26.12.2007 | Hebräer 10, 32-34.39 (St. Stephanus)

ST. STEPHANUS - 26. DEZEMBER 2007 – PREDIGT ÜBER HEBRÄER 10,32-34.39

Gedenkt aber der früheren Tage, an denen ihr, nachdem ihr erleuchtet wart, erduldet habt einen großen Kampf des Leidens, indem ihr zum Teil selbst durch Schmähungen und Bedrängnisse zum Schauspiel geworden seid, zum Teil Gemeinschaft hattet mit denen, welchen es so erging. Denn ihr habt mit den Gefangenen gelitten und den Raub eurer Güter mit Freuden erduldet, weil ihr wisst, dass ihr eine bessere und bleibende Habe besitzt.
Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten.

Das „Fest der Hiebe“ – so wird das Weihnachtsfest von Polizisten gerne bezeichnet. Das „Fest der Hiebe“ – ja, spätestens heute, am Zweiten Weihnachtsfeiertag kommt es in vielen Familien, in vielen Beziehungen zum großen Krach, fliegen die Fetzen, wie sonst das ganze Jahr oft nicht, so kann man es dann auch in Polizeiberichten nachlesen. Scheidungsanwälte verzeichnen nach den Weihnachtsfeiertagen regelmäßig einen Rekordansturm, und einer Umfrage zufolge fürchtete auch in diesem Jahr wieder jeder dritte Deutsche, dass ihm am Weihnachtsfest wieder der große Familienkrach bevorsteht. Es ist gleichermaßen grotesk und nachvollziehbar, dass ausgerechnet das angebliche Fest der Harmonie und der Liebe bei so vielen Jahr für Jahr ins Gegenteil mutiert: Wo man sich sonst in einer Familie, in einer Beziehung nicht viel zu sagen hat, wo der Weihnachtsfriede nur dadurch gesichert wird, dass sich alle eine Zeitlang kräftig zusammenreißen, ja, wo man auf das Weihnachtsfest all die Sehnsüchte nach Frieden und Harmonie projiziert, die man sonst das Jahr über schmerzlich vermisst, da ist es klar, dass es spätestens am 26. Dezember knallt, wenn die Kraft, sich zusammenzunehmen, nachlässt und der große Frust darüber hochkommt, dass auch dieses Weihnachtsfest nicht den erwünschten Himmel auf Erden herbeigeführt hat.
Weihnachten, das Fest der Hiebe – darum geht es auch in den Lesungen des heutigen Tages, des Zweiten Weihnachtsfeiertages, den die Kirche zugleich als Tag des Erzmärtyrers St. Stephanus begeht. Wenig weihnachtlich klingt das, was wir da eben in der Epistel dieses Festtages gehört haben; und doch sind es heilsame Worte, die uns helfen, das Geschehen der Weihnacht im rechten Licht zu besehen. Ja, als Christen wissen wir es, dass wir es an keinem Tag im Jahr, auch nicht zu Weihnachten fertig bekommen, selber das Paradies auf Erden zu schaffen, indem wir einfach mal lieb und nett zueinander sind. Christus ist nicht in eine Welt hineingeboren worden, in der eigentlich alles ganz in Ordnung ist und in der die Menschen nur mal wieder einen gewissen moralischen Rippenstoß benötigen, um anständig miteinander umzugehen. Nein, es stimmt schon, was wir in den vergangenen Tagen immer wieder aus voller Kehle gesungen haben: Welt ging verloren, Christ ist geboren. In eine verlorene Welt kommt Christus, in eine Welt, die wir Menschen nicht zum Guten zu verwandeln vermögen, auch wenn wir jetzt bald am Silvesterabend noch so viele gute Vorsätze fassen mögen.
Doch wenn wir Weihnachten als Fest der Hiebe bezeichnen, dann geht es nicht darum, dass wir ein wenig belustigt oder mit moralisch erhobenem Zeigefinger auf die Perversionen des Weihnachtsfestes verweisen, die Loriot in seiner Schilderung der Weihnachtsfeier bei Hoppenstedts unübertroffen beschrieben hat. Sondern wir denken an diesem Tag in besonderer Weise daran, dass nicht nur angespannte Beziehungen in einer Familie zu weihnachtlichen Konflikten führen können, sondern dass das Kommen Christi in diese Welt ganz grundsätzlich Konflikte heraufbeschwört, die sich nur um den Preis vermeiden ließen, dass Christus und sein Wort von uns, den Christen, verschwiegen oder verharmlost würden. Nein, Christus ist nicht gekommen, um Harmoniegefühle bei den Menschen auszulösen, sondern  wo er erscheint, wo er verkündigt wird, da stößt er auf Widerstand, so zeigt es das Beispiel des heiligen Stephanus, so macht es uns auch die Predigtlesung des heutigen Festtages aus dem Hebräerbrief deutlich, leitet uns als Christen dazu an, wie wir mit diesen unvermeidlichen Konflikten in der rechten Weise umgehen können. Sie ermuntert uns dazu,

