18.05.2014 | Offenbarung 15,2-4 | Kantate
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Gestern Abend haben sie wieder gesungen – die Anhänger von Bayern München nach dem glücklich gewonnenen DFB-Pokalfinale hier im Berliner Olympiastadion. Ja, wenn man ein Endspiel gewonnen hat, wenn man endgültig als Sieger dasteht, dann kann man das gar nicht für sich behalten, dann muss man singen, selbst wenn man dies sonst in seinem Alltag eigentlich kaum noch oder gar nicht mehr tut.

Heute singen sie vielleicht auch noch, und morgen vielleicht auch noch. Aber irgendwann ist dann mit dem Singen auch wieder Schluss, dann kehrt der Alltag ein, und da im Alltag mit seinen Sorgen und Problemen ist es dann letztlich doch kein sehr großer Trost, dass die Lieblingsfußballmannschaft mal wieder einen Pokal gewonnen hat. Ja, im Alltag kann einem der Gesang sehr schnell im Hals stecken bleiben.

Genau das erfuhren auch die Christen, an die der Seher Johannes damals vor gut 1900 Jahren seinen Brief, seine Offenbarung schickte. In kleinen Hausgemeinden versammelten sie sich sonntags zum Gottesdienst, und immer mussten sie dabei damit rechnen, erwischt zu werden, verhaftet zu werden, vielleicht gar getötet zu werden. Denn sie, die Christen, weigerten sich, die offizielle Staatsreligion anzuerkennen, den römischen Kaiser als Herrn und Gott anzubeten und zu verehren. Und wer dabei nicht mitmachte, der galt als Staatsfeind, der konnte leicht verleumdet und denunziert werden, dem drohten Gefängnis und mitunter auch die Hinrichtung. Ja, bei solch einer Aussicht singt man dann vielleicht doch nicht so ganz aus voller Kehle seine Lieder wie die Fußballfans des FC Bayern München gestern Abend.

Schwestern und Brüder: Es gibt so viele unter euch, die sich sehr, sehr gut in die Situation der Christen damals im Gebiet der heutigen Westtürkei hineinversetzen können. Es gibt so viele unter euch, die selber in solchen Hausgemeinden waren, selber damit rechnen mussten, erwischt zu werden, weil ihr euch von der offiziellen Staatsreligion abgewandt hattet. Ja, es gibt so viele unter euch, die davon wissen, was es heißt, verhaftet zu werden, ausgepeitscht zu werden, ja mit dem Tod bedroht zu werden. Leise gesungen habt ihr oft genug in den Hausgemeinden, ja, schön leise, damit es die Nachbarn möglichst nicht mitbekamen, was ihr da bei euch in der Wohnung triebt.

Und nun seid ihr hierher nach Deutschland gekommen, und eigentlich habt ihr nun die Möglichkeit, hier im Gottesdienst aus voller Kehle zu singen, ohne Angst, deswegen erwischt und verhaftet zu werden. Und doch klingt der Gesang hier bei uns im Gottesdienst oftmals nicht besonders kräftig – und das liegt nicht nur daran, dass sich viele von euch mit der deutschen Sprache und den Melodien der Lieder noch schwer tun. Sondern das liegt auch daran, dass auch jetzt noch so viel auf eurer Seele liegt, dass ihr oft genug immer noch gar nicht wisst, wie es denn mit euch, mit eurem Leben eigentlich weitergehen soll, dass ihr im Gegenteil Bedrohungen auf euch zukommen seht, gegen die ihr scheinbar gar keine Chance habt – Abschiebungen aus Deutschland, Probleme, die eure Familienangehörigen euretwegen bekommen, Ablehnungen eurer Asylanträge, weil man euch nicht glaubt, dass ihr wirklich Christen seid, ja, selbst nach eurer Anerkennung ein Leben ohne berufliche Perspektive, weil all das, was ihr gelernt und ausgeübt habt, hier in Deutschland nun nicht anerkannt wird. Ja, das kann einem schon die Sprache verschlagen, kann einem erst recht den Gesang im Halse stecken lassen.

