09.03.2008 | Hebräer 13, 12-14 (Judika)

JUDIKA – 9. MÄRZ 2008 – PREDIGT ÜBER HEBRÄER 13,12-14

Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So laßt uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Neulich haben wir ganz groß in der Zeitung gestanden: mit einem Riesenfoto eines grinsenden Pastors in Farbe, mit einem äußerst positiv gehaltenen Bericht über die Entwicklung unserer Gemeinde und mit dem vollständigen Programm unseres Kirchweihfestwochenendes – und das alles nicht bloß in einem Lokalblättchen, sondern immerhin in der BERLINER MORGENPOST. Und wer ist dann nicht alles gekommen zu unserem großen Fest: eine Bundestagsabgeordnete hat einen Vortrag gehalten, eine Bezirksstadträtin hat ein Grußwort gesprochen, ein Vertreter der Ökumene fand freundliche Worte über unsere Gemeinde, unser Bischof hat uns besucht, eine ganze Reihe von Menschen aus der Nachbarschaft nutzte die Chance, am Festwochenende bei uns vorbeizuschauen, und am Sonntag waren wir immerhin knapp 300 Leute in der Kirche: Ja, wir sind wer in der öffentlichen Wahrnehmung, auch in Steglitz, so können wir es befriedigt nach den Ereignissen des vergangenen Wochenendes feststellen.
Doch nun kommt heute Morgen gleich anschließend scheinbar die kalte Dusche in Form der Predigtlesung des heutigen Sonntags: Da fordert der Verfasser des Hebräerbriefes die Christen, an die er seinen Brief schreibt, nicht dazu auf, sich öffentlichkeitswirksamer als bisher zu präsentieren, zu zeigen, dass sie mitten drinstehen in der Gesellschaft, sondern er fordert sie dazu auf, hinauszugehen, ihre gesellschaftlichen Bindungen zu verlassen, fordert sie dazu auf, die Schmach Christi zu tragen. Kein Wort von grinsenden Pastoren in der Zeitung, kein Wort von Vertretern des Staates, die der christlichen Gemeinde ihre Aufwartung machen. Mensch, haben wir vielleicht am letzten Wochenende alles falsch gemacht? Wäre es vielleicht doch besser gewesen, wenn wir unser Kirchweihjubiläum ganz still und leise gefeiert hätten – so, dass es auch ja kein anderer mitbekommt, schön zurückgezogen aus der Umgebung, in der wir leben?
Brüder und Schwestern, dies eine müssen wir in der Tat erst einmal ganz nüchtern festhalten: Die Christen, an die der Hebräerbrief damals gerichtet war, lebten in einer ganz anderen Situation als wir heute. Ihre Gemeinden hatten nicht den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts; stattdessen mussten die Christen jederzeit mit allen möglichen Schikanen rechnen – vonseiten ihrer unmittelbaren Umgebung und auch vonseiten des Staates. Als kleine Gruppe von verrückten Spinnern wurden sie oftmals angesehen – und erst recht angefeindet, wenn sie, die Christen, nicht bei allem mitmachten, was man damals eben so machte. Doch nun eröffnete sich ihnen, den Christen, da anscheinend eine ganz wunderbare Möglichkeit, wie sie in Zukunft solche Schikanen und Anfeindungen vermeiden konnten: Sie mussten sich einfach nur unter den Schutz des jüdischen Synagogenverbandes in Rom begeben. Denn das Judentum war eine offiziell anerkannte Religion; wer dazu gehörte, der blieb vom Staat und zumeist auch von der Umgebung unbehelligt. Viel erwartet wurde dafür von den Christen nicht. Sie mussten einfach nur erklären, dass ihr christlicher Glaube ein wenig defizitär sei, dass er der Ergänzung bedürfe durch die Einhaltung von jüdischen Gesetzesbestimmungen, durch die Teilnahme an den Riten, die im Judentum der damaligen Zeit üblich waren. Die Synagogen wären da auch sehr tolerant gewesen, hätten das durchaus mit dem Glauben an Jesus akzeptiert, hätten noch nicht einmal die Beschneidung verlangt. Man musste einfach nur so eine Art von Mischreligion anerkennen, mit etwas Jesus und der gleichzeitigen Anerkennung der Überlegenheit des jüdischen Glaubens. Dann hätte man Ruhe gehabt, hätte sich auch gesellschaftlich ganz anders entfalten können. Doch genau davor warnt nun der Verfasser des Hebräerbriefes die Christen ganz eindrücklich: Wer nicht sein Heil ganz und gar bei Christus und in Christus sucht, sondern meint, an dieses Heil irgendwie auch noch auf anderen Wegen herankommen zu können, wem gesellschaftliche Anerkennung wichtiger ist, als bei dem zu bleiben, was Christus für uns getan hat, der verspielt damit genau dieses Heil, das Christus allein für uns erworben hat. Nein, hier geht es nicht um religiöse Geschmacksfragen, nicht um Taktik, sondern um unser Heil, um unsere Rettung, so macht es der Hebräerbrief deutlich.
Schwestern und Brüder, ich wiederhole es noch einmal: Wir leben heute in einer ganz anderen Situation als die Christen damals in Rom in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts. Wir werden nicht verfolgt, sondern kommen in die Zeitung, und wir sind nicht versucht, uns unter den Schutz jüdischer Synagogengemeinden zu begeben, sondern müssen uns umgekehrt beschämt daran erinnern, dass Juden in unserem Land im vergangenen Jahrhundert oft genug vergeblich darauf gehofft haben, von uns Christen Schutz und Hilfe zu erfahren, als ihr Leben noch viel stärker bedroht war als das Leben der Christen damals. Insofern können wir die Worte des Hebräerbriefes nicht einfach auf uns übertragen. Und doch sind diese Worte unserer heutigen Predigtlesung eben nicht bloß ein interessantes historisches Dokument aus vergangener Zeit, sondern auch für uns eine ganz wichtige Hilfe, um uns selber als St. Mariengemeinde im Jahr 2008 besser verstehen zu können. Ja, die Worte des Hebräerbriefes schärfen unseren Blick

