28.09.2008 | 2. Mose 34, 4-10 (19. Sonntag nach Trinitatis)

19. SONNTAG NACH TRINITATIS – 28. SEPTEMBER 2008 – PREDIGT ÜBER 2. MOSE 34,4-10

Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand. Da kam der HERR hernieder in einer Wolke, und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an. Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied! Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein. Und der HERR sprach: Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des HERRN Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.

Habt ihr schon einmal in der „Bibel in gerechter Sprache“ gelesen? Seit zwei Jahren ist sie mittlerweile auf dem Markt, diese Bibelausgabe, die von zahlreichen führenden Repräsentanten evangelischer Landeskirchen gefördert wurde und den hohen Anspruch erhebt, im Unterschied zu bisherigen Bibelübersetzungen nun endlich eine Sprache zu gebrauchen, die beispielsweise für Geschlechtergerechtigkeit sorgt. Bisher mussten sich Frauen immer eine patriarchale Herrschaftssprache anhören, wenn im Gottesdienst von Gott dem Herrn oder vom Vater die Rede war. Stattdessen verwendet die neue Bibel in gerechter Sprache für den Namen Gottes Worte wie „die Ewige“ oder „die Lebendige“ oder „ErSie“. Aus dem Vaterunser wird in der neuen Bibel die Anrede: „Du, Gott, bist uns Vater und Mutter im Himmel“ – Gott wird also angepredigt, damit er oder sie auch weiß, dass er oder sie sich künftig bitte geschlechtergerecht als Vater und Mutter für alle Beter versteht.
Das Problem dieser Bibel in gerechter Sprache besteht nicht bloß darin, dass sie eine total geschraubte Sprache verwendet, die sich am Ende als kaum lesbar erweist. Es besteht auch nicht bloß darin, dass diese Bibel ganz sicher keine Übersetzung, sondern eher eine Übertragung ist, die den ursprünglichen Sinn des Textes mitunter nur noch schwer erkennen lässt. Sondern ein Grundproblem dieser Bibel besteht darin, dass in ihr aus dem lebendigen Gott eine Vielzahl von Gottesvorstellungen gemacht wird, in denen sich dann die Leser mit ihren Wünschen und Bedürfnissen wiederfinden können: Gerecht geht es dann zu, wenn der Gott, von dem in der Bibel die Rede ist, so geschildert wird, wie ich ihn beziehungsweise sie mir wünsche und vorstelle.
Und das ist nun nicht bloß ein Problem dieser „Bibel in gerechter Sprache“. Natürlich missbrauche ich den Namen Gottes auch, wenn ich aus der Anrede Gottes als Vater ein Instrument zur Stärkung meines männlichen Egos mache: Schaut her: Gott ist ein Mann und keine Frau; also sind Männer auch gottähnlicher als die Frauen. Aber problematisch wird es überhaupt überall dort, wo wir glauben, wir hätten das Recht dazu, uns einen Gott nach unseren Wünschen zu entwerfen: „Der Gott, an den ich glaube, ist nur ein liebender Gott, der niemanden bestraft“, heißt es dann beispielsweise. Oder: „Eigentlich glauben ja alle Religionen an denselben Gott; wir machen uns nur jeweils unterschiedliche Vorstellungen von ihm“.
Wir wissen nicht, ob sich der Mose damals auch irgendwelche Vorstellungen von Gott gemacht hat. Doch in unserer heutigen Predigtlesung erfahren wir, wie alle Gottesvorstellungen, die der Mose gehabt haben mag, zerbrechen in der Begegnung mit dem lebendigen Gott. Nein, da geht es nicht mehr darum, wie Mose sich Gott vorgestellt hat, sondern nur noch darum, wie Gott sich dem Mose vorstellt, sich ihm zu erkennen gibt. Ja, Mose erkennt und erfährt: Er, der lebendige Gott, ist kein Produkt meiner Wünsche, kein Hirngespinst, sondern er ist die letzte, überwältigende Realität schlechthin. Und dieser lebendige Gott,

- der kommt herunter
- der straft
- der vergibt

I.

