31.10.2008 | Philipper 2, 12+13 (Gedenktag der Reformation)

GEDENKTAG DER REFORMATION – 31. OKTOBER 2008 – PREDIGT ÜBER PHILIPPER 2,12+13

Also, meine Lieben, - wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit - schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.

In der letzten Woche war ich mit unserem Jugendkreis in Schleswig-Holstein unterwegs. An einem Tag fuhren wir von dort auch nach Hamburg und nahmen dabei im Rahmen unserer Besichtigungen auch an einem Mittagsgebet in einer Kirche teil – genauere Angaben tun jetzt nichts zur Sache. Der Pastor las zwei Verse aus dem Matthäusevangelium vor: „Wenn ein Hausvater wüsste, zu welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, so würde er ja wachen und nicht in sein Haus einbrechen lassen. Darum seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meint.“ Und dann erzählte der Pastor von einem Einbruch in den Gemeinderäumen, der vor einigen Tagen stattgefunden hatte, und landete von dort schließlich auch bei Gott, erzählte davon, dass wir Menschen in unserem Leben immer mit der Möglichkeit rechnen müssten, dass Gott uns begegnet, und wie schön das für die Menschen ist, die diese Erfahrung einer Gottesbegegnung machen. Das war ja auch alles nicht unbedingt falsch, was er da erzählte. Nur: Das Entscheidende fehlte eben: Kein Wort von Christus, so fiel es auch unseren Jugendlichen gleich auf, kein Wort davon, dass es in dem Wort Christi um die Ankündigung seiner Wiederkunft geht, und erst recht kein Wort davon, dass mit dieser Wiederkunft das letzte Gericht Gottes verbunden ist: einer wird angenommen, der andere wird verworfen werden, wie es in den Versen heißt, die den Worten, die der Pastor verlas, unmittelbar vorangehen.
Schwestern und Brüder, es geht mir hier nicht darum, nun von der Kanzel so etwas wie Pastorenschelte zu betreiben oder das Reformationsfest zu nutzen, um euch zu zeigen, was in der evangelischen Kirche alles so verkehrt läuft. Sondern mir geht es um die geistliche Not, die in diesem Mittagsgebet so deutlich erkennbar wurde und die ja nun nicht bloß diesen einen Pastor betrifft, sondern weite Teile der Christenheit in unserem Land, nicht nur in der evangelischen Kirche, sondern auch in der römisch-katholischen Kirche, mittlerweile auch in vielen freikirchlichen Gemeinden, ja auch in unserer eigenen lutherischen Kirche: Wir trauen uns nicht mehr, von Gottes Gericht zu reden und zu predigen, weil wir ja die Leute nicht verschrecken, ihnen keine Angst einjagen wollen, und entsprechend tritt dann auch die Frage zurück, ob wir in diesem Gericht gerettet werden, oder, wie Martin Luther es formuliert und übersetzt, ob wir selig werden.