- für die Botschaft, die wir verkündigen
- für die Privilegien, die wir haben
- für die Perspektiven, die sich uns bieten.

I.

Von einer Sondermüllentsorgung spricht der Hebräerbrief hier zunächst einmal in unseren Versen. In dem Vers, der unserer Predigtlesung unmittelbar vorangeht, hatte er Bezug genommen auf eine Bestimmung aus dem 3. Buch Mose: Danach sollten der junge Stier und der Bock, die man zur Sühne für das Volk am Großen Versöhnungstag geopfert hatte, vor das Lager geschafft werden und dort mit Feuer verbrannt werden samt Fell, Fleisch und Mist. Der Stier und der Bock, sie waren gleichsam verseucht von der Sünde des Volkes, die nun auf ihnen lag, und darum mussten sie gründlich entsorgt werden draußen vor dem Lager, damit ja niemand mit diesem Sündensondermüll noch einmal in Kontakt kam.
Und nun schlägt hier der Hebräerbrief zu Beginn unserer Predigtlesung einen geradezu atemberaubenden Bogen: Er sagt: Unser Sündensondermüll hat einen Namen, und der Name dieses Sondermülls lautet: Jesus. Der war durch die Schuld, die er trug, so verseucht, dass man den nur noch draußen vor die Stadt befördern konnte, auf die städtische Müllkippe namens Golgatha.
Jesus – ein Fall für die Müllentsorgung? Ich weiß, Schwestern und Brüder, das klingt für uns zutiefst geschmacklos. So kann man doch nicht über Jesus reden, auch nicht über seine Kreuzigung. Etwas mehr Würde und Respekt vor diesem Geschehen wäre da ja wohl doch angemessen! Nun geht es dem Hebräerbrief ja auch in keiner Weise darum, etwa den Kreuzestod Jesu lächerlich zu machen oder ihn zu banalisieren. Im Gegenteil: Er möchte ja gerade dies eine erreichen, dass wir den Kreuzestod Jesu nicht verharmlosen und schönreden. Was hat man aus dem Kreuz Jesu im Laufe der Zeit nicht alles gemacht: ein Schmuckstück, das man sich um den Hals hängt, um modisch gestylt zu erscheinen; ein Symbol für die Bewahrung konservativer Werte in unserer Bundesrepublik; ein Symbol für die Einheit der Schöpfung und ihrer vier Elemente; ein schöner Kunstgegenstand. Nein, nein und noch einmal nein, sagt der Hebräerbrief. Darum geht es beim Kreuz Christi gerade nicht. Das Kreuz ist eine dreckige, stinkende Angelegenheit, ein übles Folterinstrument, wogegen selbst noch der Elektrische Stuhl als Ausdruck humaner Gesinnung erscheint. Auf einer Müllkippe ist Jesus gestorben, von dicken Nägeln durchbohrt, am Ende jämmerlich erstickt, um nicht zu sagen: krepiert, damit uns nichts mehr von Gott trennt, damit unser Leben nicht mit der Entsorgung unseres Leichnams endgültig vorbei ist.
Und genau das und nichts Anderes ist das Zentrum unserer christlichen Botschaft: Dass wir glauben, dass der, der da draußen vor den Stadttoren auf einer Müllkippe hingerichtet wurde, unser Gott und Herr ist, dass unser Heil darin begründet liegt, dass Jesus sich als Sondermüll, als Sündensondermüll hat behandeln lassen, auf alle Würde, auf allen menschlichen Respekt verzichtet hat, damit wir wieder zu Gott gehören und in seiner Gemeinschaft leben dürfen, damit wir  „geheiligt“ werden, wie der Hebräerbrief es hier mit einem Fachwort beschreibt. Ja, es ist gut, wenn du ein Kreuz um deinen Hals trägst, wenn dich dieses Kreuz an deine Taufe und an deinen Herrn erinnert. Aber vergiss nie, was du damit eigentlich machst: Du bekennst dich zu einem Herrn, den die Menschen wie den letzten Dreck behandelt haben und bis heute immer wieder behandeln. Du bekennst dich zu ihm und stellst dich damit an seine Seite. Ja, es ist gut, wenn wir im Gottesdienst ein Kreuz, ja einen Kruzifixus vor Augen haben. Aber kommen wir ja nicht auf die Idee, diesen Kruzifixus einfach nur schön zu finden, gewöhnen wir uns nie an diesen Anblick, sondern lassen wir uns von ihm immer wieder auch erschrecken. Ja, es wäre gar nicht so schlecht, wenn wir beim Anblick des Kreuzes immer auch ein wenig von dem Gestank wahrnehmen würden, den Jesus damals hat aushalten müssen, von dem Gestank unserer Sünde und Schuld!