- nüchtern zu bleiben
- Solidarität zu üben
- aufs Ziel zu blicken

I.

Dass die Erscheinung Christi in dieser Welt auf Widerstand stößt, scheint ja ein sehr gewagter Satz zu sein angesichts dessen, was wir in den letzten Tagen wieder in unserem Land erlebt haben: Menschen strömten in großen Scharen in die Kirchen und feierten die Geburt Jesu Christi. Wohl kaum ein böses Wort gegen Jesus wurde dabei laut, kein Wort der Ablehnung; alle fanden das ganz wunderbar, dass er da in der Krippe lag, und jeder bastelte sich dabei seinen eigenen Wunsch-Jesus zusammen, der das ganz und gar unterstützte, was man doch immer schon gemeint und gedacht hatte. Niemand musste mit irgendwelchen Nachteilen rechnen, niemandem wurden von der Polizei die Weihnachtsgeschenke weggenommen, nur weil er dabei erwischt worden war, dass er in die Kirche gegangen war.
In der Tat: Wir befinden uns heute als Christen hier in Deutschland nicht in der gleichen Situation wie die Christen, an die der Hebräerbrief damals gerichtet war. Gewiss, als sie dieser Brief damals erreichte, da ging es ihnen halbwegs gut; aber die Zeiten lagen noch nicht allzu lange zurück, in denen sie um ihres Glaubens willen mit Verhaftungen, Plünderungen und Angriffen derer zu rechnen hatten, die das gesunde Volksempfinden repräsentierten. Nein, diesen Christen musste man nicht erst noch klar machen, dass man als Christ nicht automatisch mit der Mehrheit schwimmt, dass das Bekenntnis zu Christus im Gegenteil massive Konflikte hervorrufen kann.
Wie gesagt: Wir sind hier in Deutschland heute zumindest noch in einer anderen Situation. Wir leben in einer Gesellschaft, die zwar noch von christlich geprägten Grundlagen lebt, sich von diesen Grundlagen aber immer weiter entfernt und zugleich allergisch reagiert, wenn sie selber von der Botschaft des christlichen Glaubens her infrage gestellt wird. Weihnachten in die Kirche zu gehen – das ist durchaus noch gesellschaftlich anerkannt; aber wer allen Ernstes noch behauptet, Christus sei der einzige Weg zu Gott, der wird oftmals nicht mehr als Christ respektiert, sondern als Fundamentalist in eine bestimmte Ecke gepackt. Dass wir in unserer Gesellschaft Rücksicht auf die Schwächeren nehmen sollen, dafür gibt es, Gottlob, immer noch einen gewissen gesellschaftlichen Konsens, und das ist ja auch nicht unbedingt selbstverständlich. Wenn man jedoch behauptet, dass diese Rücksicht auf die Schwächeren auch ungeborene Kinder und Embryonen umfassen sollte, dann kann man oft genug schon eher mit Aversionen als mit Verständnis für solch eine Position rechnen.
Nein, wir werden als Christen hier in Deutschland nicht verfolgt oder unterdrückt. Doch wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen, macht ein Blick nach Skandinavien deutlich, wo in Finnland Pastoren, die sich gegen die Ordination von Frauen zum Hirtenamt in der Kirche aussprechen, mittlerweile bereits von der Polizei verfolgt und gerichtlich zu Geldstrafen verurteilt worden sind, oder wo in Schweden bereits ein Pastor im Gefängnis gelandet ist, weil er das Verbrechen begangen hatte, in einer Predigt schlicht und einfach aus der Bibel zu zitieren, was diese zu praktizierter Homosexualität zu sagen hat.
Seien wir nüchtern: Auch wenn die Erfahrungen zu Weihnachten das Gegenteil zu belegen scheinen, so ist uns als Christen, als Kirche nicht verheißen, dass Kirche und Gesellschaft immer mehr konvergieren und schließlich eins werden. Christus selber kündigt uns vielmehr genau das Gegenteil an.