„Der Mensch von heute fragt nicht mehr: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Sondern er fragt: Gibt es Gott überhaupt?“ – Mit dieser Feststellung, die als solche ja gar nicht unbedingt falsch ist, wird immer wieder argumentiert, um zu begründen, dass man heute anders von der Rechtfertigung des Sünders predigen müsse, als Martin Luther dies damals getan habe. Und dann versucht man, den Menschen von heute ganz behutsam daran heranzuführen, dass er an so etwas wie ein höheres Wesen glaubt und irgendwelche religiösen Erfahrungen macht. Dann, so glaubt man, könne man irgendwann ja auch davon reden, dass uns dieser Gott auch mal nach unserem Leben fragen wird. Aber damit sollte man sehr vorsichtig sein, denn die Leute sollen doch erst einmal einen positiven Eindruck von Gott bekommen, sollen erfahren, dass Gott tatsächlich das ist, was sie für ihr Leben brauchen und was sie sich wünschen: Gott, der mich in meinem Selbstwertgefühl bestätigt, der mich so annimmt, wie ich bin, der mich erfahren lässt, dass ich in schweren Zeiten nicht allein dastehe und der natürlich auch am Ende meines Lebens dafür sorgt, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Ist ja auch alles, wie gesagt, nicht ganz falsch. Und doch: Was für eine unerträgliche Verharmlosung Gottes ist es, wenn er auf diese Weise zur Antwort auf unsere Fragen und Wünsche degradiert wird, zum Erfüllungsgehilfen zur Befriedigung unserer Bedürfnisse! Was für eine unerträgliche Verharmlosung Gottes ist es, wenn den Menschen eingeredet wird, es sei einfach schön und nett und beglückend, dem lebendigen Gott zu begegnen, wenn so getan wird, als sei es das Normalste und Selbstverständlichste auf der Welt, dass Gott uns ganz okay findet! Ja, was für eine unerträgliche Verharmlosung Gottes ist es, wenn in der Verkündigung, gerade auch bei Beerdigungen, der Eindruck erweckt wird, als sei es geradezu ein natürlicher Prozess, dass sich das Leben eines jeden Menschen schließlich im Himmel vollendet: so eine Art von Buddhismus light, ohne weitere Ehrenrunden auf der Erde! Ja, was für eine unerträgliche Verharmlosung Gottes ist es, wenn man meint, den Menschen erst einmal den lieben Gott im Allgemeinen nahebringen zu können, um ihnen dann irgendwann, wenn sie sich mit dem lieben Gott erst einmal angefreundet haben, auch noch stecken zu können, dass dieser liebe Gott auch noch ein etwas abstruses Hobby pflegt und ganz gerne auch einmal Richter spielt; aber das müsse man nicht so ernst nehmen – am Ende gilt doch: „Alles wird gut!“
Schwestern und Brüder, wie ganz anders klingen die Worte unserer heutigen Predigtlesung, wie wenig sind sie dazu geeignet, einer Verharmlosung Gottes und seines Gerichts Vorschub zu leisten: „Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern!“ – So schreibt der Apostel Paulus hier. „Dass ihr selig werdet!“ – Nein, das ist eben nicht eine Frage unter vielen, mit der man sich als religiöser Feinschmecker, vielleicht auch nur als lutherischer religiöser Feinschmecker auch mal beschäftigen kann, wenn man nichts Besseres zu tun hat. Sondern das ist die entscheidende Frage deines und meines Lebens schlechthin, ganz gleich ob ich diese Frage von mir aus stelle oder mich dafür gar nicht interessiere, ob mir diese Frage passt oder nicht: Die Frage, ob ich selig werde, ob ich in Gottes Gericht gerettet werde. Ja, ich weiß, diese Frage ist nicht unbedingt schön, sie beunruhigt, sie lässt es nicht länger als