Den Christen damals in ihren Hausgemeinden in Kleinasien öffnet der Seher Johannes hier in unserer Predigtlesung die Augen und Ohren, lässt sie eine Wirklichkeit erkennen, die sie normalerweise gar nicht wahrnehmen könnten: Da stehen sie, auf der anderen Seite des Meeres, wie einst die Israeliten nach ihrer Rettung am Schilfmeer. Da stehen sie, die Christen, die um ihres Glaubens willen ermordet worden sind, die Christen, die in ihrem Leben oft so Schweres durchgemacht haben, weil sie Christus treu geblieben sind, ihre Knie nicht vor dem römischen Kaiser gebeugt haben. Da stehen sie, diese Christen, auf der anderen Seite des Meeres, nun endgültig gerettet, nun endgültig in Sicherheit – und sie singen, nun nicht mehr leise und vorsichtig, nicht mehr ängstlich und vielleicht auch zweifelnd, sondern voller Freude und Jubel, singen ein Siegeslied, das nicht mehr nach einigen Stunden oder Tagen verstummt, sondern das seine Gültigkeit behält in alle Ewigkeit. Ja, sie jubeln und singen, weil sie nun am anderen Ende des Meeres erkennen, wie Gott sie geführt hat, wie er sie auch durch alle dunklen Täler, durch alle furchtbaren Erfahrungen hindurchgetragen hat, wie er sich am Ende doch stärker erwiesen hat als das furchtbare Regime, das den Christen ein Ende bereiten wollte. Ja, sie jubeln und singen, Menschen aus allen Völkern und Sprachen, jubeln und singen gemeinsam über den Gott, vor dem einmal Menschen aus allen Völkern niederfallen werden, jubeln über Christus, ihren Herrn und Retter, über ihn, das Lamm Gottes, vor dem auch einmal alle Ayatollahs auf die Knie sinken werden, vor ihm, dem Lamm Gottes, das auch einmal alle Taliban als Herrn der Welt anerkennen werden.

Was für eine Ermutigung war das für die Christen damals in ihren kleinen Hausgemeinden: Nein, dem Staat wird es nicht gelingen, uns endgültig auszulöschen und zu vernichten. Nicht der römische Kaiser wird das letzte Wort haben, sondern allein Christus, der Herr. Mit dem Gesang der Christen, die schon das Ziel erreicht haben, im Ohr, konnten sie weitermachen, konnten sie hindurchziehen durch das Meer, das vor ihnen lag, durch die Bedrohungen und Probleme, mit denen sie hier und jetzt konfrontiert waren. Ja, am Ende wartete und wartet auch auf sie der große Siegesgesang, die große Siegesfeier, hundertprozentig. Denn diese Siegesfeier, sie hat ja schon begonnen, sie ist nicht bloß Zukunftsmusik, sondern jetzt schon Gegenwart, jetzt schon Realität.

Diese Aussicht lässt auch heute noch Christen singen in Hausgemeinden in Teheran, in Shiraz und in Rasht, in Afghanistan und Nordkorea, in Saudi-Arabien und auf den Malediven, lässt sie singen trotz der Todesstrafe, die ihnen deswegen droht. Und diese Aussicht lässt auch uns heute Morgen hier singen trotz aller Probleme, die wir in unserem Leben erfahren, trotz aller Gemeinheiten und Bosheiten, mit denen wir vielleicht auch gerade jetzt in diesen vergangenen Tagen wieder konfrontiert worden sind, trotz aller Ängste, die wir haben mögen, weil uns ein Brief vom Bundesamt erreicht hat. Was uns auch bedrohen mag – nichts kann uns aufhalten auf dem Weg zur großen Siegesfeier bei Christus, nichts kann uns davon abhalten, den Weg durch das Meer weiterzugehen bis zum Ziel.

Hört darum nicht auf die Stimmen derer, die euch einreden wollen, es habe keinen Zweck, den Weg weiterzugehen! Hört nicht auf die Stimmen derer, die euch ausreden wollen, weiter Christus eure Lieder zu singen, hört nicht auf die Stimmen derer, die euch einreden wollen, die alten Lieder dieser Welt zu singen, die uns letztlich doch keine Hoffnung zu schenken vermögen! Die Siegesfeier hat schon begonnen, und wenn wir gleich das Heilige Mahl feiern, dann singen wir mit gemeinsam mit all denen, die jetzt schon vor dem Thron des Lammes stehen, dort auf der anderen Seite des Meeres. Sie und wir – wir singen miteinander schon dasselbe Lied, das Lied von Gott, der stärker ist als alles Böse, das Lied von Gott, der Menschen aus allen Völkern um sich sammelt, Menschen aus dem Iran, aus Afghanistan, aus der Ukraine, aus den USA, ja, auch aus Deutschland. Ja, ich weiß, das Meer liegt noch vor uns, und nicht selten schlagen seine Wellen jetzt noch über unserem Kopf zusammen. Doch singen dürfen wir trotzdem schon, und sei es wie einst Jona im Bauch des Fisches. Wir haben jetzt schon unendlich mehr zu feiern als die Fans von Bayern München. Wir feiern nicht weniger als den Sieg über den Tod, jawohl, schon jetzt und heute und hier, so gewiss wir getauft sind. Und wenn unser Gesang heute mal wieder ein bisschen schwächer klingt, dann hört genau hin – dann könnt ihr ihn schon erahnen, den Gesang von der anderen Seite des Meeres: „Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, König der Völker!“ Halleluja! Amen.