit der Bevölkerung dies mittlerweile so sieht, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als auf das zu verweisen, was Gott selber gesagt hat: Du sollst nicht töten! Und da mögen wir in unserem Leben von so manchem Schicksalsschlag heimgesucht worden sein, dass es doch scheinbar offensichtlich ist, dass es keinen Zweck hat, an einen Gott zu glauben, der dies alles zulässt. Doch wir halten dennoch an ihm fest, nicht weil wir es verstehen würden, warum er uns so führt, sondern einfach im Vertrauen darauf, dass Gott weiß, warum dieser Weg für uns in unserem Leben der richtige ist, warum er uns dies alles erfahren lässt. Ja, solchen Gehorsam einzuüben, ist nicht leicht. Doch eben darum stellt uns der Verfasser des Hebräerbriefs hier den Abraham vor Augen, um uns zu ermutigen, es ihm nachzutun, Gottes Wort höher zu achten als all die scheinbar so einleuchtenden Gegenargumente, und uns so immer wieder auf den Weg zu machen, im Vertrauen darauf, dass Gott weiß, was er sagt und was er tut.

II.

Und dann kam der Abraham nach seiner langen Wanderschaft endlich in dem Land an, das Gott ihm und seinen Nachkommen versprochen hatte. Doch, so betont es der Hebräerbrief, er nahm dieses Land nicht gleich in Besitz, baute sich da nicht gleich ein schönes Haus, zog auch nicht in die Städte der einheimischen Bevölkerung und passte sich ihnen dort an, sondern er blieb dort im eigenen Land ein Fremdling, einer, der dort nicht sesshaft wurde, sondern weiter in Zelten wohnte. Ein Aussteiger blieb Abraham so sein ganzes Leben lang.
Was für ein schönes, eindrückliches Beispiel ist das auch für unser Leben als Christen! Ja, wir sind, im Bilde gesprochen, angekommen hier in dieser Welt, hier in unserem Land. Doch als Christen bleiben wir in jeder Gesellschaft letztlich eben doch Ausländer, Fremdlinge, Leute, die darum wissen, dass sie ihre Heimat nicht darin finden können, dass sie sich einfach an das anpassen, was alle anderen in der Umgebung auch tun. Ja, als Christen sind und bleiben wir anders als andere Menschen, machen wir uns nichts vor: Während sonst so viele Menschen sich an das klammern, was sie jetzt und hier in ihrem Leben auf dieser Erde bekommen können, während es für so viele Menschen das Wichtigste ist, genug Geld zu haben, um sich dieses oder jenes leisten zu können, leben wir als Christen, im Bilde gesprochen, immer nur in Zelten. Wir wissen: Was wir auf dieser Erde bekommen können, das ist nicht das Wichtigste, das ist nicht das Entscheidende in unserem Leben. Das soll und darf uns vor allem nicht daran hindern, auf unserem Weg immer weiterzuziehen hin aufs Ziel unseres Lebens. Und da können wir dann auch gut loslassen, abgeben, weil daran nicht unser Herz hängt, brauchen wir nicht alles, was „man“ doch braucht, was alle anderen doch auch haben. Und da mögen wir in den Augen anderer dann tatsächlich so wirken, als seien wir nicht ganz von dieser Welt, wenn uns das doch nicht das Wichtigste ist, was für so viele doch das Wichtigste ist und bleibt. Nein, sie können oftmals nicht verstehen, dass wir einen Schatz haben, der uns unendlich mehr bedeutet als alles Gut und Geld dieser Welt; sie können oftmals nicht verstehen, was es uns bedeutet, uns im Heiligen Abendmahl immer wieder die Kraft zu holen, die wir für unser Leben brauchen; sie können oftmals nicht verstehen, dass wir den Tod aus unserem Leben nicht verdrängen müssen, sondern ihm getrost entgegenblicken können, weil wir wissen, dass er für uns das Durchgangstor ist zum ewigen Leben. Nein, wir sollen als Christen nicht den Christopher McCandless spielen, uns aus dieser Welt ausklinken, mit anderen Menschen gar nichts mehr zu tun haben wollen. Wir leben in dieser Welt, haben als Christen gerade den Auftrag, für andere Menschen da zu sein und mit unserem Leben Zeugnis abzulegen von der Hoffnung, die wir als Christen haben. Aber wundern wir uns nicht, wenn wir von den anderen dann trotzdem als Ausländer wahrgenommen werden. Denn so schön es hier auf Erden, bei uns in unserem Leben auch sein mag: Hier ist nicht unser Zuhause.

