24.12.2008 | St. Lukas 2,1-14 (Heiliger Abend - Christvesper 2)

HEILIGER ABEND (CHRISTVESPER II) – 24. DEZEMBER 2008 – PREDIGT ÜBER ST. LUKAS 2,1-14

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Wo ist Gott? Diese Frage hat Menschen im Verlauf der Geschichte immer und immer wieder umgetrieben; alle möglichen Antworten haben Menschen auf diese Frage zu geben versucht. In der letzten Zeit haben sich nun auch Neurologen, Hirnforscher, an dieser Suche beteiligt, und einige von ihnen behaupten mittlerweile, sie hätten Gott gefunden – in einer ganz bestimmten Hirnregion, die besonders heftig auf religiöse Stimulationen reagiert. Ist Gott also lediglich eine bestimmte Hirnfunktion, die ich zur Not auch mit irgendwelchen Tabletten oder Stromstößen auslösen kann? Selbst viele Hirnforscher haben diese angebliche Lokalisierung Gottes in unseren Hirnzellen in Frage gestellt: Dass unser menschliches Gehirn auf religiöse Impulse reagiert, heißt ja nicht, dass Gott mit diesen Hirnreaktionen identisch sein muss oder durch sie erst geschaffen wird. Nein, auch die Hirnforscher haben die Suche danach, wo Gott denn nun eigentlich zu finden ist, nicht beenden können.
Wo ist Gott? Genau darum geht es auch in der Weihnachtsgeschichte, die wir eben gehört haben und deren Worte uns so vertraut sind, dass wir vielleicht mitunter gar nicht mehr wahrnehmen, wie aufregend sie eigentlich sind. Nicht eine romantische Szene auf einem Öko-Bauernhof bei spätabendlicher Beleuchtung wird uns hier geschildert, sondern nicht weniger als eine dreifache Antwort auf diese Frage: „Wo ist Gott?“ – eine dreifache Antwort, die weit über das hinausführt, was Hirnforscher wahrzunehmen und zu beschreiben vermögen.
„Wo ist Gott?“ St. Lukas gibt uns hier auf diese Frage drei Antworten: Er ist

- im Himmel
- in der Krippe
- in dir

I.

Wo ist Gott? Die erste Antwort, die uns St. Lukas auf diese Frage gibt, klingt erst einmal ganz einfach: Gott ist im Himmel, oder, wie es die Engel in ihrem Gesang über den Feldern von Bethlehem formulieren: Gott ist in der Höhe. Ja, das klingt erst einmal sehr naiv, so, als ob wir Gott irgendwo im Weltall, irgendwo auf einer Wolke suchen und finden könnten. In der Tat: Wenn das der Himmel wäre, von dem die Bibel spricht, dann hätte Juri Gagarin wohl doch Recht gehabt, der nach seinem Weltraumflug am 12. April 1961 erklärte, er habe Gott dort oben nicht gesehen und gefunden, also gebe es Gott auch gar nicht. Doch darum geht es St. Lukas hier in der Schilderung des Weihnachtsgeschehens gar nicht. Er macht darin etwas ganz Anderes deutlich: Die Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und beschreiben können, die Welt, die unserer Erfahrung zugänglich ist, die Welt, in der es neben all dem Schönen auch so viel Furchtbares, Schreckliches, Unverständliches gibt, ist nicht alles. Die Engel über den Feldern von Bethlehem geben uns eine leichte Ahnung von der ganz anderen Welt, die uns ebenfalls umgibt und von der wir mit unseren Sinnen doch nichts wahrzunehmen vermögen, von einer Welt, in der Schrecken und Tod und Leid keinen Platz haben, in der es keine Schreie von Angst und Verzweiflung gibt, eine Welt, die erfüllt ist von den Jubelgesängen der Engel, die in Wirklichkeit, auch wenn wir uns dies kaum vorzustellen vermögen, noch schöner klingen als ihre Vertonung bei Johann Sebastian Bach. Ja, auch das ist eine Botschaft, die du heute Abend aus dieser Christvesper für dich mit nach Hause nehmen darfst: Es gibt eine Welt, die so unglaublich schön und großartig ist, dass uns letztlich alle menschlichen Worte für ihre Beschreibung fehlen, eine Welt, die schlichtweg vollkommen ist. Und in dieser Welt, da ist Gott, ja, das macht diese Welt letztlich aus, dass die, die zu dieser Welt gehören, Gott selber schauen können, dass sie nie mehr die Frage werden stellen müssen: „Wo ist denn Gott?“, weil sie die Antwort direkt und unmittelbar vor Augen haben. Ja, da im Himmel, in dieser Welt, die sich gerade nicht im Weltraum lokalisieren lässt, die sich nicht in unserer dreidimensionalen Welt lokalisieren lässt, da ist Gott. Und wir müssten wohl schon ein Herz aus Granit haben, wenn diese Welt, in die die Hirten von Bethlehem einen Augenblick hineinschielen durften, nicht auch in uns eine Sehnsucht wecken würde, eine Sehnsucht, dass wir auch an dieser Welt teilhaben wollen, dass auch wir einmal da sein wollen, wo die Engel sind, wo sie jetzt schon Gott schauen dürfen.

