28.12.2008 | St. Matthäus 2, 13-18 (Tag der unschuldigen Kinder)

TAG DER UNSCHULDIGEN KINDER – 28. DEZEMBER 2008 – PREDIGT ÜBER ST. MATTHÄUS 2,13-18

Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir's sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«
Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht (Jeremia 31,15): »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Habt ihr auch von weißen Weihnachten geträumt? Spätestens seit die Schnulze von Bing Crosby zu einem Welthit wurde und seitdem jedes Jahr in den Wochen vor Weihnachten aus allen möglichen Lautsprechern erklingt, ist der Schnee für viele zum entscheidenden Weihnachtsrequisit geworden: Ob denn zu Weihnachten auch der Schnee leise vom Himmel rieselt, war in den vergangenen Wochen eines der wichtigsten Themen der diversen Wettervorhersagen: Ach, eine richtig schöne Winterlandschaft, möglichst noch mit den klingelnden Glöckchen eines Rentierschlittens – das wär doch was, dann wäre es endlich mal wieder richtig Weihnachten gewesen! Doch auch in diesem Jahr war die Landschaft hier in Berlin nicht weiß, sondern, mit Loriot zu sprechen, eher braungrüngrau. Alle anders gearteten Träume haben sich wieder einmal in Luft aufgelöst; spätestens heute, am Sonntag nach Weihnachten, wenn die ersten Tannenbäume von den Balkons der Häuser auf die Straßen fliegen, sind wir wieder auf dem Boden der Realität angekommen.
Ja, so sind wir Menschen: Wir flüchten uns immer wieder so gerne in Traumwelten, pflegen so gerne unsere Illusionen von einer heilen, perfekten Welt, sauber und rein wie frisch gefallener Schnee. Doch früher oder später müssen wir feststellen: Diese heile, perfekte Welt, von der wir so gerne träumen, die finden wir nicht; die Welt, die uns umgibt, ist eine ganz andere. 
Und genau darum geht es nun auch im Heiligen Evangelium des heutigen Tages: Da träumt auch einer, Joseph mit Namen. Doch er träumt nicht von einer weißen Weihnacht und nicht von Rentierschlitten; er flüchtet sich nicht in einen Traum, sondern lässt sich von den Anweisungen, die Gott ihm im Traum gibt, dazu anleiten, so schnell wie möglich in diesem wirklichen Leben zu fliehen – nicht in eine künstliche Welt, sondern in die sehr reale Welt eines Flüchtlingslagers im Nahen Osten. Nein, Joseph macht sich keinerlei Illusionen – und leitet uns damit zugleich dazu an, auch von liebgewonnenen Illusionen Abschied zu nehmen. Ja, nicht weniger als drei Illusionen werden uns im Heiligen Evangelium des heutigen Tages genommen:

- die Illusion, dass in dieser Welt alles immer besser wird
- die Illusion, dass alle Menschen Jesus gut finden
- die Illusion, dass wir schon allein klarkommen

I.

