12.03.2008 | St. Johannes 14, 19b (5. Fastenpredigt: „Vom Ziel des Lebens“)

MITTWOCH NACH JUDIKA – 12. MÄRZ 2008 - 5. FASTENPREDIGT ÜBER ST. JOHANNES 14,19b: „VOM ZIEL DES LEBENS“

Jesus Christus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben.

Noch einmal soll es heute in dieser letzten Fastenpredigt um das Thema „Leben“ gehen. Von unterschiedlichen Seiten haben wir uns diesem Thema in den letzten Wochen genähert, hatten vom Ursprung und vom Ende des Lebens, von der Teilhabe am Leben und dem Inhalt des Lebens gesprochen. Nun soll heute zum Abschluss vom Ziel des Lebens die Rede sein.
Wenn wir vom Ziel des Lebens sprechen, dann meinen wir damit noch einmal etwas Anderes, als wenn wir vom Ende des Lebens gesprochen haben. „Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat“, so übersetzt Martin Luther im 39. Psalm. Wörtlich heißt es im Hebräischen: dass meine Tage ein Maß haben. Doch Luther übersetzt hier gleichsam vom Neuen Testament her, macht aus dem Maß der Tage das Ziel des Lebens. Mein Leben verläuft nicht einfach ungezielt immer weiter, bis es durch den Tod schließlich ein abruptes Ende erfährt, sondern für mich als Christ ist mein Leben zielgerichtet, erhält von diesem Ziel erst seinen tiefsten Sinn.
Worauf läuft mein Leben also hinaus? Nein, es läuft nicht einfach darauf hinaus, dass ich nach dem Tod irgendwie weiterlebe, sondern es läuft hinaus auf meine Verantwortung vor Gott im letzten Gericht. Das ist der Zielpunkt meines Lebens, ein Zielpunkt, der von so vielen Menschen heutzutage gerne verdrängt und beiseite geschoben wird. Gewiss, irgendwo steckt in uns Menschen eine Ahnung von diesem Zielpunkt unseres Lebens drin. Wir Menschen können es nicht ertragen, schuldig zu sein oder als schuldig angesehen zu werden. Alles tun wir, was uns möglich ist, um nachzuweisen, dass wir unschuldig sind, dass die Schuld nicht bei uns, sondern bei anderen liegt. Ein merkwürdiges Verlangen danach, uns immer wieder selbst rechtfertigen zu wollen, treibt uns Menschen umher, ein Verlangen, das letztlich nur dann einen Sinn hat, wenn es da jemanden gibt, vor dem wir uns zu rechtfertigen haben, der uns einmal nach unserem Leben fragen, uns dafür zur Rechenschaft ziehen wird. In vielen Fällen wird dieses Ziel, das sich in unseren Selbstrechtfertigungsversuchen Ausdruck verschafft, allerdings überhaupt nicht näher reflektiert – und wo denn vom Gericht die Rede ist, geschieht dies in aller Regel eher in verharmlosender, ja humoristischer Form: Das Jüngste Gericht, es kommt heute zumeist nur noch in irgendwelchen Witzchen vor, und zuständig ist dafür dann zumeist auch gar nicht mehr Christus selber, sondern nur noch Petrus, der Leute durch die Himmelstür lässt oder auch nicht. Und wenn man dann auf das eigene Leben blickt und sich darüber klar wird, dass wir mit irgendwelchen Petruswitzen unserer künftigen Verantwortung vor Gott vielleicht doch nicht so ganz gerecht werden, dann senkt man stattdessen eben die Kriterien für ein Bestehen im Gericht so weit ab, wie dies nötig erscheint, um selber noch ganz gut durchzukommen: Ich bin immer ein anständiger Mensch gewesen, habe mir nie etwas Größeres zuschulden kommen lassen, habe nie mit der Polizei zu tun gehabt, bin bei den Menschen immer beliebt gewesen, habe mich auch finanziell für andere Menschen eingesetzt. Gott wird auf diese Weise zum Moralapostel und Sittenwächter degradiert, wenn nicht gar zum Elferratsvorsitzenden, der letztlich doch gar nicht ernsthaft daran denkt, uns Menschen den Eintritt in den Himmel zu verweigern – von Hitler und Stalin vielleicht einmal abgesehen.
