19.12.2007 | Offenbarung 22, 16-17.20-21 (Mittwoch nach dem 3. Sonntag im Advent)

MITTWOCH NACH DEM DRITTEN SONNTAG IM ADVENT – 19. DEZEMBER 2007 – PREDIGT ÜBER OFFENBARUNG 22,16-17.20-21

Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch dies zu bezeugen für die Gemeinden. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern. Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst. Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald. - Amen, ja, komm, Herr Jesus! Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!

Heute lade ich euch ein, euch in eine Zeitmaschine zu setzen und mit mir mehr als 1900 Jahre zurück in die Vergangenheit zu reisen. Am Ende dieser Reise landen wir in Kleinasien in einer kleinen christlichen Gemeinde, die gerade dabei ist, ihren Gottesdienst zu feiern. Ja, das ist eine spannende Geschichte, das mitzuerleben zu dürfen, wie diese frühen Christen ihre Gottesdienste damals feierten. Denn es gibt ja in unserem kirchlichen Umfeld nicht wenige Gemeinden, vor allem aus dem freikirchlichen Spektrum, die den Anspruch erheben, bei ihnen würde der Gottesdienst noch so gefeiert wie bei den ersten Christen; das würde sie von all den anderen Kirchen unterscheiden, die sich im Laufe der Zeit allen möglichen Kram wie zum Beispiel die Liturgie ausgedacht und sich damit von den schlichten, einfachen Gottesdiensten der ersten Christen entfernt hätten. Wenn man sich diese angeblich so urkirchlichen Gottesdienste dann allerdings einmal genauer anschaut, dann spiegeln sie sehr viel eher deutsche Frömmigkeitsgeschichte des 18. Jahrhunderts oder auch eine gewisse amerikanische Frömmigkeitstradition des 19. und 20. Jahrhunderts wider, als dass man in ihnen unbedingt die Gottesdienste der ersten Christen wiedererkennen könnte.
Wie haben also die Christen im ersten Jahrhundert ihre Gottesdienste gefeiert? Nein, wir müssen uns dazu gar nicht in irgendeinen verrückten Apparat setzen; wir brauchen einfach nur das Neue Testament aufzuschlagen. Da finden wir zwar keine vollständigen Gottesdienstabläufe aus der Zeit des Neuen Testaments, wohl aber eine ganze Menge Indizien, die zusammengenommen doch schon ein ganz gutes Bild dieser Gottesdienste ergeben. Und zu diesen Indizien zählen eben auch die Verse unserer heutigen Predigtlesung, die letzten Verse der Heiligen Schrift überhaupt. Sie lassen erkennen, wie die Johannesoffenbarung für den Gebrauch im Gottesdienst bestimmt war und wie sie dort in diesem Gottesdienst auch einen bestimmten Platz hatte. Ja, spannend ist es, sich diese Verse genauer anzuschauen, denn sie können uns nicht zuletzt auch dazu helfen, noch einmal neu und besser wahrzunehmen, was in unseren Gottesdiensten heute eben auch geschieht, können uns helfen wahrzunehmen, wie wir mit unseren Gottesdiensten tatsächlich in einer Kontinuität zu den Gottesdiensten der ersten Christenheit stehen. Eines wird bei diesem näheren Hinschauen schnell deutlich: Die Gottesdienste der ersten Christen waren grundlegend Adventsgottesdienste, Gottesdienste,

- in denen der erhöhte Christus sprach
- in denen die Gemeinde um das Kommen Christi bat

I.

