18.04.2014 | Jesaja 52,13-53,12 | Karfreitag
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Das Kreuz muss weg!“ Immer häufiger ist in den letzten Jahren dieser Ruf, diese Forderung zu vernehmen. In Kalifornien musste unlängst eine Familie ein Kreuz am Straßenrand entfernen lassen, das sie zum Gedenken an ihren an dieser Stelle tödlich verunglückten Sohn aufgestellt hatte, weil ein humanistischer Verband den Anblick dieses Kreuzes für unerträglich hielt. In England wurde eine Stewardess aus dem Dienst entlassen, weil sie sich weigerte, ihre Kette mit einem kleinen Kreuz um den Hals zu entfernen. Und genau diese Entfernung von Kreuzen aus ihrem Blickfeld fordern auch hier in Deutschland, wie in anderen Ländern Europas, gerade auch Muslime mit besonderem Nachdruck. Sie ärgern sich über das Kreuz, denn im Koran steht doch, Jesus sei in Wirklichkeit gar nicht gekreuzigt worden. Also: Weg mit dem Kreuz! Und gerade gestern habe ich Bilder von den blutigen Striemen auf dem Rücken eines Verwandten eines unserer Gemeindeglieder gesehen, der in dieser Woche im Iran ausgepeitscht worden ist, weil man ein Tattoo mit einem Kreuz auf seinem Arm entdeckt hatte. Ja, das Kreuz muss weg – notfalls auch mit Gewalt, mit 60 Peitschenhieben.

Diejenigen, die sich so über den Anblick eines Kreuzes ärgern, haben immerhin mehr von der Bedeutung des Kreuzes verstanden als all diejenigen, die sich von dem Anblick eines Kreuzes gar nicht mehr bewegen lassen, die das Kreuz einfach abhaken als angeblich deutsches Kulturgut oder als hübscher Schmuck.

In der alttestamentlichen Lesung des heutigen Karfreitags sprechen Menschen, die früher auch einmal so gedacht hatten wie so viele andere Menschen, die mit dem Kreuz nichts anfangen konnten, die es einfach nur ärgerlich und abstoßend fanden. Doch, so bekennen sie hier in den Worten unserer Predigtlesung, nun haben sie völlig umgedacht, nun haben sie erkannt, was da in Wirklichkeit passiert ist, als dieser eine, dessen Leiden und Sterben sie hier beschreiben, am Kreuz gestorben ist. Nein, seinen Namen nennen sie hier nicht; doch wer die Berichte vom Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus einmal gelesen hat, dem springt es geradezu ins Auge, um wen es hier in diesen scheinbar so geheimnisvollen Worten des Propheten Jesaja geht. Ja, mehr noch: Diese Worte unserer heutigen Predigtlesung können und sollen auch uns helfen, immer wieder neu umzudenken, noch einmal neu wahrzunehmen, was das entsetzliche Leiden und Sterben dieses Einen auch für uns heute bedeutet. „Das hätten wir nie gedacht“, so bezeugen es die Betrachter des Gekreuzigten, die hier in diesen Versen zu Wort kommen. „Das hätten wir nie gedacht ...“

-    dass unser Retter so hässlich ist
-    dass dieses eine Sterben für alle Bedeutung hat
-    dass ein frisch Beerdigter für immer leben und herrschen wird


I.
„Mach was gegen hässlich“ – so lautet der Titel der Werbekampagne, die die Baumarktkette Hornbach vor einigen Wochen gestartet hat. Wir wollen nichts Hässliches sehen; das beleidigt unsere Augen; wir wollen auch keine hässlichen Menschen sehen. Wer etwas erreichen will im Leben, der sollte schön sein, der sollte seiner Schönheit unter Umständen auch ein wenig nachhelfen. Von allem Hässlichen wenden wir uns dagegen ab.