Eine Gottesbegegnung der ganz besonderen Art wird uns in unserer heutigen Predigtlesung geschildert. Wenn man nicht genau hinhört, dann kommt diese Gottesbegegnung ja scheinbar dadurch zustande, dass ein Mensch sich Gott nähert und Gott sich dem Menschen nähert und sie sich dann irgendwo in der Mitte treffen – in diesem Fall auf dem Berg Sinai: Mose steigt hoch, Gott kommt runter – so einfach scheint das mit der Gottesbegegnung zu sein. Doch in Wirklichkeit sieht die Sache ganz anders aus: Mose begibt sich nicht von sich aus auf die Suche nach Gott; sein Aufstieg ist nicht ein Ausdruck menschlichen Übermuts wie damals der Turmbau zu Babel, als die Leute allen Ernstes glaubten, sie seien dazu in der Lage, sich mit ihren Bemühungen Gott zu nähern. Nein: Mose steigt auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, so heißt es hier: Gott allein entscheidet, ob, wo und wie es zu einer Begegnung zwischen ihm und Mose kommt; er bestellt den Mose dorthin, wo er ihn haben möchte – und dann kommt Gott hernieder, ohne dass Mose darauf in irgendeiner Weise hätte Einfluss nehmen können. Und wo der lebendige Gott kommt, da bleibt dem Mose gar nichts anders übrig, als ihn so anzurufen, wie Gott selber sich ihm zu erkennen gegeben hatte: Und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an.
Was hier so einfach geschildert wird, beschreibt eine Grundstruktur unseres Glaubens: Nein, wir können nicht zu Gott kommen, nicht zu ihm aufsteigen; wir können ihm nur dort und nur so begegnen, wie Gott selber dies festgelegt hat. Ich komme nicht dadurch an Gott heran, dass ich mir irgendwelche Meditationspraktiken beibringen lasse, durch die ich irgendwann, wenn ich gut genug bin, mit Gott verschmelze. Ich komme nicht dadurch an Gott heran, dass ich mir kluge und tiefgründige Gedanken über ihn mache. Und ich komme erst recht nicht dadurch an Gott heran, dass ich ihn mit meinem anständigen Leben beeindrucke. Sondern wenn es zu einer Begegnung zwischen Gott und mir kommt, dann einzig und allein dadurch, dass Gott mich dorthin bestellt, wo er mich treffen will. Den Mose hat Gott damals auf den Sinai bestellt. Das war für den Mose eine ganz schöne Kraxelei, vor allem, weil er ja auch noch die beiden schweren Steinplatten da hochschleppen musste. Doch Mose sagte nicht zu Gott: „Ach, lieber Gott, können wir uns nicht auch irgendwo hier unten in einem Café treffen; dieser Weg nach oben, den kannst du mir doch nicht zumuten!“ Nein, wenn Gott den Mose auf den Sinai bestellt, dann bleibt dem Mose nichts anderes übrig, als dorthin zu gehen. Und Gott bestellt uns eben immer wieder von Neuem hierher in die Kirche, hierher an seinen Altar, will uns hier genauso begegnen, wie damals dem Mose auf dem Sinai. Und da können wir auch nicht anfangen mit Gott zu verhandeln und zu sagen: „Ach, lieber Gott, der Weg zur Kirche, der ist ja so weit, der ist ja so unbequem; können wir uns nicht auch bei mir auf dem Sofa oder auf der Bettkante treffen? Das ist doch kein Problem für dich, auch dorthin zu kommen.“ Nein, natürlich wäre es für Gott kein Problem, dorthin zu kommen. Aber er befiehlt uns nun einmal etwas Anderes: Dorthin sollen wir kommen, wo sein Wort gepredigt wird, wo seine Sakramente ausgeteilt werden – und das kann, wenn wir krank und schwach sind, natürlich auch das Sofa oder das Bett sein, an dem wir das Heilige Abendmahl feiern. Und dann kommt Gott tatsächlich – nicht, weil wir hier eine spiritistische Sitzung abhalten würden, ihn irgendwie herbeirufen oder gar herbeizwingen könnten. Nein, Gott kommt einzig und allein zu uns, weil er es will und weil er es uns versprochen hat. „Da kam der HERR hernieder“ – genau darum geht es in unseren Gottesdiensten: Nicht wir nähern uns Gott, sondern Gott kommt zu uns. Ja, er kommt tatsächlich, bleibt nicht unendlich fern, nicht irgendwo im Jenseits, schickt uns nicht bloß von dort eine Botschaft. Sondern er ist ganz real hier, er, vor dem auch wir wie Mose nur niederfallen und ihn anbeten können.

