25.05.2014 | 2. Mose 32,7-14 | Rogate
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Zu meinen Lieblingsseiten im Internet zählt zweifelsohne „Der Postillon“, der täglich neu satirische Meldungen in scheinbar seriösem Nachrichtenstil veröffentlicht und dabei immer wieder auf gleichermaßen groteske wie äußerst witzige Ideen kommt. Vor einiger Zeit konnte man im „Postillon“ unter der Überschrift „Riesiger alter Mann mit Bart vom Himmel gefallen – tot!“ die folgende Meldung lesen:

„Bizarrer Unfall bei Münster! Dort ist heute Morgen ein über vier Meter großer alter Mann vom Himmel gefallen. Die alarmierten Rettungskräfte konnten bei ihrem Eintreffen nur noch den Tod des riesigen Greisen feststellen. ‚Er fiel plötzlich vom Himmel und schlug nicht weit von meiner Herde auf der Wiese ein. Gott sei Dank hat er keines meiner Tiere erwischt‘, erklärte Ralf Kästner, von Beruf Schäfer und einziger Augenzeuge des Unfalls, gegenüber dem Postillon. ‚Vielleicht ist er aus einem Flugzeug gefallen.‘ Diesen Verdacht konnten allerdings die örtlichen Behörden inzwischen widerlegen. ‚Zu dem Zeitpunkt, als der riesige alte Mann mit dem langen Bart vom Himmel fiel, gab es keinen Flugverkehr in der näheren Umgebung‘, so ein Polizeisprecher. Zudem würden verschiedene Partikel auf seiner Kleidung, die sonst nur außerhalb der Erdatmosphäre vorkommen, darauf hinweisen, dass der alte Mann von einem deutlich höheren Ort abgestürzt war. Eine Obduktion hat mittlerweile ergeben, dass der Unbekannte zu Lebzeiten an starker Kurzsichtigkeit litt und nahezu blind war. Das und eine in der Nähe gefundene Riesenbrille lassen den Schluss zu, dass der alte Mann – von wo auch immer er herabfiel – vornübergekippt war, als er versucht hatte, Dinge zu erkennen, die sich unter ihm abspielten.“

In köstlicher Weise wird hier die Vorstellung von Gott als einem alten Opa aufs Korn genommen, der irgendwo jenseits der Stratosphäre wohnt und nicht mehr so ganz mitbekommt, was hier unten auf der Erde läuft. Ja, bei solch einem Gott muss man tatsächlich damit rechnen, dass er irgendwann mal in seinem Schaukelstuhl das Gleichgewicht verliert und auf die Erde stürzt. Ja, mehr noch: einen solchen Rauschbartopagott kann man in der Tat nur für tot erklären, da muss gar nicht erst die Polizei in Münster zum Einsatz kommen.

Und doch erfreut sich dieser alte Rauschebartgott in der Vorstellung vieler Menschen, ja selbst nicht weniger Christen immer noch großer Beliebtheit: Der liebe Gott als netter Partygast bei bestimmten Familienfeiern, als harmloser älterer Herr, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann, bei dem wir sicher sein können: Der tut nichts, der will nur spielen!

Doch wer sich mit solch einer Gottesvorstellung zufrieden gibt und sich daraus seine eigene Religion zusammenbastelt, der hat von dem lebendigen Gott offenbar keine Ahnung, so macht es uns die alttestamentliche Lesung des heutigen Sonntags deutlich. Dieser höchst aktive, keinesfalls klapprige und sehschwache Gott hatte sein Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten geführt, es in wunderbarer Weise durch das Wasser des Meeres hindurchgeführt und sich seinem Volk am Berg Sinai zu erkennen gegeben. Ja, eines hatte er, der lebendige Gott, seinem Volk dabei ganz deutlich gemacht: Gott ist nur er allein, kein anderer, nichts und niemanden sollte das Volk an seine Stelle setzen, sollte keinesfalls aus dem Glauben an den lebendigen Gott eine pflegeleichte Religion zur Befriedigung der eigenen spirituellen Bedürfnisse machen. Doch kaum hatte Gott den Mose noch mal zu sich nach oben auf den Berg Sinai bestellt, damit der sich da noch mal eine Hardcopy der Zehn Gebote abholen konnte, fängt das Volk Israel unten am Fuß des Berges an zu spinnen: Sie wollen endlich einen sichtbaren Gott haben, einen Gott, der ihren Wünschen nach einem anständigen Gott entsprach, der ihnen Wohlstand, Glück und die Befriedigung all ihrer Bedürfnisse und Triebe versprach, einen Gott in der Form eines goldenen Stieres. Aaron setzt den Wunsch des Volkes in die Wirklichkeit um – schließlich hatte sich ja auch eine deutliche Mehrheit des Volkes dafür ausgesprochen; da musste er das natürlich machen. Und der Anblick dieses sichtbaren Gottesbildes löst bei den Israeliten nun große Begeisterung und Feierstimmung, ja große religiöse Gefühle aus. War das nicht Beweis genug dafür, dass es sinnvoll ist, die Religion von Zeit zu Zeit den Wünschen des heutigen Menschen anzupassen?

Doch er, der lebendige Gott, kippt angesichts der Abwendung seines Volkes von ihm nicht ohnmächtig aus seinem Sessel, sondern er wird aktiv: Er kündigt dem Mose an, dass er seinen Zorn über sein Volk entbrennen lassen will, dieses abtrünnige Volk vertilgen will und mit Mose und seinen Nachkommen noch einmal ganz neu anfangen will.  

