24.09.2014 | 11. Thessalonicher 5,14-24 | Mittwoch nach dem 14. Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Seit gut einem halben Jahr habe ich nun eine Lesebrille. Wie dringend ich sie brauchte, habe ich eigentlich erst gemerkt, als ich sie zum ersten Mal aufsetzte. Da sah ich mit einem Mal wieder Dinge, die ich vorher nur noch sehr verschwommen wahrgenommen hatte, über die ich darum in der Zeit zuvor oftmals einfach hinweggesehen hatte.

Solch eine Sehhilfe, Schwestern und Brüder, wird uns auch in der Predigtlesung des heutigen Abends präsentiert: eine Sehhilfe, die uns wieder neu wahrnehmen lässt, was wir sonst oft allzu leicht übersehen, was uns sonst so leicht aus unserem Blick verschwindet.

Da kommt der Apostel Paulus an das Ende seines Briefes an die Christen in Thessalonich. Und wie das so ist, wenn Eltern sich von ihren Kindern verabschieden, so ist es auch mit Paulus, als er sich nun daran macht, sich von seinen geistlichen Kindern zu verabschieden: Da muss er noch ganz kurz ganz viel loswerden, was ihm noch auf dem Herzen liegt, was ihm noch wichtig ist. Und in der Tat: Was Paulus hier schreibt, ist wichtig, nicht nur für die Christen im Norden Griechenlands damals, sondern auch für uns heute. Ja, was Paulus schreibt, hilft uns, unser Leben, unsere Gemeinde, unsere Zukunft noch einmal neu wahrzunehmen.

Da lenkt der Apostel unseren Blick zunächst einmal auf die Schwestern und Brüder in der Gemeinde: Eine christliche Gemeinde ist kein Club von immer erfolgreichen, immer glücklichen Menschen, von Menschen, die immer nur gut drauf sind und ihr Leben selbstverständlich auch immer im Griff haben. Sondern da gibt es in der Gemeinde Menschen, die mit ihrem Leben einfach nicht klarkommen, die nicht damit klarkommen, dass sie ihr Leben hier mit einem Mal unter ganz anderen Umständen führen müssen als noch vor ein, zwei Jahren. Die packen das mitunter nicht alleine, die brauchen Hilfe, Unterstützung von den Brüdern und Schwestern in der Gemeinde. Die haben es nötig, dass sie von den Geschwistern in der Gemeinde wahrgenommen werden. Da gibt es Menschen in der Gemeinde, die mutlos geworden sind, die kurz davor sind aufzugeben oder schon aufgegeben haben, weil sie für sich und ihr Leben gar keine Zukunft mehr sehen, Menschen, die alle Hoffnung in ihrem Leben verloren haben. Es ist wichtig, dass wir sie wahrnehmen, sie aufrichten und trösten. Da gibt es die Schwachen, diejenigen, die uns in der Gemeinde vielleicht gar keine Hilfe zu sein scheinen, sondern die im Gegenteil uns als Last erscheinen, die getragen werden müssen. Ja, „tragt die Schwachen“, schreibt der Apostel. Das gehört mit zu einer christlichen Gemeinde hinzu, dass Schwache nicht fallengelassen werden, sondern mitgenommen werden auf dem gemeinsamen Weg. Ja, nehmt sie wahr, diese Schwachen in der Gemeinde. Und seid geduldig gegen jedermann, auch und gerade gegenüber denen, die uns fürchterlich auf den Keks gehen. Ja, wir ahnen schon, das könnten wir gar nicht, wenn wir nicht wüssten, wieviel Geduld Gott immer wieder mit uns hat, wie er uns trägt und uns niemals aufgibt.

Und das gilt erst recht für die nächste Sehhilfe, die uns der Apostel Paulus hier gibt: „Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und gegen jedermann.“ Wenn uns ein anderer Böses angetan hat, dann erleben wir es immer wieder, wie unser Blick sich verengt, wie wir so leicht in dieses Denken „Wie du mir, so ich dir“ hineinrutschen, ja, wie das Gute uns völlig aus dem Blick gerät, das Gute, das gerade keine moralische Forderung ist, sondern Gottes Vergebung, mit der er uns beschenkt und die von daher dann auch der Maßstab in unserem Umgang mit dem Bösen sein soll. Ja, wie nötig haben wir diese Sehhilfe von Gottes Wort immer wieder, damit wir wieder klar blicken und unser Gegenüber nicht verzerrt wahrnehmen – innerhalb und außerhalb der Gemeinde!