Dass Menschen sich so ihre eigene Vorstellung vom Gericht Gottes zusammenbasteln, ist allemal für sie selber gefährlich, aber zugleich auch noch irgendwo verständlich. Weitaus gefährlicher ist es jedoch, wenn diejenigen, die den Auftrag haben, Gottes kommendes Gericht in seiner ganzen Deutlichkeit zu verkündigen, dieses Gericht immer mehr verschweigen. Genau in dieser Gefahr stehen heutzutage in unserem Lande die christlichen Kirchen. Dass wir dem kommenden Gericht Gottes entgegengehen und dass dieses Gericht nach dem klaren Zeugnis unseres Herrn Jesus Christus einen doppelten Ausgang haben kann, dass es in diesem Gericht um ein ewiges Leben mit Gott oder um eine Existenz in der endgültigen Trennung von Gott geht, das wird heute nicht mehr gerne ausgesprochen. Man möchte den Leuten doch nicht drohen, ihnen doch keine Angst machen, man möchte sie doch ermutigen und ihnen Lebenshilfe geben, ihnen zeigen, wie menschenfreundlich man doch ist. Und da erscheint es doch geradezu unanständig, das Gericht Gottes noch zu erwähnen und damit womöglich Leute zu verschrecken.
Ja, Schwestern und Brüder, ich kenne diese Versuchung, das Gericht Gottes zu verschweigen, bei mir selber, und so kann ich es menschlich verstehen, wenn vom Gericht Gottes nur noch so wenig die Rede ist in Predigten von der Kanzel, in Ansprachen bei Beerdigungen, ja, auch in unserer neuen Beerdigungsagende, in ökumenischen Verlautbarungen der Kirchen. Und doch ist solches Verschweigen fatal, weil damit den Menschen der entscheidende Richtpunkt, die entscheidende Zielvorgabe ihres Lebens verschleiert wird. Niemand von uns kommt automatisch in den Himmel; in den Himmel kommen wir immer nur durch das Gericht hindurch. Und von daher ist und bleibt sie immer aktuell: die Frage, die in der Reformation Martin Luthers wieder neu mit besonderer Deutlichkeit artikuliert wurde: Wie kann ich in diesem Gericht Gottes bestehen?
Wir kennen als lutherische Christen die Antwort: Wir werden in Gottes Gericht nur bestehen können allein aus Gnade um Christi willen. Unsere ganzen selbstgebastelten Verteidigungsstrategien, sie werden in Gottes letztem Gericht zusammenfallen wie ein Kartenhaus: mein anständiges Leben, meine Hilfsbereitschaft, mein Einsatz für die Kirche – all das wird mir dann einmal nicht weiterhelfen. Weiterhelfen wird mir nicht, was ich getan habe, sondern allein, was Christus für mich getan hat. Das wird mich retten, ohne mein Zutun, ohne meine Mitwirkung, eben allein aus Gnade. Und das und nichts Anderes meint eben auch die Aussage, dass wir gerettet werden allein durch den Glauben. Nein, wir werden nicht selig werden wegen unseres Glaubens, als ob der Glaube der Beitrag sei, den wir von unserer Seite zu unserer Rettung leisten müssten. Sondern dass wir allein durch den Glauben gerettet werden, heißt eben nichts anderes als dass wir allein aus Gnaden, allein um Christi willen gerettet werden. Glaube heißt: Ich tue gerade nichts, sondern werde ganz und gar beschenkt. Glaube heißt: Christus hat alles für mich getan und tut alles für mich und in mir. Noch einmal anders ausgedrückt: Glaube ist und bleibt Gemeinschaft mit Christus. Und da merken wir nun, wie die Frage nach unserer Rechtfertigung und die Frage nach dem Leben, mit der wir uns in diesen Fastenpredigten befasst hatten, unmittelbar zusammengehören. Ja, die Heilige Schrift kann das Heil, das uns in Christus geschenkt wird, unter unterschiedlichen Aspekten beschreiben, und da ist es wichtig, dass wir nicht einen Aspekt absolut setzen und die anderen Aspekte darüber übersehen. Ja, mit dem Wort „Leben“ lässt sich das Heil wunderbar beschreiben, das Christus uns schenkt. Aber es wäre ein Missverständnis, wenn dieses Leben nur als ein organischer Prozess angesehen würde, der durch den Tod automatisch ins neue Leben übergeht. Damit würde das Leben, das uns schon hier und jetzt von Christus geschenkt wird, verharmlost. Was dieses Geschenk bedeutet, wird eben erst im Licht des kommenden Gerichts Gottes recht erkennbar. Wenn man aber umgekehrt das Heil, das uns in Christus geschenkt wird, nur mit dem Stichwort „Rechtfertigung“ beschreibt, als ob es nur darum ginge, dass Gott ein Urteil über uns fällt, dann würden ebenfalls weite Teile des neutestamentlichen Heilszeugnisses ausgeblendet, dann drohte die Gefahr, dass beispielsweise auch die Sakramente nur als eine Art von Informationsveranstaltung über diesen Richterspruch Gottes angesehen würden, so dass es entsprechend nun meine Aufgabe sei, diese Information zu verstehen und zu akzeptieren. Nein, mein Heil besteht darin, dass ich hier und jetzt mit Christus verbunden bin, dass sein Leben hier und jetzt mein Leben wird. Gerechtgesprochen werde ich von Gott deshalb, weil ich von Christus mit seiner Gerechtigkeit umgeben und umhüllt bin, weil Gott auf Christus blickt, wenn er mich sieht.
