04.03.2007 | St. Johannes 8, 21-30 (Reminiszere)

REMINISZERE – 4. MÄRZ 2007 – PREDIGT ÜBER ST. JOHANNES 8,21-30

Jesus sprach zu den Juden: Ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen. Da sprachen die Juden: Will er sich denn selbst töten, daß er sagt: Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen? Und er sprach zu ihnen: Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. Darum habe ich euch gesagt, daß ihr sterben werdet in euren Sünden; denn wenn ihr nicht glaubt, daß ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden. Da fragten sie ihn: Wer bist du denn? Und Jesus sprach zu ihnen: Zuerst das, was ich euch auch sage. Ich habe viel von euch zu reden und zu richten. Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt. Sie verstanden aber nicht, daß er zu ihnen vom Vater sprach. Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, daß ich es bin und nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er läßt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. Als er das sagte, glaubten viele an ihn.

Er hatte Germanistik und Philosophie studiert und bis vor fünf Jahren in seinem Beruf gearbeitet. Doch jetzt lag er da im Bett, geschwächt von der regelmäßigen Dialyse, von Hepatitis C, einem Nierenzell-Karzinom und diversen Operationen, so berichtet es der „heute“-Moderator und Theologe Stephan Kulle in seinem Buch „Warum wir wieder glauben wollen“. Als Stephan Kulle ihn eines Tages im Krankenhaus besucht, da richtet Markus, so heißt dieser Mensch, an ihn mit einem Mal eine völlig überraschende Bitte: „Hilf mir glauben!“ Stephan Kulle traute seinen Ohren nicht, denn dieser Markus hatte sich doch immer als Atheist bezeichnet. Die Bitte traf ihn offenbar völlig unvorbereitet, denn Kulle antwortete: „Wie soll ich das machen? Das muss doch von dir kommen …“ Doch Markus antwortete: „Aber ich kann nicht!“ „Doch, du kannst. Mach es doch einfach!“, erklärte Stephan Kulle; doch damit half er seinem Gesprächspartner offenkundig nicht weiter.
„Mach es doch einfach!“ – Ach, wenn das mit dem Glauben doch nur so einfach wäre, wie es der Ratschlag von Stephan Kulle seinem Freund hier nahelegt. Doch er hat es damals erfahren, und wir erfahren es in unserem Alltag auch immer wieder, dass das so einfach eben nicht klappt, dass wir Glauben eben nicht machen können, dass wir einem anderen auch nicht den Glauben irgendwie einreden oder einpflanzen können, selbst wenn wir und wenn vielleicht sogar die Betroffenen selber das gerne wollen. Eine schmerzliche Erfahrung ist das, eine Erfahrung, mit der wir uns oft genug nicht abfinden wollen, und so überlegen wir uns immer wieder Argumente, Tricks und Methoden, wie wir es vielleicht doch schaffen können, den anderen irgendwie rumzukriegen, oder, schlimmer noch, wir kommen vielleicht gar auf die Idee, wir hätten es in dem einen oder anderen Fall tatsächlich geschafft, einen Menschen zum Glauben zu bringen.
Und damit sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung des heutigen Sonntags: Da begegnen wir auch Menschen, die nicht glauben können, erleben mit, wie Christus selber mit diesen Menschen, die nicht glauben können, umgeht – eben doch ein wenig anders, als Stephan Kulle es damals am Bett von Markus getan hat. Ja, vom Glauben spricht St. Johannes hier in den Versen unserer heutigen Predigtlesung, stellt uns hier Dreierlei vor Augen:

- die Unmöglichkeit des Glaubens
- den Grund des Glaubens
- die Wirklichkeit des Glaubens

I.