II.

Wie sollen wir mit dieser nüchternen Analyse unserer Situation als Christen, als Kirche umgehen? Der Verfasser des Hebräerbriefs spricht hier in unserer Predigtlesung insbesondere die Solidarität der Christen untereinander an. Diese Solidarität umfasst dabei ganz verschiedene Dimensionen. Sie umfasst zunächst einmal die Solidarität mit denen, die vor uns in der Kirche den guten Kampf des Glaubens gekämpft haben.
„Gedenkt der früheren Tage“, schreibt der Hebräerbrief hier. Gewiss meint er damit zunächst einmal die Erfahrungen, die die Empfänger seines Briefes früher selber gemacht hatten. Aber wir dürfen seine Worte auch auf die Zeiten beziehen, die längst vor unseren persönlichen Erfahrungen liegen. Ja, es ist gut, wenn wir uns immer wieder daran erinnern lassen, wie Christen in vergangenen Zeiten zu ihrem Glauben gestanden haben, wie sie um ihres Glaubens willen Leiden und Tod auf sich genommen haben. Es ist gut, wenn wir uns immer wieder daran erinnern lassen, was Christen um ihres Glaubens willen in vergangenen Jahrzehnten in der Sowjetunion erleiden mussten; es ist gut, wenn wir den Älteren auch in unserer Gemeinde zuhören, die aus eigener Erfahrung oder aus ihrer Familie davon berichten können, was sie das Festhalten an Christus gekostet hat. Es ist gut, wenn wir uns daran erinnern lassen, unter welchen Bedingungen Christen in den ersten Jahrhunderten der Kirche ihren Glauben gelebt haben, wie ihr Blut zum Samen der Kirche geworden ist und letztlich die Grundlage auch dafür gelegt hat, dass es auch hier in Deutschland heutzutage eine    christliche Kirche gibt. Ja, das ist gut, weil uns diese Erinnerung Mut machen kann, selber den Mund aufzumachen, sich des Bekenntnisses zu Christus nicht zu schämen, wo wir es doch so viel einfacher haben. Es ist gut, wenn wir uns auch immer wieder daran erinnern lassen, was die Väter und Mütter unserer lutherischen Kirche hier in Preußen im 19. Jahrhundert erlitten haben – ganz Ähnliches wie das, was der Hebräerbrief hier in unserer Predigtlesung beschreibt: Gefängnis, hohe Geldstrafen, Anfeindungen in der Öffentlichkeit. Ja, es ist gut, wenn wir uns daran erinnern lassen, welchen Preis die Väter und Mütter unserer Kirche für ihren einsamen Weg zu bezahlen bereit waren, wenn wir heute in der Gefahr stehen, uns so schnell an das anzupassen, was alle anderen doch auch machen.
Doch die Solidarität, zu der der Hebräerbrief die Empfänger seines Schreibens ermutigt, umfasst natürlich vor allem auch das Zusammenleben in der eigenen Gemeinde. Das stellt er als vorbildlich heraus, wie die Gemeinde damals in der Verfolgungssituation zusammengestanden hat, wie auch diejenigen, die nicht selber im Gefängnis saßen, zu denen hielten, die festgenommen worden waren, wie man sich aushalf, wenn andere in der Gemeinde von Plünderungen betroffen waren. Wichtig ist das, Schwestern und Brüder, dass auch wir lernen, hier in der Gemeinde füreinander einzustehen, dass wir die Gemeinde nicht bloß als religiösen Selbstbedienungsladen ansehen, sondern wissen, wie wichtig das ist, dass wir hier eingebunden sind in eine Gemeinschaft, die ihren Grund hat in der gemeinsamen Taufe, im gemeinsamen Empfang des Leibes und Blutes des Herrn. Es geht hier nicht um irgendwelche gruppendynamischen Prozesse; es geht darum, dass wir geistlich vorbereitet sind, wenn auch bei uns der Druck größer werden sollte.
Aber die Solidarität, um die es dem Hebräerbrief geht, reicht nun weit über die Grenzen unserer Gemeinde hinaus; sie soll auch die Christen in anderen Ländern umfassen, die um ihres Glaubens willen ganz andere Nachteile erleiden müssen als wir hier bei uns. Die Brüder und Schwestern, die um ihres Glaubens willen in Nordkorea im Konzentrationslager sitzen, die Brüder und Schwestern, die nach ihrer Taufe von deutschen Gerichten aus Deutschland zurück in den Iran abgeschoben wurden und nun um ihr Leben bangen müssen, die Brüder und Schwestern, die sich heimlich in Saudi-Arabien zu Gebet und Bibelstudium treffen und wissen, dass sie das ihr Leben kosten kann, wenn sie erwischt werden, die Brüder und Schwestern in Indonesien, die darum fürchten müssen, dass ihnen fanatische Muslime wieder ihre Kirchen plündern und abbrennen, sie gehen uns etwas an. Wir haben die Aufgabe, für sie zu beten, wir haben die Aufgabe, uns immer wieder auch über das Schicksal verfolgter Christen zu informieren und zu überlegen, ob wir irgendwo einen Beitrag leisten können, sie zu unterstützen. Ja, gerade auch daran soll uns der heutige Stephanustag erinnern.

