29.07.2007 | St. Johannes 9, 1-7 (8. Sonntag nach Trinitatis)

8. SONNTAG NACH TRINITATIS – 29. JULI 2007 – PREDIGT ÜBER ST. JOHANNES 9,1-7

Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; des kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Wenn mich jemand vor einem halben Jahr gefragt hätte, ob es so etwas wie einen Toyota Yaris gibt, dann hätte ich ihm ganz ehrlich antworten müssen: Keine Ahnung, kann ich nicht ausschließen; aber selber habe ich so ein Auto noch nie gesehen. Denn ich interessiere mich normalerweise nicht sonderlich für Autos, und darum gucke ich da auch nicht so genau hin, wenn es sich nicht gerade um mein eigenes Auto handelt. Ich war also sozusagen so etwas wie ein Yaris-Agnostiker. Ich konnte nicht unbedingt bestreiten, dass es so etwas wie einen Yaris gibt; aber um bestätigen zu können, dass es ihn gibt, hätte ich ja erst mal einen sehen müssen.
Doch dann gab mein Renault Clio sehr viel früher als erwartet seinen Geist auf, und ich musste mir ein neues Auto zulegen. Und da wurde ich nun von meinem Schwager darauf hingewiesen, dass es tatsächlich so etwas wie einen Yaris gibt; ich fuhr hin zu Toyota, schaute mir den Wagen an, fuhr ihn selber – und der Wagen gefiel mir gleich so gut, dass ich ihn dann auch kaufte. Und wisst ihr was? Seit ich den Yaris fahre, sehe ich auf der Straße dauernd irgendwelche Yarisse, habe ich manchmal den Eindruck, dass bald jedes dritte Auto ein Yaris ist. Ja, der Kauf dieses Autos hat mir selber die Augen geöffnet, und ich merke jetzt erst, wie blind ich vorher war, dass ich an den ganzen Yarissen vorbeigefahren bin, ohne sie überhaupt gesehen, ohne sie bewusst wahrgenommen zu haben. Ja, ich sehe die Autos im Straßenverkehr seither mit ganz anderen Augen.
Und damit sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Da geht es auch um Menschen, die blind sind und sehend werden, und um Menschen, die meinen, sie könnten sehen, und die in Wirklichkeit doch blind für die Realität sind, die sie umgibt.
Beim ersten Hinhören haben wir es hier ja einfach nur mit einer anrührenden Heilungsgeschichte zu tun: Da sitzt ein blinder Mensch am Wegesrand, vermutlich irgendwo im Eingangsbereich des Tempels, und bettelt. Jesus kommt vorbei, sieht ihn und heilt ihn auf eine recht ungewöhnliche Weise, indem er ihm Matsch auf die Augen schmiert und ihn zum Teich von Siloah schickt, damit er sich dort wäscht. Und siehe da – danach kann der Mensch wieder sehen. Wirklich nett von diesem Jesus, dass er so diesem armen Menschen geholfen hat!
Doch St. Johannes erzählt uns nie bloß irgendwelche netten Geschichten, die uns vor Rührung die Taschentücher zücken lassen. Sondern wenn uns dieser Evangelist etwas berichtet, dann will er uns damit zugleich immer auch etwas über uns selber, über unser eigenes Leben deutlich machen, bekommen seine ganzen Erzählungen erst auf diesem Hintergrund ihren tiefen, eigentlichen Sinn. Und so ist das auch hier. Wir selber sollen und dürfen uns hier in dieser Geschichte wiedererkennen, sollen und dürfen uns wiederfinden in diesem blinden Mann und in den scheinbar sehenden und eben doch auch blinden Jüngern. Ja, so zeigt es uns St. Johannes hier: Jesus will auch uns heilen

- von unserer Blindheit gegenüber Gott
- von unserer Blindheit gegenüber anderen Menschen

I.