Eine scheußliche Geschichte wird uns hier von St. Matthäus erzählt: Ein größenwahnsinniger König, der auch nicht davor zurückscheute, seine Frau und eine ganze Reihe von seinen Söhnen umbringen zu lassen, wenn sie nicht seinen Vorstellungen entsprachen oder ihm hätten gefährlich werden können, lässt einfach mal so lauter kleine Kinder im Alter von zwei Jahren und darunter töten, weil er sich von ihnen bedroht fühlt, weil er fürchtet, dass eines von diesen Kindern später einmal seine Herrschaft in Frage stellen könnte. Kinder werden dem Machterhalt eines Königs geopfert; andere schaffen es im letzten Augenblick noch zu fliehen, müssen nun ihr Leben in der Fremde, irgendwo in einem Flüchtlingslager verbringen.
Mehr als zweitausend Jahre sind seitdem vergangen; doch wir brauchen nicht lange zu überlegen, um festzustellen, dass sich bis heute in unserer Welt nicht viel verändert hat. Während wir hier heute Morgen mehr oder weniger gemütlich in unseren Kirchenbänken sitzen, sterben in Simbabwe im Süden Afrikas Tag für Tag mehr Kinder, weil ein größenwahnsinniger Diktator für den Erhalt seiner Macht auch über Leichen geht und nicht dazu bereit ist, Helfer in seine Land zu lassen. Während wir hier heute Morgen in den Kirchenbänken sitzen, hausen immer noch Hunderttausende von Menschen in Flüchtlingslagern im Sudan, ständig in Angst, von bewaffneten Banden überfallen zu werden, ohne Hoffnung, ohne Zukunft. Während wir hier heute Morgen in den Kirchenbänken sitzen, sind in Indien viele Christen auf der Flucht vor fanatischen Hindus, die auch vor dem Mord an Kindern und Frauen nicht zurückschrecken. Ach, Schwestern und Brüder, ich könnte die Liste jetzt noch lange weiterführen, die Liste vom Sterben unschuldiger Kinder, von Regierungen, für die das Schicksal einzelner Menschen gar nichts bedeutet, wenn es um die Wahrung ihrer Interessensphäre geht, von Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, weil dort ihr Leben bedroht ist, weil sie dort für sich keine Zukunft mehr sehen. Ja, so sieht sie aus, unsere Welt, wie sie uns tagtäglich im Fernsehen vor Augen geführt wird, so sieht sie aus, unsere Welt, hat sich in den letzten 2000 Jahren in keiner Weise verändert. Wie sollte sie auch, wenn doch der Mensch, der für all dieses Leid verantwortlich ist, sich in der Zwischenzeit nicht grundlegend verändert hat, im Zweifelsfall immer wieder erst einmal auf den eigenen Vorteil aus ist, auch wenn das nicht immer so offenkundig wird wie an den großen Krisenherden unserer Erde.
Ja, der Mensch bleibt immer wieder derselbe, nimmt sich immer wieder das Recht heraus, über das Leben anderer Menschen bestimmen zu können: Zwei Jahre und darunter – so entschied damals Herodes in Bethlehem; all die Kinder, die nicht älter sind als zwei Jahre, haben kein Lebensrecht, dürfen meine Existenz als König nicht gefährden. Drei Monate und darunter – so lautet die Grenze, die Menschen in unserem Land aufgestellt haben, eine Grenze, die über Leben oder Tod ungeborener Kinder entscheidet: Wenn ein ungeborenes Kind noch keine drei Monate ist, dann können andere über sein Lebensrecht entscheiden, darüber, ob es in ihre Lebensplanung passt oder nicht, ob sie es haben wollen oder nicht – und sollte das Kind behindert sein, lässt sich diese Grenze auch noch sechs weitere Monate nach oben verschieben. Rahel beweinte damals wenigstens noch ihre Kinder; in unserem Land ist es mittlerweile schon Normalität geworden, über die sich kaum noch einer aufregt, dass jedes Jahr bei uns weit mehr als 100.000 Kinder bereits vor ihrer Geburt getötet werden – auf nicht weniger brutale Weise als damals die Kinder von Bethlehem und Umgebung, ja, dass gerade hier in Berlin fast jedes dritte Kind abgetrieben wird. Ja, so sieht sie aus, die Welt, in die Christus damals hineingeboren wurde und die sich seitdem bei allen technischen Fortschritten im Grundsatz bis heute nicht verändert hat.

II.

Eine zweite Illusion nimmt uns St. Matthäus im Heiligen Evangelium des heutigen Tages: die Illusion, dass letztlich doch alle Menschen Jesus gut finden, dass er und seine Botschaft doch eigentlich überall auf Zustimmung stoßen müssten.
In den letzten Tagen nach dem schweren Einbruch in unser Gemeindehaus hörte ich immer wieder den Kommentar: Haben die Menschen denn gar keinen Respekt mehr? Wenigstens vor einer Kirche und ihrem Geld sollten sie doch die Finger lassen! Ach, Schwestern und Brüder, da sind wir gerade auch als Christen mitunter reichlich naiv, glauben vielleicht allen Ernstes, wir könnten zumindest hier in der Kirche, in der Gemeinde so eine Art von heiler Welt haben, auch ohne weihnachtlichen Schnee, eine heile Welt, die von außen doch nicht gefährdet werden kann, die uns doch eigentlich keiner kaputtmachen kann.
Da brauchte es eigentlich gar nicht des Einbruchs in der letzten Woche, da hätte schon ein Blick ins Heilige Evangelium des heutigen Tages gereicht, um zu erkennen, dass dies in Wirklichkeit nicht so ist: Da kommt Christus, der Sohn Gottes, in diese Welt – und die Leute jubeln ihm nicht zu, bilden kein Spalier bei seinem Einzug in diese Welt, reservieren ihm keine Luxussuite, sondern versuchen im Gegenteil gleich, ihn umzubringen, jagen ihn außer Landes, lassen ihn gleich in den ersten Jahren seines Lebens das Elend eines Asylbewerbers hautnah erleben. Keinen Respekt haben sie vor ihm, fühlen sich im Gegenteil von ihm bedroht, verwehren es ihm, in vertrauter Umgebung aufzuwachsen wie andere Kinder auch.
Wo Christus hinkommt, da gibt es Ärger – das war damals im Neuen Testament schon der Fall, und das ist bis heute so. Nun sollten wir den Einbruch in der vergangenen Woche nicht als Akt der Kirchen- oder Christusfeindlichkeit werten – immerhin hatten die Einbrecher noch so viel Respekt, dass sie uns die Sakramentsgeräte zurückließen. Aber wir sollten ganz nüchtern sein: Wo Christus, der Herr, auftritt, da ruft er auch seine Gegner auf den Plan, werden die schon dafür sorgen, dass es in seiner Nähe nicht allzu friedlich und idyllisch zugeht. Das Schicksal der verfolgten Christen in so vielen Ländern dieser Erde macht uns dies nur allzu deutlich. Schwestern und Brüder, ich sage das gerade deshalb, weil es uns in unserer Gemeinde so gut geht, weil wir uns hier so geborgen fühlen, weil wir hier tatsächlich immer wieder so etwas wie ein Stück heile Welt erfahren und vielleicht meinen, das sei doch normal, ja, das müsse vielleicht so sein. St. Matthäus warnt uns im Heiligen Evangelium: Wundert euch nicht, wenn es anders kommt, wundert euch nicht, wenn der Teufel sich das nicht einfach so bieten lässt, dass es uns hier in der Gegenwart Christi so gut geht. Die 7000 Euro, die uns geklaut wurden, sind noch die allerharmloseste Form der Anfechtung, die wir zu erleiden haben. Die Mächte des Bösen haben noch ganz andere Tricks auf Lager als bloß das Aufbrechen von Türen. Ihnen geht es letztlich immer wieder darum, diesen Christus und seine Verkündigung totzukriegen, mit welchen Mitteln auch immer. Glaubt doch nicht, das sei dem Teufel egal, dass ihr heute Morgen hier schon wieder alle in der Kirche sitzt! Das findet der gar nicht witzig. Lasst euch darum nicht irritieren, wenn er zum Gegenangriff übergeht, auch bei uns, wenn er versucht, uns genau die Freude am Glauben zu nehmen, die wir hier in unserer Gemeinde immer wieder erfahren dürfen. Er ist und bleibt bei allem Toben doch immer der Verlierer!