Eines sollte man sich gleich von vornherein klarmachen: Die gottesdienstlichen Versammlungen der ersten Christen waren keine Hausbibelkreise. Hausbibelkreise sind eine gute und sinnvolle Einrichtung in der Kirche; aber es gibt sie in der Kirche Jesu Christi noch nicht allzu lange. Voraussetzung dafür war und ist nämlich, dass es erstens Bibeln gibt und zweitens Leute, die diese Bibeln lesen können. Und beides war damals am Ende des ersten Jahrhunderts nur sehr begrenzt der Fall. Schriftrollen waren eine teure Angelegenheit; nur die wenigsten Gemeinden konnten sich solche schriftlichen Dokumente leisten, einmal abgesehen davon, dass die Sammlung der Schriften des Neuen Testaments am Ende des ersten Jahrhunderts gerade einmal begonnen hatte. Nein, die Gemeindeglieder holten im Gottesdienst nicht alle ihre Senfkornbibeln hervor und lasen mit, sondern sie hörten, was der erhöhte Christus ihnen durch seine Boten mitzuteilen hatte.
Nein, der Gottesdienst, an dem uns die Johannesoffenbarung hier teilnehmen lässt, war keine Diskussionsveranstaltung; sondern da redet er selber, der auferstandene Christus, und die Gemeinde hört. Boten sendet Christus aus, auf Griechisch: Engel, um durch sie selber zu den Adressaten seiner Botschaft zu sprechen. Und wenn die Boten reden, dann redet er selber, der erhöhte Herr, lässt er sich im Wort dieser Menschen selber vernehmen. Und um nichts anderes geht es auch heute noch in unseren Gottesdiensten: nicht um einen Austausch persönlicher religiöser Befindlichkeiten, sondern darum, dass der erhöhte Christus selber durch die Stimme eines Menschen zu uns spricht. Darum erheben wir uns zur Verlesung des Heiligen Evangeliums und grüßen ihn, den lebendigen Herrn, der nun durch dieses Wort selber vernehmbar wird: Ehre sei dir, Herre; Lob sei dir, o Christe. Darum sollen wir in der Predigt, so mickrig und langweilig sie auch sein mag, ebenfalls die Stimme unseres Herrn vernehmen, der auch hier durch das Wort seines Boten spricht, um uns zu trösten und zu mahnen. So sah er aus, der Gottesdienst damals vor gut 1900 Jahren; so sieht er auch heute Abend aus, der Gottesdienst, den wir feiern.
Und wenn der erhöhte Christus spricht, dann ist auch klar, worum es denn im Gottesdienst auch inhaltlich geht: um ihn, Christus, um das, was er sagt, und um das, was er getan hat und noch tut. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern – so fasst Christus selber hier am Ende der Johannesoffenbarung noch einmal ganz kurz zusammen, wer er ist: Die Erfüllung der Verheißungen des Alten Testaments, er, der mit seinem Kommen die Wende der Zeiten bringt, er, der von sich sagen kann: Ich bin, Ich bin’s, so, wie dies nur Gott selber zusteht. Dann, Schwestern und Brüder, feiern wir also den Gottesdienst wie im Neuen Testament, wenn Christus selber in ihm der Redende und Handelnde ist, wenn es immer wieder um in geht, wenn er im Zentrum steht und nicht das, was wir denken und fühlen oder was wir tun sollen.
Ach, Schwestern und Brüder, wenn wir genauer hinschauen, dann stellen wir schnell fest: Wir brauchen gar keine Zeitmaschine, um uns irgendwie in das Jahr 96 nach Christi Geburt zurückzuversetzen. Denn heute Abend werden wir Zeugen einer genau entgegengesetzten Bewegung: Nicht wir müssen uns in die Vergangenheit zurückversetzen, sondern der erhöhte Christus überwindet die Kluft zwischen dem ersten Jahrhundert damals und der Adventszeit des Jahres 2007, ist jetzt hier in unserer Mitte gegenwärtig, bezeugt sich selber in seinem Wort. Weil dies in unserer Mitte geschieht, darum ist unser Gottesdienst kein anderer als der der ersten Christenheit, ein Gottesdienst, in dem der erhöhte Christus auch zu uns spricht.

II.