III.

Und schließlich leitet uns der Hebräerbrief hier dazu an, aufs Ziel zu blicken und von daher unser Leben zu gestalten.
Der Hebräerbrief spricht hier in unserer Predigtlesung nicht von Weihnachtsgeschenken. Er spricht im Gegenteil vom Raub der Güter, den die Christen damals erlitten haben und den sie mit Freuden erduldet haben, weil sie wussten, dass sie eine bessere und bleibende Habe besitzen.
Nein, der Hebräerbrief sagt nicht, dass wir ein schlechtes Gewissen haben sollen, wenn wir Weihnachtsgeschenke bekommen haben. Aber er fragt uns, welchen Stellenwert diese Geschenke für uns in unserem Leben haben, ob auch wir dazu bereit wären, wenn es denn sein müsste, sie wieder herauszurücken, weil auch wir wissen, dass wir eine bessere und bleibende Habe besitzen. Welche Bedeutung hat dieses Ziel unseres Lebens in unserem Alltag, inwiefern vermag dieses Ziel unseren Umgang mit den Gütern dieser Welt zu beeinflussen? Oder wie sehr klammern wir uns umgekehrt an Dinge, die für uns unaufgebbar erscheinen, wie sehr blicken wir der Tatsache ins Auge, dass wir eben doch nichts von dem, was wir haben und besitzen, am Ende unseres Lebens einmal werden mitnehmen können?
Der Hebräerbrief hält uns hier keine Moralpredigt; er will uns hier kein schlechtes Gewissen machen. Er berichtet im Gegenteil einfach davon, dass die Christen, an die er schreibt, den Verlust ihrer Güter mit Freuden erduldet haben, nicht gequält, nicht wütend, sondern mit Freuden, weil der himmlische Besitz, die bessere, bleibende Habe für sie eben nicht eine billige Vertröstung war, sondern für sie nicht weniger reell war als das Hab und Gut, das ihnen gerade aus ihren Häusern getragen wurde.
Das mit Freuden zu ertragen, das können wir nicht selber; das übersteigt unsere eigenen Kräfte ganz und gar. Es bringt auch nichts, dass wir uns jetzt in unserer gegenwärtigen Situation darüber Gedanken machen, wie wir wohl reagieren würden, wenn wir von dem betroffen wären, was so viele Christen auf dieser Welt durchmachen mussten und müssen. Wichtig ist einzig und allein, dass wir in der Gemeinschaft mit Christus bleiben, in seinem Machtbereich. Dann gehören wir zu denen, die glauben und die Seele erretten – nicht aus eigener Kraft, nicht aus eigener Standfestigkeit, sondern weil Christus uns gerade dann die nötige Kraft schenkt, wenn wir sie brauchen, wenn wir sie einmal brauchen werden.
Und genau darum passt der heutige Stephanustag so gut zu Weihnachten. Denn er will ja nichts anderes, als unseren Blick ganz auf Christus zu lenken, dass uns nichts wichtiger ist und wird, als bei ihm zu bleiben. Und damit markiert der Stephanustag genau das Zentrum von Weihnachten – nicht den Baum, nicht die Gans, nicht das harmonische Zusammensein, sondern ihn, der da in der Krippe liegt, um uns zu beschenken mit seinem Hab und Gut, mit seinem Leben. Er ist geboren worden, um für uns die Hiebe einzustecken. Und eben dies macht Weihnachten in der Tat zum Fest der Liebe. Amen.