Genau das ist der Trend unserer Zeit: Superstars müssen schön sein, Models, die Mode präsentieren, müssen schön sein, müssen unserem Bedürfnis nach Ästhetik entsprechen. „Hässlich“ ist dagegen ein schlimmes Schimpfwort, das wehtut, das verletzt, das beleidigt. Und das gilt jetzt nicht nur für unsere westliche Kultur. Man stelle sich nur einmal vor, jemand würde in der Öffentlichkeit behaupten, Mohammad sei hässlich gewesen. Der Aufschrei aus der gesamten islamischen Welt wäre vorprogrammiert. Wir wissen in Wirklichkeit ja nicht, wie Mohammad wirklich ausgesehen hat. Aber auch nur den Gedanken auszusprechen, er könne hässlich gewesen sein, würde von vielen Muslimen als geradezu gotteslästerlich angesehen werden.

Jesus war hässlich, so bezeugen es die Betrachter des Gekreuzigten hier in unserer Predigtlesung. Ja, seine Gestalt war sogar hässlicher als die anderer Leute. Am vorletzten Dienstag haben wir im englischen Jugendbibelkreis den Film „Die Passion Christi“ gesehen, die das Leiden und die Kreuzigung Christi nun in aller schonungslosen Brutalität zeigt. Da kann man eigentlich kaum hingucken, so abstoßend, so ekelhaft ist das, was da gezeigt wird.

Doch schau nicht weg von diesem hässlichen Jesus. Er ist nicht als Superstar oder als Model in diese Welt gekommen; er ist gekommen, um ganz in das Leid dieser Welt einzutauchen, ja dieses ganze Leid der Welt auf sich zu nehmen. Der, der in aller Ewigkeit vor Schönheit strahlte, gibt alles auf, auch seine Schönheit, wird hässlich – für uns. Und er lehrt uns damit zugleich, Menschen noch einmal mit anderen Augen zu sehen, sie nicht danach zu beurteilen, ob sie unserem ästhetischen Empfinden entsprechen. Er, der hässliche Retter, lenkt unseren Blick auf all diejenigen Menschen, die von anderen Menschen verunstaltet worden sind, die ausgepeitscht sind, deren Gliedmaßen abgehackt worden sind, die in Arbeitslagern allmählich verhungern. Er, der hässliche Retter stellt sich auf die Seite all derer, die von Krankheiten und Behinderungen gezeichnet sind und es sich dann auch noch gefallen lassen müssen, dafür ausgelacht zu werden – wie er, der hässliche Retter, damals auch. Er, der hässliche Retter, steht auf der Seite derer, die in ihrem Leben so Schreckliches durchgemacht haben, dass ihr Gesicht erstarrt ist, dass darin kein Strahlen, kein Leuchten mehr zu erkennen ist. Ja, daran sollen die Kreuze erinnern, die wir aufstellen, aufhängen und tragen, sollen uns helfen, Menschen mit anderen Augen zu sehen, sollen uns helfen, umzudenken in unseren Bewertungen von Menschen. Vergessen wir es nicht: Wir haben einen hässlichen Retter, einen Retter, der sich hat hässlich machen lassen – für uns.

II.
Doch nun ist der gekreuzigte Jesus für uns eben unendlich mehr als nur eine Inspiration für unseren Umgang mit Menschen, die vom Leben gezeichnet sind. Diejenigen, die hier in unserer Predigtlesung zu Wort kommen, die schildern, dass sie noch viel weiter umdenken mussten:

Ganz selbstverständlich waren sie davon ausgegangen, dass das Sterben eines jeden Menschen, dass auch das Sterben dieses einen, den sie hier beschreiben, nur für ihn selber Bedeutung hat, für niemanden sonst. Ja, mehr noch, sie glaubten allen Ernstes, dass ein solch schweres Leiden wohl die Strafe Gottes für vergangene Verfehlungen in seinem Leben sein müsste: Wenn jemand so schwer leidet, dann muss er das wohl irgendwie verdient haben. Ja, weitverbreitet ist ein solches Denken auch heute, gilt es geradezu als chic, an so etwas wie Karma zu glauben, daran, dass jeder Mensch selber abzubüßen hat, was er sich früher einmal, vielleicht in einem früheren Leben, eingebrockt hat. Jeder Mensch muss abbüßen, was er an Schlechtem getan hat, und jeder Mensch kann sich mit seinen guten Taten noch oben arbeiten, so lautet das Credo derer, die diesen Karma-Gedanken vertreten.