II.

Gott kommt selber – nein, wir tauschen hier im Gottesdienst nicht bloß unsere Gedanken darüber aus, wie Gott sein könnte, wie er unserer Meinung nach sein sollte. Sondern er kommt, gibt sich uns zu erkennen, stellt sich uns vor, und wir, wir können nur nachsprechen, was er uns in seinem Wort von sich wahrnehmen lässt.
Und da hören wir dann hier in unserer Predigtlesung Worte von Gott, Worte über Gott, die uns absolut nicht in den Kram passen, die unseren Vorstellungen von Gott so gar nicht entsprechen mögen: „Ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an den Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.“ „Der Gott, an den ich glaube, sagt so etwas nicht“, möchte man einwenden. Oder auch: „An einen Gott, der so etwas sagt, möchte ich nicht glauben.“ Ach, Schwestern und Brüder, haben wir überhaupt schon kapiert, in was für einer Lage wir uns eigentlich befinden? Wir haben doch nicht die Möglichkeit, so etwas wie religiöses Shopping zu betreiben: Da gibt es dann verschiedene Götter zur Auswahl, und den, der uns am ehesten zusagt, den nehmen wir. Und wenn dann dieser Gott, der hier im Zweiten Mosebuch redet, uns solch ein schlechtes Angebot macht, dann soll er zusehen, wo er die Leute herkriegt, die noch an ihn glauben!
O nein, „ungestraft lässt er niemand“ – das gilt auch für dich, und das gilt auch für mich. Er, der lebendige Gott, hat das Recht und die Möglichkeit dazu, uns zu strafen, und keinen gibt es, der sich seinem Urteil widersetzen geschweige denn entziehen könnte. Die Zehn Worte, die Zehn Gebote, die Mose damals auf die Steintafeln schrieb, die er da auf den Berg geschleppt hatte, sie bleiben der Maßstab für Gottes Gericht auch über unser Leben. Gott fragt auch dich, ob du ihn über alle Dinge gefürchtet und geliebt hast, ob du ihm allein in deinem Leben vertraut hast. Gott fragt auch dich, wie viel Zeit du dir in deinem Leben für ihn genommen hast. Gott fragt auch dich, ob du deinen Nächsten geliebt hast wie dich selbst. Und weil du nicht behaupten kannst, dass du Gottes Gebote gehalten hast, weil kein Mensch behaupten kann, dass er von sich aus in Gottes Augen richtig dasteht, darum hat Gott das Recht dazu, niemanden ungestraft zu lassen, und von diesem Recht macht er Gebrauch: Der Tod ist der Sünde Sold, so schreibt der Apostel Paulus im Römerbrief. Sterben müssen wir alle miteinander; nein, das ist nicht bloß ein natürlicher Vorgang, das ist immer auch, vergessen wir es nicht, die Strafe, die wir uns mit unserer Abwendung von Gott eingehandelt haben. Und wenn dann ein Mensch beerdigt wird, dann können wir es immer wieder ganz direkt erleben, wie davon eben auch die ganze Familie betroffen ist, ja, auch bis ins dritte und vierte Glied. Wir Menschen leben nicht nur für uns selbst, wir sind eingebunden in eine Gemeinschaft, und die ist immer wieder mitbetroffen, wenn ein Mensch das Gericht über seine Sünde, wenn ein Mensch den Tod erleidet.

III.

