10.12.2014 | Psalm 80,2-7.15-20 | Mittwoch nach dem zweiten Sonntag im Advent
Pfr. Dr. Gottfied Martens


Bald werden wir hier bei uns in der Kirche Weihnachten feiern können. Der Weihnachtsbaum ist bestellt, das Krippenspiel ist vorbereitet, das Küchenteam für das Essen nach der Christvesper organisiert – alles läuft nach Plan. Ja, wir haben Weihnachten gut im Griff.

Doch da erreichen uns seit einiger Zeit immer wieder ganz verstörende Bilder von anderen Kirchen, von Kirchen, die viel älter sind als unsere Dreieinigkeitskirche, oft mehr als 1500 Jahre alt. Völlig zerstört sind sie, von Ruß geschwärzt, nur noch Ruinen, mehr nicht. Und die, die dort vor noch gar nicht langer Zeit ihre Gottesdienste hielten, sind geflohen oder befinden sich auf der Flucht, sitzen vielleicht auch jetzt zu dieser Stunde in irgendwelchen Booten auf dem Mittelmeer, frieren in irgendwelchen Flüchtlingslagern oder wurden gleich von denen ermordet, die ihre Kirchen in Brand steckten: Christen aus Syrien und dem Irak.

Ja, es ist gut und wichtig, dass wir uns von solchen Bildern verstören lassen, so macht es uns der Wochenpsalm dieses Zweiten Sonntags im Advent, der 80. Psalm deutlich. Da stehen Menschen im Tempel in Jerusalem und tragen ihre Klage Gott vor, ihre Klage über die Zerstörung und Vernichtung des Nordreichs Israels, über die Verschleppung der Stämme Ephraim und Manasse. Gewiss, das Südreich Juda und das Nordreich, sie hatten in der Vergangenheit nicht immer ein freundliches Verhältnis zueinander gepflegt. Aber jetzt, nach der Eroberung des Nordreichs, war man sich im Südreich doch darüber bewusst, dass auch diese Stämme im Nordreich doch mit zum Gottesvolk gehörten, dass man sich nicht damit zufrieden geben durfte, dass ja noch der eine Stamm Juda im Südreich existierte. Und so rufen die Menschen im Südreich Gott um Hilfe an, um Hilfe für die Geschwister im Nordreich, darum, dass Gott der Verwüstung dort im Norden ein Ende bereiten möge.

Ganz tief blicken sie dabei, schimpfen nicht einfach auf die bösen Assyrer, die diese Verwüstungen dort angerichtet hatten, sondern sprechen ganz offen von dem Zorn Gottes, unter dem sie stehen, auch und gerade in diesem Augenblick, in dem sie zu Gott beten: „Herr. Gott Zebaoth, wie lange willst du zürnen, während dein Volk zu dir betet?“

Können, sollen, müssen wir auch so beten, heute, zweitausendsiebenhundert Jahre später? Wir tun es jedenfalls, wenn wir den 80. Psalm, den Wochenpsalm, in diesen Tagen beten, ja auch gerade wieder im Introitus. Wir stellen uns damit in eine Reihe mit dem Volk Israel, beziehen seine geistlichen Erfahrungen auch auf uns selber.

Unseren Blick lassen wir uns zunächst einmal weiten: Wie es damals den Bewohnern des Südreiches nicht egal war, was mit den Schwestern und Brüdern im Nordreich geschah, so soll und darf es uns als Christen in Deutschland nicht egal sein, was mit den Christen in Syrien und Irak, was auch mit unseren Geschwistern in der Türkei, im Iran und in anderen muslimischen Ländern geschieht. Die Not unserer Geschwister, die Zerstörung einer fast 2000 Jahre bestehenden christlichen Kultur, sie sollen und dürfen uns nicht kalt lassen, sollten uns immer wieder zu Gott rufen lassen, weil es doch das eine Volk Gottes ist, das von diesem entsetzlichen Leid betroffen ist: „Erwecke deine Kraft und komm uns zu Hilfe!“

