18.11.2007 | Jeremia 8, 4-7 (Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres)

VORLETZTER SONNTAG DES KIRCHENJAHRES – 18. NOVEMBER 2007 – PREDIGT ÜBER JEREMIA 8,4-7

So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, daß sie nicht umkehren wollen. Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

Von Zeit zu Zeit wird in den Nachrichten von einem seltsamen Phänomen berichtet: Ganze Herden von Walen verlieren die Orientierung und schwimmen an die Küste und stranden dort. Dies würde ihren sicheren Tod bedeuten, wenn nicht freiwillige Helfer sofort zur Stelle wären, sie unablässig mit Wasser begießen und bei der nächsten Flut versuchen würden, die Meeressäuger wieder ins Meer zurückzuschieben. Manchmal gelingt das tatsächlich, aber in vielen Fällen bleiben alle Bemühungen erfolglos, ja, es kommt sogar vor, dass die Wale nach kurzer Zeit wieder an den Strand schwimmen und dort schließlich jämmerlich verenden. Wie ist so etwas möglich, so fragen sich Meeresforscher, ohne bis heute eine wirklich einleuchtende Antwort gefunden zu haben. Ja, wie kann die Wale ihr Orientierungsvermögen, das ihnen von Natur aus eingepflanzt ist, so verlassen? Ist auch daran wieder die Umweltverschmutzung schuld? Einige Forscher vermuten jedenfalls, dass es schon reicht, wenn ein oder zwei Wale die Orientierung verlieren. Dann folgt ihnen der Rest der Herde, folgt ihnen auf dem Weg in den Tod.
So ein ähnliches, ja noch erschütternderes Phänomen beschreibt der Prophet Jeremia in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags. Von strandenden Walherden wusste er vermutlich nicht so viel; er staunt im Gegenteil darüber, wie Zugvögel sich zu orientieren vermögen, wie sie immer wieder an ihren Ort zurückkehren, wissen, welchen Weg sie zu nehmen haben, um leben, überleben zu können. Doch ausgerechnet der Mensch, ja ausgerechnet sein eigenes Volk macht es nicht den Zugvögeln nach, sondern diesen Walen, hat total die Orientierung verloren, nimmt Kurs auf sein eigenes Verderben und lässt sich durch nichts und niemand von diesem Weg abbringen. Gott hatte ihm, seinem Volk, doch den Weg zum Leben gezeigt, hatte ihm in seinem Wort, in seinen Geboten die Orientierung gegeben, die es für sein Leben in der Gemeinschaft mit ihm, dem Herrn, brauchte. Doch von all dem wollte sein Volk nichts wissen. Die Menschen wussten selber besser, wie sie leben sollten, sie wussten, dass es mehr Glück brachte, wenn man sich mit seinen Anliegen an diverse Fruchtbarkeitsgötter und -göttinnen wandte, sie wussten, dass sie aus eigener Kraft stark genug waren, um den Angriff der Babylonier auf ihre Stadt Jerusalem zurückzuschlagen, sie wussten, dass es doch allemal ausreichte, ihn, den Gott Israels, irgendwo als Maskottchen im Hintergrund zu haben. Ansonsten kamen sie in ihrem Leben ganz gut ohne ihn klar.
Der reine Wahnsinn war das, so sah es Gott, so ließ er es seinem Volk durch seinen Propheten ausrichten. Immer und immer wieder hatte er sein Volk zur Umkehr rufen lassen, hatte es von seinem tödlichen Kurs abzubringen versucht. Doch alle Versuche hatten nichts gefruchtet; die Leute sahen überhaupt nicht ein, weshalb sie umkehren sollten, weshalb der Weg, den sie eingeschlagen hatten, falsch sein sollte. Es ging ihnen doch gut; wieso sollten sie sich ihre Stimmung von Jeremia irgendwie vermiesen lassen! Und so stimmt Gott nun in den Worten unserer heutigen Predigtlesung einen Klagegesang an, einen Klagegesang über sein Volk, das einfach nicht auf den Weg zum Leben umkehren will. Fassungslos nimmt Gott wahr, wie das möglich sein kann, dass Israel es selber gar nicht mehr wahrnimmt, wie sehr es sich verrannt hat: Wenn jemand hinfällt, ist es doch das Normalste auf der Welt, dass er anschließend wieder aufsteht, wenn er dazu noch in der Lage ist. Wenn jemand sich verirrt hat, sich verlaufen hat, dann ist er doch froh, wenn ihm jemand den Ausweg zeigt, ihm wieder die Orientierung gibt, die er braucht. Selbst Tiere folgen auf ihre Weise der Ordnung Gottes, die ihnen das Überleben ermöglicht – von gestrandeten Walen einmal abgesehen. Doch Israel ist wie ein Schlachtross, das in die Schlacht stürmt und von nichts und niemandem gebremst werden kann, das erst dann aufhört, immer weiterzulaufen, wenn es selber tödlich getroffen wird und zusammenbricht. Nein, Israel kann nicht behaupten, dass ihm der richtige Weg nicht immer und immer wieder vor Augen gehalten worden sei; aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen. Es will es nicht wissen, es will nicht umkehren – und so prallen alle Rufe Gottes an ihm ab.