„Doch, du kannst. Mach es doch einfach!“ – So hatte Stephan Kulle auf den Einwand von Markus geantwortet, er könne nicht glauben. Wie ganz anders antwortet Christus hier bei St. Johannes: Er sagt zu denen, mit denen er sich dort im Tempel unterhielt, er sagt auch zu Markus: „Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.“ Anders formuliert: Lieber Markus, du hast völlig Recht, du kannst nicht glauben, und du wirst auch niemals glauben können. Denn du hängst mit jeder Faser deines Daseins an dieser Welt, an dieser irdischen Welt, die vergeht, wie du das ja gerade auch an dir selber und an deinem eigenen Leben erfahren kannst. Nein, der Glaube ist keine natürliche Fähigkeit, die ganz tief in jedem Menschen schlummert und die man nur entdecken und aus sich herauskitzeln muss. Du und ich, wir funken von Natur aus auf völlig verschiedenen Wellenlängen, und du bist von dir aus nicht dazu in der Lage, deinen Empfänger auf meine Wellenlänge einzustellen. Ja, du hast völlig Recht: Du kannst nicht glauben.
Und diese Auskunft gibt Christus eben nicht bloß seinen Gesprächspartnern damals und dem Markus, sondern die gibt er einem jeden von uns: Du kannst nicht glauben. Denn du bist von unten her, und ich bin von oben her. Wenn du sagst, dass du glaubst, dann liegt das nicht an dir, nicht daran, dass du religiös musikalischer wärest als dieser Markus, dann liegt das nicht daran, dass du eine bessere christliche Erziehung, eine bessere religiöse Sozialisation hattest als dieser Markus, nein, dann liegt das an überhaupt keinem Menschen. Im Gegenteil: Das erfährst du doch auch jetzt noch immer wieder in deinem Leben, was das heißt, dass du von unten her bist: Du spürst sie doch immer wieder so deutlich – die Schwerkraft der Dinge dieser Welt, die dich so sehr binden und fesseln, dass du von dir aus gar nicht dagegen ankommst. Das merkst du doch immer wieder, wenn es darum geht, was denn nun das Wichtigste in deinem Leben sein soll, wie ich, Christus, dir da immer wieder in den Hintergrund rutsche, selbst wenn du Christ bist und dies auch gerne sein willst. Du kennst sie doch, die Schwerkraft deiner Bettdecke am Sonntagmorgen, du kennst sie doch, die Anziehungskraft von anderen Terminen, die doch scheinbar so viel wichtiger sind, als mir zu begegnen, du kennst sie doch, deine Sorgen um Geld, um Gesundheit, um deine Familie, die dich nicht loslassen und dich immer wieder nach unten ziehen, dorthin, wo du herkommst. Du kennst sie doch, deine Zweifel, ob es sich denn wirklich lohnt zu glauben, ob das nicht letztlich doch alles nur Einbildung ist. Ja, du kennst sie doch, deine Trauer im Angesicht des Todes eines lieben Menschen, die dich immer wieder nur nach unten blicken lässt, auf das Grab, ja, du kennst sie doch auch, die Angst vor deiner eigenen Vergänglichkeit, die Angst davor, etwas zu verpassen in der kurzen Zeit, die dir hier auf der Erde doch nur zur Verfügung steht. Nein, du bist grundsätzlich nicht anders als Markus, du bist wie er von unten her, von dieser Welt.
„Ihr seid von unten her, ich bin von oben her“, sagt Christus. Dieser Abstand ist so groß, dass wir ihn nicht überbrücken können. Wir kommen nicht an Christus heran, indem wir uns in der Meditation ganz tief in uns selber versenken, nein, da unten finden wir ihn nicht. Wir kommen nicht an Christus heran, indem wir uns kluge philosophische Gedanken darüber machen, dass all das, was wir in dieser Welt erleben, doch nicht einfach Zufall sein kann, dass dahinter doch eine höhere Intelligenz stehen muss. Und wir kommen auch nicht an Christus heran, indem wir uns bemühen, religiös zu sein, uns mit unseren Gedanken und Gefühlen ganz auf Gott hin auszurichten. Nein, selbst und gerade dann schaffen wir es noch nicht einmal, von uns aus Christus und sein Wort zu verstehen, so stellt es uns St. Johannes in seinem Evangelium immer wieder sehr eindrücklich vor Augen: Da redet Christus von seinem Weggang, seinem Kreuzestod und seiner Auferstehung – und seine Zuhörer meinen, er würde davon reden, dass er sich selber töten will. Da hat Christus in den Versen, die unserer Predigtlesung voraufgehen, seinen Zuhörern gerade bezeugt: Ich bin das Licht der Welt. Und nun fragen ihn seine Zuhörer schon wieder: Wer bist du denn? Da redet Christus von dem, der ihn gesandt hat – und da denken seine Zuhörer an alle möglichen Leute, aber nicht daran, dass Gott, sein Vater, der sein könnte, von dem Christus hier spricht. Nein, da geht es nicht darum, dass Christus sich hier etwa bloß ungeschickt ausgedrückt hätte, dass er seine Botschaft nicht ausreichend vermittelt hätte – es geht darum, dass jemand, der von unten her ist, den, der von oben her ist, nicht verstehen kann. Ach, Schwestern und Brüder, wie oft haben wir selber vielleicht schon solche Erfahrungen gemacht, dass wir alles, wirklich alles versucht haben, um Menschen den Glauben nahezubringen – und wir merken: Es geht nicht, da lässt sich nichts vermitteln.
Und das ist eben nicht bloß schade. Wer nicht an Christus glaubt, dessen Leben ist nicht bloß ein bisschen begrenzter als das anderer Leute, der muss nicht bloß auf ein paar schöne Erfahrungen verzichten. Sondern aus diesem Glauben an Christus folgt nicht weniger als das Leben, als das ewige Leben in der Gemeinschaft mit ihm. „Wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden“, sagt Christus. Sünde – das ist eben nicht zuerst und vor allem eine moralische Verfehlung. Menschen können moralisch höchst anständig sein und doch in ihrer Sünde sterben, denn Sünde heißt, so macht es uns Christus hier deutlich, nichts anderes als Trennung von Gott: ihr von unten – ich von oben. Und Trennung von Gott heißt: Trennung vom Leben, bedeutet, dass unser Lebenshorizont nicht weiterreicht als bis zum Tod, zum ewigen Tod. Das macht unsere Lage so dramatisch, darum ist es nicht bloß schade, wenn ein Mensch nicht an Christus glaubt: Ihm wird damit seine gesamte Zukunft genommen, er bleibt selbst und gerade in seinem Tod noch getrennt von Gott.