III.

Und damit sind wir schon beim Dritten, was uns der Hebräerbrief hier vor Augen stellt: Dass wir als Christen Aussteiger sind, heißt für uns auch, dass wir warten können.
Steinalt geworden ist der Abraham schließlich und ist dabei sein Leben lang ein Nomade geblieben. Er konnte warten, er musste nicht sesshaft werden, denn er wusste: Am Ende meines Lebens komme ich eben doch in eine Stadt, in der ich für immer zu Hause sein werde, in die Stadt Gottes, aus der ich nie mehr werde ausziehen müssen, in eine Stadt, die nie mehr zerstört werden kann, weil sie einen festen Grund hat, weil ihr Baumeister und Schöpfer Gott selber ist, wie es der Hebräerbrief hier formuliert.
Der Christopher McCandless konnte und wollte damals nicht warten. Er wollte die Erfüllung seines Lebens jetzt und hier sofort finden, wollte es in seine eigene Hand nehmen, das Paradies auf Erden zu finden. Doch genau mit diesem Wunsch ist er am Ende gescheitert, ja zugrunde gegangen. Sein Schicksal ist gewiss spektakulär und eignet sich von daher auch besonders für eine Verfilmung. Doch letztlich ergeht es allen Menschen, die die letzte Erfüllung ihres Lebens hier und jetzt auf Erden finden wollen, nicht anders als Christopher McCandless: Am Ende steht für sie doch nur der Tod, der alle Pläne, der alle Träume zunichtemacht, der ihnen letztlich alles aus der  Hand nimmt, woran sie sich geklammert haben, was ihr Leben aus ihrer Sicht ausgemacht hat.
Als Christen jedoch können wir warten, wie der Abraham damals auch. Ja, wir können und dürfen unser Leben hier auf Erden durchaus genießen. Aber das können und dürfen wir gerade deshalb, weil wir wissen, dass das nicht alles ist, weil wir wissen, was uns bevorsteht und was bleibt, selbst wenn uns hier alles genommen wird, was uns hier auf Erden etwas bedeutete, selbst wenn wir selber einmal sterben müssen. Ja, das Beste steht uns noch bevor; auf das Beste dürfen wir uns immer noch freuen: Darauf, dass auch wir einmal endgültig zu Hause ankommen werden, in Gottes Stadt, in dem neuen Jerusalem, aus dem wir nie mehr werden ausziehen müssen, aus dem uns niemand mehr vertreiben kann. Dort dürfen wir schon jetzt all diejenigen wissen, die uns im Glauben an Christus vorangegangen sind; dort sind sie jetzt schon bei Gott geborgen. Und wir, wir werden dort auch einmal ankommen, dann, wann Gott es will, wann er uns dorthin rufen wird. Nein, diese Stadt läuft uns nicht weg; sie wird auch nicht eines Tages wegen Überfüllung geschlossen werden. Im Gegenteil: Für uns ist dort schon eine Wohnung reserviert seit dem Tag unserer Heiligen Taufe.
Und eben darum können wir hier auf Erden ganz fröhlich weiterleben als Aussteiger, als Menschen, die dankbar annehmen, was ihnen hier und jetzt von Gott geschenkt wird, und die doch am Ende nichts hält, wenn es auf den letzten Weg in die Heimat geht. Und damit uns das Warten nicht zu lang wird, lädt uns Christus eben immer von Neuem ein an seinen Altar zu seinem Mahl. Da hat unser Warten immer schon ein Ende, da dürfen wir schon etwas von der Erfüllung schmecken und sehen, wenn wir die Speise des Himmels, den Leib und das Blut unseres Herrn, empfangen. Da schenkt uns Christus den Mut, immer weiter zu marschieren – nein, nicht in die Wildnis, sondern in die Stadt, nicht in die Einsamkeit, sondern in die vollkommene Gemeinschaft, dorthin, wo wir nicht bloß uns selber finden, sondern Gott selber sehen werden. Darum, Schwestern und Brüder, bleibt nicht stehen, kommt mit auf dem Weg zu diesem Ziel. Es geht nach Hause! Amen.