selbstverständlich, als logisch erscheinen, dass ich am Ende in den Himmel komme. Doch ich kann ihr nicht ausweichen, denn es ist eine Frage, die Gott selber an mein Leben richtet, eine Frage, die unsere Vorstellungen, wie wir von Gott reden sollten, geradezu auf den Kopf, nein: vom Kopf auf die Füße stellt: Es geht nicht darum, dass wir als Kirche Gott als Antwort auf unsere Menschheitsfragen präsentieren, sondern es geht darum, dass Gott umgekehrt Fragen an unser Leben, Fragen an einen jeden von uns richtet und von uns eine Antwort erwartet. Ja, Gott rückt uns ganz gewaltig auf die Pelle, lässt uns nicht aus sicherem Abstand über ihn spekulieren, gibt sich nicht damit zufrieden, das religiöse Hintergrundgeräusch unseres Lebens zu sein. Er möchte, dass uns das überhaupt erst mal wieder neu klar wird, was wir da eigentlich tun, wenn wir das Wort „Gott“ in unseren Mund nehmen, wenn wir so leichtfertig von Gott reden, ohne uns eigentlich so richtig klarzumachen, wer er, der lebendige Gott, in Wirklichkeit ist. Nein, wenn ich dem begegne, dann ist das nicht einfach nett, sondern wenn ich mit ihm, dem lebendigen Gott, und nicht nur mit meinen Vorstellungen über Gott zu tun bekomme, dann kann ich in der Begegnung mit diesem Gott nur wie der Prophet Jesaja ausrufen: „Weh mir, ich vergehe!“
„Furcht und Zittern“ – wenn der Apostel Paulus hier diese Worte verwendet, dann möchte er uns nicht dazu anleiten, dass wir vor Gott Angst haben sollen. Es geht nicht darum, dass wir in der Kirche irgendwelche billigen Sektentricks anwenden, den Leuten ordentlich Angst einjagen, um sie auf diese Weise weichzuklopfen und sie damit in die Kirche zu befördern. Sondern „Furcht und Zittern“ – das ist geradezu ein Fachausdruck in der Heiligen Schrift für die Reaktion von Menschen, die dem lebendigen Gott und seinen Boten begegnen, die etwas davon erfahren, dass Gott keine Idee ist, sondern mitten in diese Welt, mitten in unser Leben eingreift. Nein, das muss noch nicht einmal etwas Bedrohliches sein, das diese Furcht und dieses Zittern auslöst: So kann der Apostel Paulus den Korinthern schreiben, sie hätten den Titus mit Furcht und Zittern bei sich aufgenommen – nein, sicher nicht, weil der Titus so ein Choleriker war und bei seiner Ankunft in Korinth da bei ihnen rumgetobt hätte, sondern einfach, weil die Korinther in dem Titus den Boten des gekreuzigten Christus selber erkannten. Und als die Frauen vom leeren Grab Jesu mit Zittern und Entsetzen wegliefen, war der Anlass dafür ja eigentlich auch kein schrecklicher, im Gegenteil. Aber auch sie erfuhren dort im Grab etwas von dem Wirken des lebendigen Gottes, und das ließ sie nicht unberührt, das haute sie mit ihrem ganzen Leben geradezu um.
„Furcht und Zittern“ – nein, Schwestern und Brüder, das ist nicht etwas, was man als Prediger irgendwie bei denen, die die Predigt hören, hervorrufen könnte, nicht mit irgendwelchen rhetorischen Tricks und erst recht nicht durch möglichst lautes Brüllen von der Kanzel. Sondern solche Furcht und Zittern kann eben nur der lebendige Gott selber im Herzen von Menschen auslösen, dort, wo sein Wort verkündigt wird, wo Menschen mit seiner Gegenwart konfrontiert werden. Ja, eine tiefe geistliche Not ist es für die Kirche, wenn ihr diese Furcht, dieses Zittern abhanden gekommen ist und Menschen in ihr nur noch mit einem weichgespülten Gott, einem weichgespülten Jesus konfrontiert werden, der die Frage danach, ob wir selig werden, gar nicht mehr stellt.