II.

Ein Zweites kann unsere heutige Predigtlesung aus dem Hebräerbrief bei uns bewirken: Sie kann unseren Blick schärfen für die Privilegien, die wir besitzen.
Um eines gleich klarzustellen: Der Hebräerbrief sagt hier nicht, dass wir als Christen, als Kirche grundsätzlich keine Privilegien in Anspruch nehmen dürfen, dass wir alles tun müssen, was wir nur können, um von den Leuten in unserer Umgebung angefeindet und beschimpft zu werden, dass wir ja nicht auf die Idee kommen dürfen, uns in unserer Umgebung irgendwie positiv darzustellen. Darum geht es hier nicht. Wohl aber geht es dem Hebräerbrief um zweierlei:
Zum einen geht es ihm darum, dass wir uns immer fragen sollten, ob wir für die Privilegien, die wir haben, irgendwelche Kompromisse eingehen mussten und müssen, die mit unserem Bekenntnis zu Christus nicht zu vereinbaren sind. Solche Privilegien dürften wir natürlich nicht in Anspruch nehmen. Wenn der Staat zum Beispiel verlangen würde, dass ich ihm meine Predigten vorher vorlegen und sie von ihm genehmigen lassen müsste, damit wir als Körperschaft des öffentlichen Rechtes anerkannt bleiben, dann müssten wir wohl auf die Körperschaftsrechte verzichten. Oder wenn der Staat verlangen würde, dass er entscheiden dürfe, wer in unserer Kirche ordiniert wird und wer nicht, dann müssten wir wohl auch auf diese Anerkennung durch den Staat verzichten, wenn er sie davon abhängig macht. Dann heißt es im Zweifelsfall: hinausgehen aus dem Lager zu ihm, Christus. Die Väter und Mütter unserer lutherischen Kirche haben das im 19. Jahrhundert erfahren, als sie vom Staat verfolgt wurden, weil sie nicht bereit waren, sich vom König vorschreiben zu lassen, was sie glauben sollten. Da hieß es ebenfalls: hinausgehen aus dem Lager.
Nein, in solchen Zeit leben wir jedenfalls im Augenblick nicht. Aber wir sollten uns zum andern jedenfalls auch klar machen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir solche Privilegien haben, dass es für uns hier in Deutschland zurzeit so einfach ist, als Christen, als lutherische Kirche zu leben. Die meisten Christen auf dieser Welt haben es nicht so einfach. Ich denke etwa an die koptischen Christen in Ägypten. Da gibt es viele junge Männer, die sich das Kreuzeszeichen auf den Unterarm tätowieren lassen, damit sie auch ja nicht in Versuchung kommen, im Zweifelsfall ihren Glauben an Christus zu verleugnen. Und wenn man sich zu dem bekennt, kann es einem auch schon mal passieren, dass man dafür totgeschlagen wird. Ich denke an die Christen im Irak, die zurzeit in großem Stil aus ihrem Land vertrieben werden, wenn sie nicht zum Islam konvertieren, und doch in keinem Nachbarland dauerhafte Aufnahme finden. Ich denke an viele Christen in Indien, die zunehmend Verfolgungen durch fanatische Hindus ausgesetzt sind. Wie groß ist für sie alle die Versuchung, dem Druck nachzugeben, und wie schwer ist es für sie stattdessen, zu Christus hinauszugehen aus dem Lager, beschimpft, bedroht, angegriffen zu werden! Nein, Schwestern und Brüder, wenn ich an diese Brüder und Schwestern denke, dann fällt es mir schwer, mir Situationen vorzustellen, in denen wir ernsthaft die Schmach Christi hier in unserem Land tragen müssten, in vergleichbarer Weise den Ausschluss aus der Gesellschaft erfahren würden, wenn wir uns zu Christus bekennen. Die blöden Sprüche in der Schule oder am Arbeitsplatz, das frühe Aufstehen am Sonntagmorgen, der Verzicht auf den einen oder anderen Termin, den wir gerne wahrgenommen hätten, der lange Weg zur Kirche – ach, wie viele Christen würden sich solche Probleme wünschen! Seien wir darum dankbar, dass wir es als Christen hier in Deutschland so einfach haben, nutzen wir die Gelegenheit, unseren Glauben so problemlos leben und praktizieren zu können, und lassen wir uns durch die Christen in anderen Teilen der Welt dazu ermutigen, unseren Glauben auch konsequent zu leben und uns nicht durch alle möglichen Problemchen davon abhalten zu lassen. Und vergessen wir auch nicht, für die Christen immer wieder die Hände zu falten, die Tag für Tag erfahren, was es heißt, aus dem Lager hinauszugehen und Christi Schmach zu tragen!