Genau darauf läuft mein ganzes Leben hinaus, genau so wird mein ganzes Leben von diesem Ziel her bestimmt, dass alles davon abhängt, dass Christus mit mir verbunden ist und ich mit ihm. Das gibt dem Geschehen hier im Gottesdienst seine tiefste Bedeutung, dass es uns auf dieses Ziel hinführt, ja mehr noch: dass dieses Ziel unseres Lebens immer schon hier und jetzt gegenwärtig ist. Der Freispruch in der Heiligen Absolution ist nicht bloß ein Zwischenbescheid auf dem Weg zum letzten Gericht Gottes, sondern er ist schon das Urteil Gottes in seinem letzten Gericht. Und wem durch Gottes Wort und sein Heiliges Mahl die Gemeinschaft mit Christus geschenkt wird, der hat schon hier und jetzt das ewige Leben, der kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen, so sagt es Christus im Johannesevangelium.
Ja, wir dürfen schon hier und jetzt unseres Heils gewiss sein, weil wir im Gottesdienst schon hier und jetzt immer wieder dem Ziel unseres Lebens begegnen. Unser Leben als Christen braucht nicht von der Ungewissheit geprägt zu sein, ob wir es am Ende wohl schaffen werden, im Gericht Gottes zu bestehen. Wir dürfen uns halten an das, was uns immer wieder neu im Gottesdienst, in Gottes Wort hier und jetzt geschenkt wird. Das schenkt uns als Christen eine große Gelassenheit, ja lässt uns von daher auch jetzt schon über das Gericht Gottes hinweg blicken auf das, was uns nach diesem Gericht erwartet: ein Leben von solcher Vollkommenheit und Schönheit, dass uns zur Beschreibung dieses Lebens letztlich die Worte fehlen. Die Heilige Schrift bleibt von daher in der Beschreibung dieses Lebens sehr zurückhaltend: Sie spricht nicht von irgendwelchen Scharen von Jungfrauen, die die Männer dort in jenem Leben erwarten, nicht von gebratenen Tauben, die uns in den Mund fliegen werden. Sie deutet zum einen nur ganz vorsichtig an, was es in jenem Leben alles nicht mehr geben wird: kein Leid, kein Geschrei, keinen Schmerz, keinen Abschied, keinen Tod, nichts, was unsere vollkommene Freude in irgendeiner Weise trüben könnte. Und zum anderen schildert sie jenes Leben immer wieder als Erfahrung vollkommener Gemeinschaft. Nein, Gott hat uns Menschen nicht als Einzelgänger geschaffen, sondern als Wesen, die ihre Erfüllung im Gegenüber, in der Gemeinschaft finden. Und ganz gleich, ob wir hier in diesem Leben doch eher Stimmungskanonen oder eher Eigenbrötler waren, ob wir uns lieber zurückgezogen haben oder lieber immer von vielen Menschen umgeben waren: Dort werden wir die Gemeinschaft mit allen Erlösten nicht als bedrückend und bedrängend, sondern als zutiefst beglückend erfahren. Das Bild des Festmahls wird dafür in der Heiligen Schrift immer wieder gebraucht. Nein, es wird im Himmel nicht zugehen wie bei McDonald’s, wo jeder seinen Hamburger vor sich hin kaut; gemeinsam werden wir essen und feiern und singen. Und alles, was wir dort erleben werden, wird ausgerichtet sein auf ihn, der den Himmel überhaupt zum Himmel, das Leben überhaupt erst zu dem Leben machen wird, das diesen Namen erst verdient: Alles wird ausgerichtet sein auf ihn, Christus, unseren Erlöser, und durch ihn auf Gott den Vater, mit dem er verbunden ist in der Einheit des Heiligen Geistes. „Ich lebe, und ihr sollt auch leben“ – Das wird das Motto des ewigen Lebens sein, dass wir für immer Anteil an dem Leben haben werden, das er, Christus, in Person ist. Dazu hat Gott uns geschaffen, dazu hat er Christus den Tod durch sein Kreuz und seine Auferstehung besiegen lassen, dazu hat sich Christus mit uns verbunden und verbindet sich immer wieder neu, das ist es, was unserem Leben seinen Inhalt und sein Ziel verleiht: dass sich endgültig erfüllt, was Christus vor seinem Kreuzestod von seinem Vater erbeten hat: „Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein.“ Das ist das letzte Ziel unseres Lebens, darauf läuft alles hinaus – auch diese Predigt. Amen.