III.

Und damit sind wir schon bei der dritten Illusion, die uns St. Matthäus hier nimmt, der Illusion, als würden wir in unserem Leben letztlich doch allein klarkommen.
Warum erzählt uns St. Matthäus diese ganze scheußliche Geschichte eigentlich? Er erzählt sie uns nicht, damit wir uns einfach über diese böse Welt empören. Er erzählt sie uns auch nicht, um uns zum Kampf gegen das Böse aufzurufen und zum Einsatz für die Armen und Unterdrückten, besonders für die Kinder und Flüchtlinge. All dies wäre ja nicht falsch, und wir tun gut daran, die Menschen in den Flüchtlingslagern von Darfur ebenso wenig aus unseren Augen zu verlieren wie die verfolgten Christen in so vielen Ländern dieser Erde und die ungeborenen Kinder in unserem eigenen Land und für sie unsere Stimme zu erheben, wo dies möglich ist.
Doch St. Matthäus geht es um mehr: Ihm geht es um das Geschick dieses einen „Kindlein“, wie Luther hier übersetzt, um das Geschick des Christuskindes. Scheinbar hat es hier in dieser Geschichte ja Glück gehabt, scheinbar ist es ja ungerecht, dass Gott bei seinem eigenen Sohn noch rechtzeitig eingreift, ihn am Leben lässt, während all die anderen Altersgenossen in Bethlehem ums Leben kommen. Doch Gott verschont seinen Sohn hier nicht, damit der sich in Ägypten eine schöne Zeit am Strand von Hurghada macht. Sondern er verschont ihn, damit er am eigenen Leibe erfährt, was es heißt, ein Flüchtling zu sein, verfolgt zu sein, ja, damit er später am eigenen Leibe erfährt, was es heißt, angefeindet zu sein, ja mehr noch: unschuldig angeklagt, gefoltert, brutal ermordet zu werden. Christus kommt am Ende doch nicht davon, muss selber sterben, menschlich gesprochen viel zu jung. Und doch ist sein Geschick nicht einfach bloß ein tragisches Geschick unter unzähligen anderen auf dieser Welt: Er, Christus, geht diesen Weg, damit wir angesichts all dessen, was wir in dieser Welt an Furchtbarem erfahren, nicht zu verzweifeln brauchen. Ja, er geht diesen Weg, damit am Ende eben nicht die Mächte des Bösen triumphieren. Wer an ihn, den Gekreuzigten, glaubt, wer durch die Taufe zu ihm gehört, dem schenkt er Anteil an seiner neuen Welt, in der wir nie mehr auf der Flucht sein werden, in der es keinen Mord und keinen Totschlag mehr gibt, in der Menschen nicht mehr ihren eigenen Willen mit aller Gewalt durchsetzen, sondern ganz und gar unter der befreienden Herrschaft ihres Herrn Jesus Christus leben.
Nein, wir werden es niemals hinbekommen, diese neue Welt zu schaffen; wir können von dieser neuen Welt noch nicht einmal recht träumen. Doch darum ist Christus damals in Bethlehem geboren worden, darum ist er geflohen, darum ist er gestorben und auferstanden, um diese neue Welt zu errichten, die kein Ende mehr haben wird, ja, in der es unendlich schöner sein wird als in jeder noch so romantischen Winterlandschaft. Nein, von dieser neuen Welt braucht ihr nicht bloß zu träumen; sie bricht schon jetzt und hier an in unserer Mitte, wenn Christus zu uns kommt. Und wenn euch das aufgeht, dann habt ihr auf jeden Fall schöne Weihnachten – ganz gleich, ob es schneit oder nicht. Amen.