Ja, Gott straft – nicht so, dass wir an der Länge eines Lebens ablesen könnten, ob ein Mensch besser oder schlechter als der andere war. Ja, Gott straft – und will doch zugleich nicht, dass wir Menschen für immer von ihm getrennt bleiben, einfach nur im Dunkel des ewigen Todes versinken. Neben die Aussage, dass Gott niemanden ungestraft lässt, tritt die andere Aussage, dass er, der HERR, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue ist, dass er Tausenden Gnade bewahrt und Missetat, Übertretung und Gnade vergibt.
Wie können wir das zusammenbekommen: Gott, der straft und der doch zugleich gnädig und geduldig ist, der zugleich doch vergibt? Nein, wir bekommen es nicht so zusammen, dass Gott das mit seiner Strafe, mit seinem Zorn gar nicht so ernst meint, dass wir uns davor gar nicht erschrecken müssten: „Er will doch nur spielen!“ Nein, zusammen bekommen wir das einzig und allein, wenn wir auf einen anderen Berg blicken, auf dem Gott sich nicht bloß dem Mose, sondern aller Welt zu erkennen gegeben hat, auf den Hügel Golgatha. Da hat Gott nicht gespielt, da hat er seinen Zorn nicht zurückgehalten, da hat er zugeschlagen und gestraft: so, dass er seinen einzigen Sohn die Strafe für die Sünde der ganzen Welt hat erleiden lassen, dass er ihn hat erfahren lassen, was wir verdient gehabt hätten. Gott straft, und Gott vergibt – beides erkennen wir, wenn wir auf ihn, den gekreuzigten Christus blicken. Und dass Gott vergibt, das ist und bleibt sein letztes, sein entscheidendes Wort, das er dort auf Golgatha gesprochen hat, das er auch uns verkündigen lässt. Nein, das ist nicht logisch und selbstverständlich, dass Gott gnädig und geduldig ist, das liegt nicht daran, dass er so einen ausgeglichenen Charakter hätte und letztlich keiner Mücke etwas zuleide tun könnte. Sondern Gottes Gnade ist ein Wunder, das größte Wunder überhaupt, das er vollbracht hat in der Hingabe seines einzigen Sohnes. Nein, dass Gott gnädig ist und vergibt, ist nicht selbstverständlich, ist keine allgemeine Wahrheit, sondern das muss immer wieder von neuem von ihm erbeten werden, wie Mose dies hier tut, das muss immer wieder von neuem erfahren und empfangen werden, wenn uns die Hand in der Beichte aufgelegt wird, wenn wir den Opferleib und das Opferblut unseres Herrn im Heiligen Mahl empfangen.
Schwestern und Brüder, dass Gott gnädig und barmherzig und geduldig ist, ist keine Wunschvorstellung, die wir uns von Gott machen mögen, kein Versuch, ihn zu verharmlosen. Im Gegenteil: Darauf hat Gott sich im wahrsten Sinne des Wortes festnageln lassen, dass er gnädig und barmherzig und geduldig ist, ja, das gilt, ganz gleich, was für eine Vorstellung wir uns von Gott machen mögen.
Gott will nicht, dass der Tod das letzte Wort in unserem Leben behält. Im Gegenteil: Er, der uns unsere Schuld immer wieder von neuem vergibt, er hat auch den Tod umfunktioniert: Was Strafe für unsere Sünde ist, das macht er zugleich zum Eingangstor in das Leben, in dem es keiner Arrangements mehr bedarf für ein Zusammentreffen von Gott und Mensch, zum Eingangstor in das Leben, in dem Gott für immer sichtbar inmitten seines Volkes wohnen wird.
Ja, da sollst auch du einmal hinkommen, genauso real und wirklich, wie du jetzt noch hier in deiner Kirchenbank sitzt. Da sollst du hinkommen, weil Gott es dir in deiner Taufe zugesagt hat, weil er dort seinen Bund mit dir geschlossen hat. Hör darum auf, darüber zu spekulieren, wie Gott deiner Meinung nach wohl sein könnte oder sollte, und halte dich stattdessen an ihn: den lebendigen, heruntergekommenen Gott. Amen.