II.

Aber nun begnügt sich Christus nicht damit, festzustellen, dass seine Zuhörer nun mal von unten her sind und er von oben her, sondern er sagt etwas noch Wichtigeres: Er sagt: ICH BIN!
„Ich bin!“ – Nun ja, magst du antworten, das ist ja nun wirklich nichts Besonderes, das kann ich auch sagen: Ich bin, ich existiere. Doch wenn Christus sagt: ICH BIN, dann meint er damit noch einmal etwas ganz Anderes: ICH BIN, das ist nichts Anderes als der Name Gottes selber, der Name, mit dem Gott sich damals dem Mose am brennenden Dornbusch zu erkennen gegeben hat. Wenn Christus sagt: ICH BIN, dann heißt das nicht weniger als dies: Ihr seid von unten her, ihr könnt nicht zu Gott kommen, aber Gott, der lebendige Gott, der ist nun zu euch gekommen, zu euch ganz nach unten, hier steht er vor euch, schaut her, ich bin’s. Wenn ihr Gott suchen und finden wollt, dann schaut nicht tief nach Innen, dann schaut nicht nach oben in die Wolken, sondern dann schaut auf mich, ja, mehr noch: Schaut auf das Kreuz, an dem ich nun bald hängen werde. Da sollt ihr Gott finden, da sollt ihr erkennen, wer Gott wirklich ist: nicht irgendein merkwürdiges höheres Wesen, das man sich vorstellen kann oder auch nicht, sondern ein Gott, der die Liebe in Person ist, der es vor lauter Liebe zu den Menschen nicht ausgehalten hat, oben zu bleiben, sondern der ganz tief nach unten gekommen ist, der selber die Trennung zwischen sich und den Menschen überwunden hat, der selber ihre Schuld getragen hat, der selber das Leid der Menschen auf sich genommen und erlitten hat, ja, wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet am Kreuz, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin, dann werdet und sollt ihr mich dort am Kreuz erkennen, mich, den ICH BIN, mich, den lebendigen Gott.
Nicht zu kapieren ist das, was Christus da erzählt, nicht einleuchtend für unsere menschliche Vernunft, für unsere Logik. Doch wenn Christus dies seinen Zuhörern, wenn er es auch uns verkündigt, dann tut er es eben nicht bloß, um zu demonstrieren, dass das ja doch keiner verstehen kann, was er sagt. Sondern er verkündigt dies damals seinen Zuhörern und uns heute, weil er weiß, dass sein Wort Kraft hat, Kraft, um die Kluft zwischen oben und unten zu überbrücken, Kraft, um den Glauben zu schaffen, den wir Menschen nicht machen können, sondern der ganz und gar Gabe und Wirkung dieses Wortes ist und bleibt.
Und darum brauchen wir eben nicht zu resignieren, brauchen erst recht nicht Menschen, die glauben wollen, auf sich selber zu verweisen und ihnen zu sagen: „Du kannst, mach es doch einfach!“ Nein, wir sollen und dürfen ihnen diesen Gott bezeugen, der ganz konkret Gestalt angenommen hat in dem gekreuzigten Christus, sollen und dürfen reden von diesem Gott, der ganz zu uns gekommen ist, sich ganz auf unsere Ebene begeben hat, sollen und dürfen reden von diesem Gott, der am Kreuz gezeigt hat, wie unendlich lieb er uns hat, dem unser Leid, dem unsere Schuld, dem unser Tod nicht egal sind, sondern der selber all dies auf sich genommen hat, damit unser Leben eben nicht einfach zu Ende ist, wenn die Dialyse nicht mehr funktioniert, wenn die Operation keinen Zweck mehr hat, wenn die Schmerzen zu groß werden, wenn sich die Atmung und die Herzschlagfrequenz nicht mehr stabilisieren lassen. Ja, diese Botschaft hat Kraft, die vermag Glauben zu wirken, jawohl, Glauben, der hält und trägt im Leben und im Sterben, nicht bloß ein bisschen Gläubigkeit, mit der man sich selber Mut macht, weil man sonst nicht mehr weiter weiß. Denn in dieser Botschaft von dem gekreuzigten ICH BIN, von dem gekreuzigten Gott, ist Christus selber gegenwärtig, umfängt uns mit seinem Wort, lässt uns mit sich eins werden. Und nichts anderes als diese Gemeinschaft mit Christus ist der Glaube, der Glaube, den wir selber nicht machen können.