Und diese Worte Gottes hören wir nun heute Morgen hier in diesem Gottesdienst, mögen dabei tief durchatmen, weil wir ahnen, wie aktuell diese Worte auch heute sind, wie sie auch in unsere Situation sehr direkt hineinsprechen. Dabei haben wir Menschen heute ja eine sehr effektive Methode, um uns die Worte des Propheten vom Halse zu halten, dass wir uns erst gar nicht näher mit ihnen beschäftigen müssen. Jeremia ist nämlich zweifelsohne jemand, den wir heutzutage als Fundamentalisten bezeichnen würden. Denn Jeremia behauptet, dass es einen richtigen Weg gibt, den wir nach Gottes Willen gehen sollen, und dass es daneben alle möglichen Irrwege gibt, die nicht zum Ziel führen. Und das kann man ja heute nicht mehr so sagen. Es gibt nicht einen richtigen Weg, und es gibt keine Irrwege. Sondern jeder Mensch hat eben seinen eigenen Weg, den er in seinem Leben geht, jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit. Niemand kann heutzutage doch noch den Anspruch erheben, er habe die Wahrheit, eine Wahrheit, die auch für andere gelte, auch für sie verbindlich sei. Wer so etwas behauptet, ist sicher auch dazu bereit, mit Selbstmordattentaten kleine Kinder in den Tod zu reißen. Und dass Jeremia ein Fundamentalist ist, zeigt sich doch zweifelsfrei auch daran, dass er von Gottes Gericht spricht, davon, dass das Leben von Menschen im Verderben enden kann. Es gibt kein Gericht Gottes, das ist ja wohl klar; wer das immer noch behauptet, verschreckt nur die Leute, und die Hölle ist ohnehin längst mit der dafür nötigen Zweidrittelmehrheit abgeschafft und geleert worden. Ja, ein elender Fundamentalist ist dieser Jeremia, und von daher muss man das gar nicht weiter ernst nehmen, was der hier sagt. Schließlich leben wir heute nach der Aufklärung!
Schwestern und Brüder, ich unterlasse es an dieser Stelle, nun im Einzelnen aufzuführen und zu beschreiben, wie sich diese Haltung, wie sich diese Einstellung in unserer Gesellschaft auswirkt, wie eine Gesellschaft aussieht, der der Richtungssinn verlorengegangen ist und die doch überhaupt nicht auf die Idee kommt, dass Umkehr nottun könnte, eine Gesellschaft, in der die Menschen religiös sehr interessiert sind, in der der Esoterikmarkt boomt und die doch zugleich so wenig von ihm, dem dreieinigen Gott, wissen will, eine Gesellschaft, die sich dagegen wehrt, von verbindlichen Geboten und Werten bevormundet zu werden, und die zugleich so intolerant reagiert, wenn jemand ihre Normen in Frage stellt, eine Gesellschaft, in der sich Menschen vor allem Möglichen fürchten, nur nicht vor Gottes Zorn. Nein, Schwestern und Brüder, das führe ich jetzt nicht weiter aus, weil dann nur allzu leicht der Eindruck entstehen könnte, als würde sich Jeremia, als würde sich heute auch die Kirche nur über den allgemeinen Verfall der Sitten beklagen und sich nach der guten alten Zeit zurücksehnen, als die Welt noch in Ordnung war. Das war sie auch vor 2600 Jahren nicht, als der Jeremia damals lebte. Jeremia hält seinem Volk, hält auch uns hier keine selbstgerechte Moralpredigt, will uns nicht eine wertkonservative Gesinnung verordnen. Gott schimpft sein Volk hier nicht aus, äußert hier nicht seine Empörung. Sondern er trauert um sein Volk, weint, weil er sieht, wie sein Volk ins Verderben rennt.
Ja, so und nicht anders ist er, dein Gott. Der steht nicht Hände reibend da und wartet nur darauf, die Leute zu Hackfleisch verarbeiten zu können, die seine Gebote übertreten haben. Der steht nicht da und wartet nur darauf, diese Leute, die nichts von ihm wissen wollten, am Ende schnurstracks in die Hölle befördern zu können. Gott will nicht den Tod des Sünders; Gott will, dass er umkehrt und lebt. Wieso lässt Gott seinem Volk diese Worte überhaupt noch verkündigen, wenn ihm doch ohnehin klar ist, dass Israel sich so sehr verrannt hat, dass es nicht mehr den Weg zurückfindet? Wieso macht er sich die Mühe, ihm da extra noch einen Propheten zu schicken? Ist ja doch alles umsonst! Doch genau so ist er, unser Gott. Er gibt nicht auf, selbst da, wo nach menschlichem Ermessen alles sinnlos ist, denn es ist und bleibt doch sein Volk, sein geliebtes Volk, das ihm davonläuft. Gott gibt nicht auf, teilt seinem Volk seine Trauer mit, weil er doch nichts lieber möchte, als dass sein Volk doch noch aufmerkt, doch noch innehält und erschrickt über den Weg, den es da eingeschlagen hat. Nein, Gott befördert die, die sich von ihm abgewandt haben, nicht einfach willkürlich in die Hölle; er sieht, wie die, die sich von ihm entfernen, sich selber ins Verderben begeben, in die Gottesferne, aus der es am Ende dann einmal kein Zurück mehr gibt. Und genau das will Gott nicht, will es so wenig, dass er schließlich sogar seinen eigenen Sohn zu uns geschickt hat, ihn für uns hat sterben lassen, damit wir’s endlich begreifen, wie lieb er uns hat, damit wir’s endlich begreifen, wie viel für uns in unserem Leben auf dem Spiel steht, dass es um nicht weniger geht als um ewiges Leben oder ewigen Tod. Alles, wirklich alles hat Gott eingesetzt, um uns davor zu bewahren, von ihm getrennt zu bleiben, und er gibt auch weiter nicht auf, ruft, lockt, trauert, weint, um uns davon abzuhalten, unser Leben ohne ihn, ohne sein Wort zu führen.