Auf das Reden des Herrn folgt der Ruf der Gemeinde: Komm! – So ruft sie immer wieder, Komm! – auf Aramäisch: Maranatha, unser Herr, komm!
Komm, unser Herr, komm! Maranatha! – so riefen die Christen damals im ersten Jahrhundert zu Beginn der Sakramentsfeier und brachten damit ein Doppeltes zum Ausdruck: Komm! – Damit blickten sie zum einen dem wiederkommenden Herrn entgegen, richteten sich aus auf sein sichtbares Kommen als Herr und Richter der Welt. Aber „Komm!“ – das bedeutete zugleich: Komm jetzt zu uns, ganz konkret hier im Sakrament, komm jetzt in unsere Mitte mit deinem Leib und Blut, damit wir dich jetzt schon empfangen können, damit jetzt schon Wirklichkeit wird, was einmal für alle Menschen sichtbar geschehen wird; Amen, ja, komm, Herr Jesus!
Dann ist also ein Gottesdienst ein Gottesdienst in der Kontinuität zu den Gottesdiensten der Christen des ersten Jahrhunderts, wenn sich die Gemeinde in ihm immer wieder neu auf die Wiederkunft des Herrn ausrichtet und sie immer wieder neu erfleht. Darum gehen wir übrigens von der Straße nicht direkt in unsere St. Marienkirche, sondern gehen gleichsam einmal um die Ecke in unsere Kirche hinein, weil sie nach Osten ausgerichtet ist, weil wir der aufgehenden Sonne, dem wiederkommenden Christus entgegenfeiern. Ja, darum ist letztlich jeder Gottesdienst des Kirchenjahres hier in unserer Kirche ein Adventsgottesdienst, weil in jedem Gottesdienst die Wiederkunft des Herrn bezeugt wird, ja, weil von daher das, was hier im Gottesdienst geschieht, überhaupt erst seinen tiefsten Sinn erhält. Wo die Wiederkunft des Herrn in der gottesdienstlichen Feier ausgeblendet wird, wo eine Gemeinde nicht mehr von der Zusage ihres Herrn lebt: Ja, ich komme bald, da versinkt sie im Geist der Bourgeoisie, da wird der Gottesdienst zu einem seelischen Wellness- oder Unterhaltungsprogramm, da verliert er seine tiefste Ausrichtung. Ja, Gott geb’s, dass auch wir das „Komm!“ in unseren Gottesdiensten immer wieder beten und rufen mögen.
Aber auch dies können wir den Worten des heiligen Johannes hier in unserer Predigtlesung entnehmen: Ein Gottesdienst steht dann in der Kontinuität zu den Gottesdiensten der Christen des ersten Jahrhunderts, wenn in ihm das Kommen des Herrn im Sakrament gefeiert und erfahren wird, wenn die Gemeinde in der Kraft des Heiligen Geistes nach diesem Kommen ihres Herrn jetzt und hier immer und immer wieder verlangt: Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm!
Die Gemeinde ruft: Komm! Und er, ihr Herr, er kommt tatsächlich, und was das bedeutet, beschreibt St. Johannes hier mit wunderbaren Worten: Wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst. Wer hier das Sakrament empfängt, der hat damit schon teil am Freudenmahl des ewigen Lebens, der empfängt schon hier Speise und Trank, die ihn ewig leben lassen. Nichts müssen wir dafür vorweisen, nichts müssen wir dafür leisten, nichts müssen wir dafür zahlen: Es reicht unser Durst danach, für immer mit Christus leben zu wollen; es reichen unsere leeren Hände, die er füllen will, unsere offenen Münder, die wir ihm entgegenhalten und in die Christus sich selber mit seinem Leib und Blut hineinlegt. Wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst! – So werden wir hier und jetzt in den Himmel eingeladen. Die Zeitmaschine – sie fährt uns nicht zurück, sie fährt uns hier am Altar schon ganz nach vorne, bis ans Ziel, dorthin, wo diejenigen, die damals als erste die Worte der Johannesoffenbarung hörten, schon längst angekommen sind, dorthin, wo wir einmal für immer die Einladung hören werden, die auch uns heute Abend gilt: Wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst. Amen.