III.

Und was Christus uns hier vor Augen stellt, das ist eben nicht bloß graue Theorie, sondern das geschieht, immer und immer wieder, damals und auch heute noch. Nun bin ich im Unterschied zu Stephan Kulle Pastor, und von daher kann und darf ich meine seelsorgerlichen Gespräche nicht in Büchern und auch nicht auf der Kanzel zum Besten geben. Sonst könnte ich euch da natürlich auch eine Menge erzählen. Aber davon brauche ich auch gar nicht zu berichten. In unserer Predigtlesung selber heißt es am Ende: „Als er das sagte, glaubten viele an ihn.“ Und wenn ich Belege aus der heutigen Zeit anführen möchte, dann brauche ich ja nur auf euch zu verweisen, auf euch, die ihr heute Morgen hier in der Kirche sitzt. Auch für euch gilt ja, was ihr einmal im Kleinen Katechismus gelernt habt: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten.“ Euch hat Christus mit seinem Wort erreicht, hat in euch diesen Glauben an ihn, den Gekreuzigten, gewirkt, hat euch schon in eurer Taufe umfangen und verbindet sich mit euch nun auch gleich wieder in seinem Heiligen Mahl, schenkt euch diese Gemeinschaft mit sich, die nichts anderes als der Glaube ist. Nein, von diesem Glauben brauchst du nichts zu fühlen und zu spüren. Er hängt doch nicht an dir und deinen Möglichkeiten. Schau nur auf ihn, den gekreuzigten Christus, höre nur auf sein Wort, das arbeitet an dir und in dir, selbst wenn du es selber gar nicht mitbekommst, das zieht dich zu ihm, deinem Herrn und Gott, ist dazu in der Lage, auch alle Widerstände in dir zu knacken. Seit deiner Taufe bist du doch nicht mehr bloß von unten her, bist du doch von oben her neu geboren, besteht deine Lebensperspektive nicht mehr darin, dass du stirbst in deinen Sünden. Nein, leben darfst du, leben wirst du für immer, in alle Ewigkeit, in der Gemeinschaft mit ihm, dem ICH BIN, dem lebendigen Gott, der für dich so tief heruntergekommen ist, der für dich am Kreuz gehangen hat, damit du auch einmal dorthin kommst, wohin er als erster gegangen ist: in den Himmel. Amen.