Ja, gerade auch als Trost darfst du diese Worte des Propheten Jeremia für dich selber hören. Vielleicht kommen dir ja manchmal auch Zweifel, ob das denn richtig sein kann, dass du immer noch an Gott und seinem Wort festhältst, wenn all die Menschen in deiner Umgebung davon nichts mehr wissen wollen. Kann das denn sein, dass ich Recht habe und all die anderen nicht? Vielleicht kommen dir manchmal ja auch Zweifel, wenn du hörst, wie Menschen in deiner Umgebung im Brustton der Überzeugung behaupten, heute, in unserer aufgeklärten Zeit, könne man doch nicht mehr an Gott glauben; das sei aus wissenschaftlicher Sicht doch völliger Unsinn. Vielleicht kommen dir manchmal ja auch Zweifel, ob du da immer noch richtig liegst, wenn dir von allen Seiten immer wieder eingetrichtert wird, dass das doch völlig normal sei, was du bisher immer von Gottes Wort her als Verirrung und Sünde angesehen hattest. Ist vielleicht doch alles relativ, zeitbedingt, interpretationsfähig? Kann man heute vielleicht wirklich nicht mehr vom Recht des Herrn reden? Kann es nicht wirklich sein, dass es ganz verschiedene Wege zu Gott gibt?
Verständlich sind diese Fragen, wenn wir nur von unserer Erfahrung ausgehen, wenn wir davon ausgehen, dass die Mehrheit zugleich auch die Wahrheit hat. Doch genau das muss eben nicht sein, so macht es Gott dir hier deutlich. Ein ganzes Volk kann in die Irre gehen, Anführer eines Volkes können unzählige Menschen mit in die Irre und ins Verderben laufen lassen, so bedenken wir es gerade heute am Volkstrauertag in besonderer Weise. Festen Halt in deinem Leben gibt dir nicht die Meinung der anderen, festen Halt geben dir auch nicht die Meinungsführer, festen Halt gibt dir auch nicht deine innere Stimme und auch nicht dein Bauchgefühl. Sondern festen Halt und Orientierung gibt dir allein Gott in seinem Wort, ganz gleich, wie viele Menschen auf dieses Wort hören, sich daran in ihrem Leben ausrichten mögen. Halte dich darum an dieses Wort, vertraue darauf, dass er, der in diesem Wort zu dir spricht, es gut mit dir meint. Es ist dein Gott, der sich in Liebe zu seinem Volk, der sich in Liebe zu dir verzehrt, der sich in diesem Wort dir zu erkennen gibt, es ist dein Gott, der sich für dich in den Tod gegeben hat, damit dein Leben nicht im ewigen Tod endet. Halte an diesem Wort fest, auch wenn alle um dich herum in eine andere Richtung laufen, wenn sie dir alle klarmachen, wie viel freier sie sind als du. Ja, halte an diesem Wort fest, halte dich an deinen Gott, halte dich zu seinen Gottesdiensten. Vielleicht geschieht es ja doch, dass du damit für andere zum Anstoß wirst, innezuhalten, nicht weiter in die Irre zu laufen. Vielleicht geschieht es ja doch, dass durch dich andere aufmerken, wieder neu das Wort dessen vernehmen, der auch sie so unendlich lieb hat. Ja, halte an diesem Wort fest. Und wenn du merkst, dass auch du dich wieder einmal hast mitreißen lassen von dem, was alle anderen doch auch tun und denken und machen, wenn du merkst, dass du dich in deinem Leben dann doch ganz schön verlaufen und verirrt hast, dann lass dich zurückrufen von ihm, deinem Gott. Der gibt dich nicht auf, der wartet auf dich mit offenen Armen, will dich doch nicht verdammen, sondern dir einen Neuanfang schenken immer wieder hier an seinem Altar. Darum komm, steh auf, kehr zurück, lass dich von Christus selber in seine Arme schließen. Du sollst nicht umkommen, du sollst leben – in alle Ewigkeit. Amen.