II.

Aber genau da liegt nun unser Problem: Wir Menschen kommen von uns aus nicht an diese Welt heran, wir schaffen es nicht, dorthin zu kommen, wo Gott ist. Zu tief ist der Graben zwischen uns und der Welt Gottes, der Graben, den wir uns selber gebuddelt haben mit unserer Abwendung von Gott, als dass wir diesen Graben jemals überbrücken könnten. Da magst du noch so intensiv meditieren, da magst du noch so ein anständiges Leben führen – du wirst es nie schaffen, an Gott heranzukommen.
Und an dieser Stelle beginnt nun die Weihnachtsgeschichte, die wir eben gehört haben. Mit dem Kaiser Augustus beginnt sie, mit Quirinius, dem Statthalter in Syrien, mit Zeitangaben aus einer ganz normalen menschlichen Zeitrechnung der damaligen Zeit vor gut 2000 Jahren. Und in dieser ganz normalen menschlichen Zeit spielt sich nun Unfassliches ab: Gott selber überbrückt den Graben zwischen sich und uns und kommt in unsere menschliche Geschichte hinein, so, dass er selber ein Teil dieser Menschheitsgeschichte wird, zu einem ganz konkreten Zeitpunkt, an einem ganz konkreten Ort. Nein, St. Lukas beginnt hier gerade nicht mit den Worten „Es war einmal“, wie Märchen zu beginnen pflegen. Ob das, was in Märchen geschildert wird, wirklich geschehen ist, ist eigentlich egal; schöne Geschichten sind das allemal. Ob das, was uns St. Lukas schildert, wirklich geschehen ist, ist nicht egal, denn hier geht es um nicht weniger als um die entscheidende Antwort auf die Menschheitsfrage: Wo ist Gott?
Unterwegs ist Gott, so erfahren wir hier zunächst einmal, unterwegs im Leib der Gottesmutter Maria, die sich mit Joseph auf den Weg von Nazareth nach Bethlehem begibt. Und als Maria dann ihr Kind gebiert, geschieht dies nicht in einer Privatklinik, nicht in einem Palast, sondern in einem Stall, mitten zwischen den Tieren, die dort herumstanden, so unauffällig, dass das die anderen Menschen in der Umgebung vermutlich erst mal gar nicht mitbekommen haben. Weihnachten war damals ja noch kein gesetzlicher Feiertag; die Leute lauerten nicht darauf, da in einem Ziegenstall irgendwo Babygucken gehen zu können. Gott kommt zur Welt, lässt sich in einen Futtertrog legen – und die Menschen merken es erst einmal überhaupt nicht.
Das, Schwestern und Brüder, ist die zweite aufregende Antwort, die uns St. Lukas hier auf die Frage gibt, wo denn Gott ist: Gott, derselbe Gott, der seine Heimat im Himmel hatte, umgeben von den Chören der Engel, kommt zu uns Menschen, kommt zu uns als ein kleines Kind, lässt sich finden an einem konkreten Ort, in einer Krippe. Und damit hat Gott nun ganz teil an unserem Menschenschicksal, erfährt es schon als kleines Kind, was es heißt, die Heimat aufgeben und verlassen zu müssen, in der Fremde leben zu müssen, erfährt es weiter in seinem Leben am eigenen Leibe, was es heißt, Hunger und Durst zu haben, was es heißt, krank zu sein, was es heißt, traurig zu sein, was es heißt, Schmerzen zu haben, ja, was es heißt, sterben zu müssen.
Nein, all das macht Gott nicht, weil er sich auf einen Selbsterfahrungstrip begibt, so eine Art von Dschungelcamp auf höherem Niveau. Nein, Gott begibt sich in unsere Geschichte, begibt sich dort in diese Krippe hinein, weil er möchte, dass wir einmal dort sein können, wo er von Ewigkeit her war: im Himmel. Gott erleidet unser Menschenschicksal, um uns eine Brücke in den Himmel zu bauen, ja, um uns über diese Brücke selber zu sich zu führen. Ja, die Hirnforscher haben schon recht, wenn sie versuchen, Gott in dieser Welt zu finden. Aber sie suchen eben in der völlig falschen Ecke: Sie suchen in unserem Gehirn statt in einem Futtertrog, sie unterschätzen, wie tief Gott zu uns heruntergekommen ist: so tief, dass er sich in Windeln wickeln lässt.