Aber dann sollten wir uns von dem Psalm doch auch dazu anleiten lassen, tiefer zu blicken, wahrzunehmen, wie wenig selbstverständlich es ist, dass wir hier in unserer Dreieinigkeitskirche so fröhlich Weihnachten feiern können. Die älteren Glieder unserer Gemeinde, die können noch etwas davon erzählen, was es heißt, Weihnachten im Krieg feiern zu müssen, und alle miteinander sollten wir bedenken, dass wir es alle miteinander nicht verdient haben, so ungehindert die Geburt Christi feiern zu können. Für viele unserer Schwestern und Brüder wird es jedenfalls das erste Mal in ihrem Leben sein, dass sie Weihnachten in Freiheit in einer Kirche werden feiern können. Und alle miteinander wissen wir nicht, wie lange wir dieses Privileg noch haben werden, wie lange es noch dauern wird, bis vielleicht auch in unserem Land Kräfte die Oberhand gewinnen werden, die es uns nicht mehr so leicht machen werden, als Christen unseren Glauben zu praktizieren. Ja, mehr noch: Wir wissen alle miteinander nicht, ob nicht auch wir Gottes Zorn in unserer Kirche zu spüren bekommen, Gottes Zorn darüber, dass wir so wenig dankbar gewesen sind für das, was uns als Christen hier in Deutschland geschenkt ist, dass wir so wenig dazu bereit gewesen sind, ihn, Christus, tatsächlich an die erste Stelle in unserem Leben zu setzen, dass wir so wenig dazu bereit gewesen sind, Gottes Gebote in unserem Leben wirklich ernst zu nehmen, sobald es dabei irgendwie unbequem für uns werden könnte, ja, dass wir gerade auch seine Einladung zum Gottesdienst oft genug so wenig ernst genommen haben.

Nein, es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu spekulieren, warum Gott die Christen im Irak und Syrien zurzeit so Schweres erleben lässt. Sondern wir tun gut daran, Gott darum anzuflehen, dass er seinen wohlverdienten Zorn nicht gegen uns richtet. Oder hat er das vielleicht schon längst getan? Der Apostel Paulus macht im Römerbrief deutlich, dass Gott seinen Zorn darin vollstreckt, dass er die Menschen tun lässt, was sie gerne wollen, dass er sie „dahingibt“, wie Paulus es formuliert. Sind die kirchlichen Verheerungen, die wir mittlerweile hier in Deutschland immer wieder erleben können, wohl doch schon Ausdruck dieses Zornes Gottes, der es zulässt, geschehen lässt, dass Kirchen sich von seinem Wort abwenden und meinen, selber besser zu wissen, was Gottes Wille ist, ja dass Kirchen nur noch nach Zustimmung in der Bevölkerung fragen und nicht mehr danach, was sie im Auftrag des Herrn zu verkündigen haben? Und machen wir uns noch bewusst, wie groß die Sogkraft dieses Denkens ist, wie leicht auch wir in der Gefahr stehen, uns stromlinienförmig anzupassen an das, was die Menschen heute gut finden?

Ja, gut tun wir daran, uns gerade jetzt in der Adventszeit wieder neu von Gott zur Umkehr rufen zu lassen, uns von dem Wochenpsalm dazu anleiten zu lassen, Gott um die Abwendung seines wohlverdienten Zornes zu bitten. Gut tun wir daran, von den Betern des 80. Psalms zu lernen, Gott immer wieder an das zu erinnern, was er in der Vergangenheit für sein Volk getan, ja, ihm versprochen hat. Und da können wir Gott ja noch an viel mehr erinnern als das Volk Israels damals, sollen und dürfen ihn an das erinnern, was er durch seinen Sohn Jesus Christus für uns getan und uns so fest versprochen hat.

Bitten wir Gott darum für unsere verfolgten Schwestern und Brüder, gerade im Irak und in Syrien, geben wir sie nicht auf, sondern rufen wir ihr Leid immer wieder in Gottes Ohren hinein! Und bitten wir Gott um Erbarmen für uns, für seine Kirche hier in Deutschland, bitten wir Gott um Erbarmen auch für unser Missionsprojekt hier in Steglitz, erinnern wir ihn an seine Verheißung, dass Gott uns seinen Segen immer wieder zuwenden möge, sein Antlitz immer wieder über uns leuchten lassen möge!

Ja, tun wir das immer wieder als Leute, die darüber erschrocken sind, wie sehr sie Gottes Zorn verdient haben, und tun wir dies zugleich als Leute, die vor Freude darüber staunen und jubeln, dass Gott uns nicht im Ungewissen hängen lässt, uns immer wieder ganz konkret seine Vergebung, ja auch seinen Segen zuspricht hier am Altar. Und tun wir das als Leute, die dann auch nicht wieder vergessen, was Gott für sie getan hat, wenn sie wieder in ihren Alltag zurückkehren: „So wollen wir nicht von dir weichen. Lass uns leben, so wollen wir deinen Namen anrufen.“ Gott lässt uns leben, so dürfen wir es gleich wieder erfahren, wenn wir das Heilmittel des ewigen Lebens am Altar empfangen. Gott geb’s, dass wir dann auch bei ihm bleiben, jawohl, ganz konkret in seiner Kirche, nicht nur zu Weihnachten, sondern unser Leben lang! Amen.