III.

Ein Drittes stellt uns der Hebräerbrief hier schließlich noch vor Augen: Er schärft uns den Blick für die Perspektiven, die sich uns bieten.
Gerade weil es uns als Gemeinde so gut geht, könnten wir ja meinen, es könnte bei uns eigentlich auch künftig alles immer so bleiben, wie es immer schon war. Was den Inhalt unserer Verkündigung, was die Feier der Sakramente angeht, ist das auch sicher richtig. Aber daneben gibt es auch im Leben einer Gemeinde viel Vergängliches, vieles, was seine Zeit hat und dann auch wieder durch Neues abgelöst wird. Nein, wir sind kein Traditionsverein, der nur darauf ausgerichtet ist, Vergangenes zu bewahren. Im Gegenteil, so zeigt es uns der Hebräerbrief: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Als Gemeinde sind wir immer unterwegs, dem Ziel, der neuen Stadt Jerusalem entgegen. Und auf dem Weg zum Ziel werden wir immer wieder auch Vertrautes zurücklassen und Neues entdecken. Was hat sich in unserer Gemeinde nicht alles allein in den letzten fünfzehn Jahren verändert! Ja, das dürfen wir ganz fröhlich feststellen, denn wir kleben nicht am Vergangenen. Was zählt, ist allein, was vor uns liegt, was zählt, ist allein, dass wir möglichst viele Menschen auf dem Weg zu diesem Ziel mitnehmen können. Gewiss, wir werden nicht leichtfertig Vertrautes über Bord schmeißen. Wir wissen darum, dass wir nicht klüger sind als unsere Vorfahren, und wir wissen auch darum, dass wir nicht die ersten Christen sind, sondern gut daran tun, etwa in unseren Gottesdiensten nicht die Verbindung zur Kirche aller Zeiten zu kappen. Aber zugleich sollen und dürfen wir es uns immer vor Augen halten: Wir haben hier keine bleibende Stadt. Wir sind und bleiben als Kirche unterwegs, ihm, dem gekreuzigten Christus, nach. Es mag sein, dass wir als einzelne Christen, als Gemeinde, als Kirche in Zukunft auch manche einsamen Wege werden gehen müssen, dass der Weg, der vor uns liegt, nicht unbedingt einem Triumphzug gleichen wird. Wichtig ist nur, dass wir uns nicht aufhalten lassen, dass für uns allein dies eine zählt: dass wir bei ihm, Christus, bleiben. Welche Kirchweihjubiläen wir dann künftig noch werden feiern können, das ist gar nicht so wichtig. Hauptsache, wir sammeln uns auch künftig stets um ihn, unseren Herrn – wenn es sein muss, auch draußen vor dem Tor! Amen.