Denn erst wenn wir etwas von dieser Furcht und diesem Zittern erahnen, kann uns überhaupt erst der tiefste Trost der Botschaft aufgehen, die Paulus damals den Christen in Philippi verkündigte und die Martin Luther vor bald 500 Jahren wieder neu entdeckte:
Selig, gerettet werde ich eben nicht dadurch, dass ich selber etwas leiste, dass ich ein anständiges Leben führe, dass ich mich für eine gerechtere Welt engagiere, dass ich liebevoll und hilfsbereit mit anderen Menschen umgehe. Nein, mit Furcht und Zittern werden wir selig – das heißt ja: Wir werden selig als Leute, die selber gar nichts können und vermögen. Wer zittert, der kriegt eben gerade nicht selber irgendetwas auf die Reihe, und wer sich fürchtet, der steht da und schaut nur noch auf das, was sein Gegenüber macht oder nicht macht. Und wenn wir so auf unser Gegenüber, auf Gott schauen, dann stellen wir mit einem Mal staunend fest: Wir dürfen ja vor lauter Freude zittern! Denn er, der lebendige Gott, in dessen Gegenwart wir eigentlich vergehen müssten, der ist uns so nahegekommen, dass seine Nähe, seine Begegnung mit uns gerade nicht den Tod, sondern das Leben bedeutet. Er, der lebendige Gott, ist uns nahegekommen, so lesen wir es in den Versen, die unserer Predigtlesung unmittelbar vorangehen, in seinem Sohn Jesus Christus, ist ganz tief zu uns herabgestiegen, hat für uns den Tod erlitten und nimmt uns mit auf seinem Weg ganz nach oben, bis in den Himmel. Ja, vor Freude dürfen wir vor ihm, Christus, auf die Knie sinken, schon jetzt vollziehen, was einmal alle Menschen am Ende einmal tun werden, sei es mit Entsetzen oder mit Jubel, dürfen ihn jetzt schon anbeten und immer wieder neu mit Furcht und Zittern darüber staunen, dass Gott selber alles, wirklich alles für uns getan hat und tut, damit wir selig werden.
Nein, Gott hat nicht bloß einen ersten Schritt getan, auf den nun unser zweiter Schritt folgen müsste, er hat nicht bloß die Voraussetzungen für unser Heil geschaffen, die wir nun mit unserer Entscheidung, mit unserer Bekehrung verwirklichen müssten. Sondern Gott ist so weit bei uns gegangen, dass er auch in uns alles wirkt, das Wollen und das Vollbringen. Da gibt es kein „Wir müssen aber doch auch“, kein „Das musst du aber nun auch selber annehmen!“ Nein, Gott ist es, der dein Wollen wirkt, Gott ist es, der dir den Glauben schenkt, Gott ist es, der dich Ja zu ihm und seinem Sohn Jesus Christus sprechen lässt, Gott ist es, der dich als Christ leben lässt, Gott ist es, der dich schließlich auch am Ziel ankommen lässt, Gott ist es, der dich am Ende in seinem Gericht freispricht.
Du fühlst dich damit in deiner freien Entscheidung nicht ernst genommen, du möchtest selber doch auch etwas tun, zu deinem Heil beitragen? Dann ist dir immer noch nicht aufgegangen, was es eigentlich heißt, dem lebendigen Gott zu begegnen – ihm, dem Herrn über Leben und Tod, der nicht dein Kooperationspartner, sondern dein Richter und Retter ist! Dann versuchst du immer noch, Gott auf Abstand von dir zu halten, hast noch nicht erfasst, dass Gott doch schon längst in dir am Werk war, deinen Willen schon längst gelenkt hat, bevor du auch nur deinen Mund auftun und „Ja“ sagen konntest. Denn wem das aufgeht, was es bedeutet, vor dem lebendigen Gott zu stehen, der wird keinen anderen Trost, keine andere Hoffnung mehr finden als allein dies eine: Dass nichts an uns und wirklich alles an Gott hängt – an Gott, der sich doch auch zu deinen Gunsten festgelegt hat in deiner Taufe, dich nicht im Unklaren gelassen hat, wohin dein Lebensweg einmal führen wird.
Nein, noch einmal: Das sind keine allgemeinen Wahrheiten, keine Selbstverständlichkeiten, das ist ein Wunder, das wir heute Abend feiern, ein Wunder, das Martin Luther damals vor 500 Jahren aus dem Wort der Heiligen Schrift wieder neu entdeckt hat und auf dem allein unser ganzes Leben sich gründet. Gott geb’s, dass uns dies Wunder in unserem Leben immer wieder von Neuem aufgehen möge; Gott geb’s, dass diese und keine andere Botschaft in allen christlichen Kirchen in unserem Land immer deutlicher und klarer verkündigt wird; ja, Gott geb’s, denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen. Amen.