Von einem blind geborenen Menschen berichtet uns St. Johannes hier. Ja, natürlich erwähnt der Evangelist dies zunächst einmal deshalb, weil dieser Mensch damals nun mal blind geboren war, den Jesus da heilte. Aber, wie gesagt, zugleich sollen auch wir uns in diesem Menschen wiedererkennen. Blind geboren – ja, genau das ist die Situation, in der wir Menschen uns alle miteinander befinden: Wir werden blind geboren – blind gegenüber Gott. Es geht uns Menschen mit Gott so ähnlich wie mir mit dem Toyota Yaris: Wir haben keine Ahnung, wir haben keine Anleitung, was wir eigentlich wahrnehmen sollten, und so kommen wir erst einmal gar nicht auf die Idee, dass es Gott geben könnte, ja mehr noch: dass wir ihm in unserem Leben immer wieder so direkt begegnen und es doch selber gar nicht merken. „Ich glaube nur an das, was ich sehe“, sagen dann mitunter Leute und bekommen gar nicht mit, wie blind für die Wirklichkeit sie doch sind, wie sie die Realität, die sie umgibt, von vornherein schon mit Scheuklappen wahrnehmen und dann natürlich auch nicht erkennen können, wonach sie erst gar nicht Ausschau halten. Ja, Gott hat sich schon allein in seiner Schöpfung uns Menschen zu erkennen gegeben; aber wir Menschen werden blind dafür geboren, glauben allen Ernstes, all das, was es in dieser Welt gibt, als ein Produkt einer gigantischen Serie von Zufällen begreifen zu können. Insofern ist es überhaupt nicht überraschend, sondern völlig normal, wenn sich auch in unserem Land Interessenverbände formieren, die lautstark die Existenz Gottes leugnen und verlangen, dass ihre Sicht der Dinge als die einzig wissenschaftliche auch allgemein gesellschaftlich anerkannt werden sollte. Genau so sind wir Menschen: blind geboren, so zeigt es uns St. Johannes hier.
Und von dieser Blindheit sind eben auch die Jünger hier in unserer Geschichte betroffen. Sie stellen eine hochaktuelle Frage, eine Frage, die früher oder später in fast jedem Gespräch mit Gottesleugnern zur Sprache kommt: Wer ist daran schuld, dass dieser arme Mensch blind geboren ist? Er selber kann ja wohl nicht dran schuld sein; und wenn seine Eltern gesündigt haben sollten, warum muss dieser arme Kerl das nun in seinem Leben ausbaden? Das Leid dieser Welt – es lässt sich doch nicht mit der Existenz eines gerechten Gottes vereinbaren! Nun ja, so weit gehen die Jünger hier in unserer Geschichte nicht. Aber darauf läuft ihre Frage in ihrem Kern eben letztlich doch zu: „Wie kann Gott das zulassen? Ja, wenn es einen gerechten Gott gäbe, warum gibt es dann all das Leid, all das Unrecht, all die Sinnlosigkeit in dieser Welt?“
Schwestern und Brüder, so einfach lässt sich diese Frage ja nicht beiseite schieben. Das geht uns auch persönlich immer wieder schon ganz schön an die Nieren, wenn wir miterleben müssen, wie Menschen von Leid getroffen werden, das sich einfach nicht erklären lässt. Da sind wir dann auch so hilflos, wenn ein Mensch in seinem Leid diese Frage stellt: „Was habe ich denn bloß getan, dass ich so etwas nun erleiden muss?“ Ja, es steckt so tief in uns drin, dieses Denken, dass alles doch eine erklärbare Ursache haben muss und dass es dort, wo Menschen leiden, doch einen Verantwortlichen geben muss, den man dafür zur Rechenschaft ziehen muss, dass er dieses Leid verursacht oder zumindest zugelassen hat. Wir kennen das ja bei irgendwelchen Katastrophen: Sofort ertönt der Ruf danach, die Verantwortlichen für diese Katastrophe herauszufinden und sie entsprechend zu bestrafen. So meinen wir, Leid irgendwie bewältigen zu können, dass wir einen Sündenbock haben, den wir bestrafen können, an dem wir unsere Wut über dieses Leid abreagieren können. Und da wir Leid oft nur sehr begrenzt mit menschlichem Versagen begründen können, ist dann eben Gott dran, kriegt der die Anklage, die Angriffe ab, bis dahin, dass man meint, ihn mit Nichtbeachtung besonders bestrafen zu können.