Doch Mose fügt sich nicht einfach ergeben in Gottes Willen, sondern er fängt an, mit Gott zu diskutieren, fängt an, ihn anzuflehen, ihn mit guten Argumenten zu bombardieren, warum das keine gute Idee wäre, wenn Gott nun sein Volk vernichtete, bekniet Gott so lange, bis der schließlich weich wird und seinen ursprünglichen Plan wieder zurückzieht, auf das Unheil verzichtet, das er seinem Volk antun wollte.

Keine Ahnung hatten die Israeliten damals bei ihrem Tanz ums Goldene Kalb, was für dramatische Szenen sich da weiter oben über ihm abspielten, wie nur der leidenschaftliche Einsatz des Mose sie vor dem Strafgericht, vor der Vernichtung bewahrte. Während sie, die Israeliten, dachten, sie könnten sich einer Wohlfühlreligion hingeben, bleibt ihnen erst im letzten Augenblick erspart, erfahren zu müssen, was er, der lebendige Gott, in Wirklichkeit alles vermag.

Schwestern und Brüder: Ahnen wir wenigstens etwas davon, wie aktuell diese Geschichte ist, die uns hier vor Augen gestellt wird? Ahnen wir wenigstens etwas davon, dass wir in genau derselben Situation sind wie die Israeliten damals am Fuß des Berges Sinai? Wie oft wollen auch wir in unserem Leben herzlich wenig wissen von ihm, dem lebendigen Gott, wie oft basteln auch wir uns unseren eigenen, harmlosen Gott zusammen, der immer das tut und für uns macht, was wir gerade haben möchten! Wie oft ist es nicht Gott, der an der ersten Stelle in unserem Leben steht, wie oft sind wir es selber, um die alles kreisen soll, wie oft sind es Geld und Besitz, sind es Hobbys, sind es vielleicht auch unsere Triebe, die unser Herz, die unser Handeln bestimmen!

Schwestern und Brüder, ahnen wir etwas davon, dass wir uns mit dieser Abkehr von ihm, dem lebendigen Gott, den Zorn dieses lebendigen Gottes auf den Hals geladen haben und laden, dass wir uns nicht beklagen könnten, wenn Gott uns diesen Zorn auch spüren ließe, uns jede Zukunftsperspektive radikal abschnitte? Ja, hoffentlich ahnen wir etwas davon, denn nur dann können wir auch begreifen, was es für uns bedeutet, dass es da auch heute, dass es auch hier und jetzt einen gibt, der wie einst Mose vor Gott steht, für uns eintritt und schließlich Gottes Zorn von uns abwendet. Der da steht, hat noch bessere Argumente als Mose damals, der kann ihm, dem Vater, seine Wunden zeigen, kann ihn immer neu auf das hinweisen, was er für uns, sein halsstarriges Volk, getan hat am Kreuz von Golgatha. Was sich damals zwischen Gott und Mose am Berg Sinai abspielte, das spielt sich nunmehr gleichsam in Gott selber ab, das eine große Wunder, von dem wir leben, dass Gottes Liebe seinen Zorn immer wieder neu überwindet, uns leben lässt, uns ewig leben lässt, statt uns zum ewigen Tod zu verdammen.

Unser „Hohepriester“, so nennt das Neue Testament Jesus, ihn, der für uns vor seinem Vater eintritt, der für uns betet, während wir gar nicht ahnen, wie nötig wir dieses Gebet haben. Leben und Zukunft schenkt uns Christus damit, Leben und Zukunft, die es auch uns ermöglichen, wie einst Mose für andere vor Gott einzutreten, für sie zu bitten.

Nein, Gott ist sicher kein alter Opa mit Rauschebart, der aus seinem Lehnstuhl kippt. Aber er ist allen Ernstes ein Gott, der zuhört, der Argumenten zugänglich ist, der dazu bereit ist, auf das Flehen von Menschen zu reagieren. Liegen wir ihm darum immer wieder neu in den Ohren, gleichsam unter den schützenden Armen unseres Herrn Jesus Christus, flehen wir ihn an für die Menschen, auch in unserer Gemeinde, die sich von Christus wieder abgewandt haben und ihre eigenen Wege gehen, dass sie nicht verloren gehen! Flehen wir Gott an für die Menschen hier in unserer Stadt, die von Christus noch gar nichts wissen, dass Gottes Liebe auch sie erreiche! Flehen wir Gott an für die Schwestern und Brüder in unserer Gemeinde, die in diesen Tagen und Wochen in großer Not sind, die nicht wissen, ob sie hier aus unserer Gemeinde wieder herausgerissen werden, deportiert werden, abgeschoben werden! Flehen wir Gott an, dass er seine schützende Hand über sie halte, wo unsere menschlichen Möglichkeiten an ihre Grenzen stoßen! Flehen wir Gott an heute am Tag der Europawahl, dass Gott den Verantwortlichen in Europa das Herz öffne, dass sie Flüchtlinge nicht bloß als Bedrohung ansehen und bekämpfen, sondern sich an den Worten der Heiligen Schrift zum Umgang mit Fremden orientieren! Flehen wir Gott an für all die psychisch kranken Glieder unserer Gemeinde, die unter dem Druck, den sie erfahren, kaputtgehen, dass er ihnen wieder neue Hoffnung schenke!

Ja, schaut auf den Mose, lasst euch durch ihn daran erinnern und ermutigen: Gott hört, Gott erhört Gebete! Und schaut vor allem immer wieder auf Christus, unseren Herrn! Der kann, was keiner von uns kann: der kann und der wird uns retten vor Gottes Zorn, wird diesen Zorn in Gott selber immer wieder neu in Liebe verwandeln. Nein, Gott ist nicht harmlos und klapprig; er ist sehr lebendig und aktiv. Wie gut, dass er uns seine Lebendigkeit als Liebe erfahren lässt! Amen.