III.

Gott ist im Himmel, in der Höhe, und er ist hier auf Erden, lässt sich finden im Stall von Bethlehem. Das sind zwei Antworten auf die Frage, wo Gott ist. Aber eine ganz entscheidende Antwort fehlt nun immer noch, und diese Antwort lautet: Gott ist auch in dir.
Diese Antwort kann man nun allerdings sehr leicht missverstehen. Man könnte sie so missverstehen, als ob wir gleichsam von Geburt an irgendetwas Göttliches in uns tragen, das wir im Laufe unseres Lebens nur entdecken und dann entsprechen pflegen und kultivieren müssen. Nein, von Natur aus ist Gott überhaupt nicht in dir, da kannst du noch so sehr in dir herumwühlen, du wirst nicht irgendwo in einem Winkel deiner Seele fündig werden. Und natürlich würde man diese Antwort erst recht missverstehen, wenn man behauptete, Gott sei in diesem Sinne in uns, dass wir ihn in unseren Gedanken, in unseren Gefühlen überhaupt erst hervorbringen.
Und doch stimmt es: Gott kannst du auch in dir finden, ja, erst wenn du dir das klar machst, hast du überhaupt erkannt, worum es zu Weihnachten geht: „Euch, euch ist heute der Heiland geboren“, so verkündigte es der Engel den Hirten von Bethlehem: Gott ist nicht bloß allgemein in diese Welt gekommen, sondern er ist zu euch, zu einem jeden von euch gekommen, will im Leben eines jeden von euch zuhause sein. Und was das bedeutet, das singen die Mengen der himmlischen Heerscharen alle miteinander: Es bedeutet Frieden auf Erden, Frieden, das heißt ungetrübte Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen.
Ja, genau dieser Frieden, von dem die Engel in der heiligen Nacht sangen, genau diese ungetrübte Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen ist dir ganz persönlich geschenkt worden am Tag deiner heiligen Taufe. Da ist Christus, dein Herr, in dein Leben hineingekommen, hat in dir Wohnung genommen. Ja, der Weg Gottes, er ist weitergegangen, hat ihn geführt vom Himmel über die Krippe von Bethlehem über den Taufstein bis in dein Herz. Gott in dir – darum ging es bei deiner Taufe, darum geht es jedes Mal wieder, wenn du hierher nach vorne kommst, um im Heiligen Abendmahl den Leib und das Blut deines Herrn zu empfangen. Da wird es bei dir jedes Mal ganz persönlich Weihnachten, wenn Christus auch zu dir kommt, genauso unscheinbar wie damals in Bethlehem, verborgen in den Gestalten von Brot und Wein. Nein, Christus lebt nicht bloß irgendwo in deinen Gehirnzellen, er lebt ganz in dir, in deinem Körper, deiner Seele, deinem Geist. So macht Christus es möglich, dass du nicht für immer draußen vor bleiben musst vor Gottes Welt, dass du nicht bloß sehnsüchtig von diesem Ziel zu träumen brauchst, sondern dort selber einmal hinkommst. Weil Christus in diese Welt gekommen ist, weil er in dein Leben hineingekommen ist und immer wieder hineinkommen will, darum darf auch bei dir große Freude herrschen trotz all dessen, was dich an diesem Abend bedrücken mag. Gott ist dir nicht fern; er schenkt dir seinen Frieden, die Gemeinschaft mit ihm – heute Abend und immer wieder, wenn wir im Gottesdienst mit einstimmen in den Gesang der Engel im Himmel. Halte dich darum nur an die Erkennungszeichen, die Gott selber dir nennt: die Windeln, das Wasser der Taufe, die Gestalten von Brot und Wein. Dann wirst du fündig werden bei deiner Suche nach Gott, ja, schon jetzt in diesem Leben – bis auch dich einmal die Klarheit des Herrn umleuchten wird, dort, wo du dich nie mehr zu fürchten brauchst. Amen.