Doch genau diesem Denken, das uns so logisch, so einleuchtend, ja beinahe zwingend erscheinen mag, widerspricht Christus hier in unserer Predigtlesung in aller Deutlichkeit: Ihr könnt nicht vom Ergehen eines Menschen irgendwelche Rückschlüsse ziehen darauf, wie sich dieser Mensch zuvor verhalten hat. Krankheiten und Schicksalsschläge sind keine logischen Strafen für frühere Sünden, und Wohlergehen ist keine Belohnung dafür, dass man in seinem Leben immer brav gewesen ist. Nein, ihr kommt überhaupt nicht weiter, wenn ihr euch angesichts von Leid und Schicksalsschlägen auf die Frage konzentriert, woher das denn alles kommt und wer daran Schuld ist. Was ihr da auch für Antworten finden mögt – sie werden letztlich immer zynisch bleiben, Ausdruck der Blindheit, mit der ihr doch schon geboren wurdet. Allein von Gott her bekommt all das Sinnlose, Fragwürdige, Entsetzliche im Leben doch noch einen Sinn, und zwar gerade nicht so, dass er uns da nun eine einfache Antwort präsentiert, mit der wir all unsere Fragen auf einmal abhaken könnten.
Nein, sagt Christus, zunächst einmal muss überhaupt eure Blindheit geheilt werden, dass ihr anfangen könnt zu sehen, zu erkennen, wer Gott in Wirklichkeit ist und was er mit euch vorhat. Und eben dazu, sagt Christus, bin ich in diese Welt gekommen als das Licht der Welt, damit Menschen die Augen geöffnet werden und sie Gott erkennen können – an mir und in mir. Er, Christus, er macht’s allein, er öffnet die Augen, so zeigt es uns St. Johannes hier sehr eindrücklich: Nichts, aber auch gar nichts trägt der Blindgeborene dazu bei: Er bettelt Jesus hier in der Geschichte nicht an, er bekundet nicht seinen Glauben, er stellt keine Fragen; er sitzt da einfach nur in der Ecke, bis Jesus auf ihn zukommt und ihm den Matsch auf die Augen schmiert und ihn losschickt, damit er ihn sich wieder abwäscht. So ist Jesus damals mit dem Blinden umgegangen, und so geht er auch mit uns um: Als die meisten von uns als Kinder getauft wurden, da hat er uns nicht vorher gefragt, da mussten wir nicht selber ein Glaubensbekenntnis ablegen. Da hat er uns einfach mit Wasser begossen und uns so von unserer Blindheit geheilt, uns „erleuchtet“, wie es in dem Tauflied heißt, das der Apostel Paulus in der Epistel des heutigen Sonntags zitiert.
Und in der Kraft dieser Erleuchtung, in der Kraft unserer heiligen Taufe dürfen wir nun glauben, das heißt: Wir dürfen die Welt und unser Leben nun mit anderen Augen sehen. Wie ich seit dem Kauf meines Toyota Yaris nun mit einem Male überall Yarisse sehe, so können wir als Christen nun überall in dieser Welt und in unserem Leben die Spuren Gottes erkennen: Wir nehmen wahr, dass diese Welt eben nicht bloß das Produkt von irrsinnigen Zufällen ist, sondern nach Gottes Willen geschaffen und designt ist. Wir nehmen wahr, dass unser Leben nicht bloß ein Zufallsprodukt ist, sondern von Gott so gewollt ist, ja, wir dürfen mit Paul Gerhardt singen: „Himmel, Erd und ihre Heere hat er mir zum Dienst bestellt; wo ich nur mein Aug hinkehre, find ich, was mich nährt und hält“. Ja, erkennen können wir dies, weil Christus uns vor allem anderen die Augen dafür geöffnet hat, wer Gott denn in Wirklichkeit ist: die Liebe in Person, Liebe, die bereit ist, für mich bis in den Tod zu gehen, sich für mich am Kreuz zu opfern. Das ist eben ein ganz anderer Gott als der, der Freude daran hat, Menschen für ihre Vergehen mit Krankheiten und anderem Leid zu bestrafen. Nein, verstehen kann ich noch längst nicht alles von dem, was dieser Gott hier auf Erden geschehen lässt; so weit hat er mir meine Augen noch nicht geöffnet. Aber ich kann und darf genug von ihm erkennen, um darauf vertrauen zu dürfen, dass auch all das unfassbare Leid, das ich auf dieser Erde sehe, nicht einfach sinnlos bleiben wird und den Händen dieses Gottes nicht einfach entglitten ist, sondern bei ihm und durch ihn doch einen Sinn erhalten wird, auch wenn ich ihn jetzt noch nicht erahnen kann. „Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“ – nein, das gilt nicht bloß für diesen blinden Menschen damals, das gilt bis heute. Uns steht noch ein ganz großes Aha-Erlebnis bevor, größer noch als das, das der blinde Mensch damals am Teich von Siloah hatte.