Und dann beschreibt der Apostel Paulus etwas, was man heutzutage vielleicht mit dem schönen neudeutschen Begriff „Lifestyle“ umschreiben würde: eine Grundhaltung von uns Christen, die unser Leben bewusst und unbewusst bestimmt: Seid fröhlich, betet, seid dankbar. So sieht christlicher Lifestyle aus. Seid fröhlich – das heißt nicht, dass wir die ganze Zeit mit einem verklärten Lächeln auf den Lippen herumlaufen, sondern dass wir leben in der Gewissheit, dass uns das Beste und Wichtigste niemand auf der Welt nehmen kann. Betet ohne Unterlass – das heißt nicht, dass wir nur noch mit geschlossenen Augen durch die Welt laufen, sondern dass wir im Gegenteil mit offenen Augen wahrnehmen, dass wir Christus immer an unserer Seite haben und mit ihm allezeit im Gespräch sein dürfen über alles, was wir erleben und was uns widerfährt. Und seid dankbar in allen Dingen – das ist eben auch wieder so eine Sehhilfe, die Paulus uns hier verpasst, dass wir in unserem Leben immer wieder wahrnehmen, wie reich beschenkt wir von Gott sind, was wir alles von ihm haben, und dass wir nicht immer nur auf das blicken, was wir nicht haben. Ja, das verändert unser Leben, wenn wir diesen Lifestyle praktizieren, wenn wir tatsächlich in allen Dingen dankbar sind.

Doch Paulus ist noch nicht fertig. Er lenkt unseren Blick noch einmal auf unsere Gemeinde, auf das, was bei uns passiert. Wir sind eben nicht nur ein Verein, sondern was in unserer Mitte geschieht, ist Gabe und Wirkung des Heiligen Geistes. Der führt und leitet uns, und mitunter leitet er uns auch ganz anders, als wir dies erwarten würden. Was bei uns läuft, ist nicht normal, stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Seien wir darum offen für das, was möglicherweise bei uns nun in der Zukunft noch alles passiert, was wir jetzt noch gar nicht ahnen. Würgen wir das nicht gleich ab mit dem Hinweis, dass wir das ja noch nie so gemacht haben! Wir sind hier kein Museum! Aber prüfen wir zugleich auch alles, was bei uns geschieht! Fragen wir bei allen Entwicklungen in unserer Gemeinde, ob sie wirklich dem Willen Gottes, ob sie wirklich der Heiligen Schrift entsprechen. Nicht alles, was uns gut erscheint, muss auch wirklich gut sein. Ja, bitten wir Christus immer wieder darum, dass er uns das Unterscheidungsvermögen schenkt, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Bitten wir ihn um die Sehhilfe des Heiligen Geistes!

Und dann lenkt der Apostel unseren Blick schließlich und vor allem nach vorne, auf unsere Zukunft, auf das Ziel unseres Lebens. Worin besteht dieses Ziel: ganz einfach: in der Begegnung mit dem wiederkommenden Herrn Jesus Christus. Das ist die ganz entscheidende Sehhilfe für unser Leben, dass wir alles, was wir wahrnehmen, im Licht des wiederkommenden Christus betrachten. Da erscheint dann mit einem Mal so manches, was so groß und wichtig zu sein scheint, dann auch wieder unwichtig, und dann wird auch solch ein kleiner Abendgottesdienst hier bei uns in der Kirche ganz wichtig, weil er uns auf die Begegnung mit Christus vorbereitet, ja, weil wir heute wieder erfahren, dass unser Heil nicht darin besteht, dass wir uns an die Ermahnungen halten, die uns Paulus hier gibt, sondern dass unser Heil in dem besteht, was er, Gott, für uns tut. Der macht uns heilig, das heißt: Der hält uns in seiner Gemeinschaft fest, voll und ganz, mit Leib, Seele und Geist, wenn wir ihn, Christus, gleich wieder mit Leib und Seele empfangen im Heiligen Mahl. Ja, das ist die entscheidende Sehhilfe unseres Lebens: „Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.“ Was wir in unserem Leben auch übersehen mögen, wo wir auch versagen mögen: Was Gott uns in unserer Taufe versprochen hat, das bleibt, das nimmt er nie mehr zurück. Gott wird tun, was er dir dort zugesagt hat: Dass er dich zu seinem guten Ziel bringen wird, dort wo wir tatsächlich ohne jede Einschränkung allezeit fröhlich sein werden. Er wird’s auch tun – wenn das kein Grund ist, dankbar zu sein in allen Dingen?! Amen.