II.

Aber sehen dürfen wir jetzt schon, so macht es uns St. Johannes deutlich. Christus heilt unsere Blindheit – nicht nur die gegenüber Gott, sondern auch die gegenüber anderen Menschen.
Vom „Sehen“ ist hier in unserer Predigtlesung ja schon ganz zu Beginn die Rede: Jesus geht vorüber und sieht diesen Menschen, der blind geboren war. Uns geht es ja mit Menschen in Not oft so ähnlich wie mir früher mit dem Toyota Yaris: Wir sehen sie und sehen sie doch wieder nicht, übersehen sie so leicht, weil wir kein Auge für sie haben oder vielleicht manchmal auch, weil wir sie nicht sehen wollen – aus Hilflosigkeit oder Gleichgültigkeit.
Jesus sieht diesen Menschen, er sieht die Not eines jeden Menschen, und er will uns auch dafür die Augen öffnen, dass wir an anderen Menschen, die unsere Hilfe brauchen, nicht einfach vorbeiblicken. Ja, auch das ist eine Gabe und Wirkung der Erleuchtung der Heiligen Taufe, Gabe und Wirkung der Erleuchtung, die er uns immer wieder neu durch sein Wort schenkt, Gabe und Wirkung der Speise des Heiligen Mahls. Jesus will uns an seinem Dienst Anteil geben, so betont er es hier ausdrücklich: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“  „Wir“ müssen diese Werke wirken sagt er, schließt sich und seine Jünger, schließt sich und uns hier in diesem Dienst zusammen.
Mithelfen sollen und dürfen wir, Menschen die Augen zu öffnen für Gottes Liebe, die er uns in Christus gezeigt hat, mithelfen dürfen wir mit unserem Zeugnis von Christus, mit unserer Zuwendung an Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Noch ist es Tag, noch haben wir es hier in unserem Land, in unserer Stadt so leicht, Menschen mit dem Evangelium zu erreichen; noch stehen uns hier so viele Türen offen. Christus mahnt uns: Die Zeit ist begrenzt; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Ach, Schwestern und Brüder, wie viele Menschen gibt es, die die Frage nach Christus, nach der Kirche, nach dem Glauben auf die lange Bank schieben, weil sie ja jetzt im Augenblick scheinbar so viel Wichtigeres zu tun haben: Später, später können wir uns damit ja mal befassen; aber jetzt im Moment ist doch erst einmal Anderes dran. Als ob wir so einfach über unser „Später“ verfügen könnten, als ob unsere Beziehung zu Christus nur ein zusätzliches Hobby sei, das wir dann ja irgendwann auch noch mal pflegen können! Nein, es geht um nicht weniger als darum, dass unser Leben, dass das Leben der Menschen in unserer Umgebung nicht in der ewigen Dunkelheit endet, sondern bei ihm, Christus, dem Licht der Welt. Noch leuchtet er so hell, noch lädt er ein an seinen Taufstein, an seinen Altar. Wie lange noch – wir wissen es nicht. „Wach auf, der du schläfst!“ – So heißt es in dem Tauflied in der Epistel, das Paulus zitiert. Mensch, mach endlich die Augen auf, erkenne, was jetzt dran ist! Christus ist es, der uns dies zuruft. Und er ruft nicht nur, sondern er will und kann durch diesen Ruf auch unsere Augen öffnen, dass wir wahrnehmen, was doch jetzt schon Sache ist. Nein, ob und wie gut unsere leiblichen Augen funktionieren, was wir mit ihnen noch erkennen können, das ist nicht das Allerwichtigste in unserem Leben. Hauptsache, wir erkennen ihn, Christus, das Licht der Welt. Dann werden wir einmal in alle Ewigkeit den klaren Durchblick haben. Amen.