Doch die Betrachter des Gekreuzigten haben umlernen müssen, haben erkennen müssen, dass dieses Karma-Denken am Kreuz Jesu zerbricht: Ja, der Gekreuzigte erleidet die Strafe Gottes, und wie! Aber es ist nicht die Strafe für seine Schuld, für seine Verfehlungen. Es ist unsere Schuld, es ist unsere Sünde, die ihn verwundet, die ihn zu Tode bringt. Ja, so bezeugen es die Betrachter des Gekreuzigten: Es gibt ein stellvertretendes Leiden und Sterben – und diese Stellvertretung ist unsere Rettung, ist unser Heil, ist unser Frieden, ist unsere Heilung. Was dieser Eine erlitten hat, das gilt für „die Vielen“, so betont es Jesaja hier, gemeint ist: für eine unüberschaubar große Menge, das reicht zur Tilgung der Strafe der Sünden der ganzen Welt. Darum sollst und darfst du nicht vom Kreuz wegschauen: Dort findest du deine Sünde. Sie braucht dich nicht mehr zu Boden zu drücken, sie braucht dich nicht mehr zu quälen. Sie ist nicht mehr bei dir, sie kann dich nicht verdammen. Der Gekreuzigte, das Lamm Gottes, trägt sie für dich.
Und das gilt eben nicht für dich allein: Das gilt für alle Menschen, das gilt gerade auch für die Menschen, die dir zu schaffen machen, die dir das Leben schwer machen: Christus hat auch ihre Sünde auf sich genommen und getragen.

Dass unser Heil, dass unsere Zukunft nicht an uns hängt, sondern an dem, der ans Kreuz genagelt worden ist, das ist allerdings eine Provokation für jeden, der sich selbst für einen solch anständigen Menschen hält, dass der liebe Gott froh sein sollte, ihn am Ende im Himmel mit dabei zu haben. Kein Wunder, dass Menschen sich über das Kreuz aufregen; es ist das Ende aller herkömmlichen Moral. Es bringt unser ganzes Denken, unsere ganzen Maßstäbe durcheinander. Und doch ist eben dies so heilsam: Denn nur so und nicht anders können wir wirklich Frieden finden, Frieden mit Gott, Frieden, der auch uns in unserem Leben aufatmen lässt.

III.
Von der Beerdigung des zu Tode Gefolterten wissen die Betrachter hier schließlich noch zu berichten. Wenn jemand beerdigt wird, dann ist Schluss mit ihm, dann ist alles aus und vorbei, ganz klar – möchte man meinen. Doch was so unumstößlich erscheint, das stellen die Betrachter des Gekreuzigten hier schließlich auch noch in Frage: Er, der Beerdigte, wird leben, wird erhöht werden, wird das Licht schauen. Das widerspricht all unserer Erfahrung, das widerspricht unserem Denken, das immer wieder im Dunkel des Todes hängen bleibt. Auch unser Blick bleibt heute noch auf den Gekreuzigten gerichtet, auf den, der schließlich nach seinem Tod abgenommen und uns Grab gelegt wird. Doch schon morgen Nacht werden wir es feiern, hier in dieser Kirche, was die, die schon viele hundert Jahre vor der Geburt Christi seinen Tod so eindrücklich vor Augen hatten, auch schon sehen durften, dass die Beerdigung nicht der Endpunkt des Weges des Gekreuzigten blieb. Schon morgen Nacht werden wir es feiern, dass der Gekreuzigte lebt und herrscht und Menschen in seine Gemeinschaft sammelt, sie in der Taufe mit ihm sterben und auferstehen lässt, auch ihnen Anteil an dem gibt, was er für sie erlitten hat. Nein, unser Umdenken endet nicht am Karfreitag, es geht zu Ostern weiter, wenn uns dort noch einmal eine ganz neue Lebensperspektive eröffnet wird. Doch was am Kreuz geschah, wird dadurch nicht aufgehoben, das ist und bleibt das Zentrum unseres Glaubens, das Zentrum unseres Lebens. Und darum hängt es in unseren Wohnungen und Kirchen, darum tragen es so viele von uns auch ganz bewusst als Zeichen der Zugehörigkeit zu ihm, unserem Herrn, an ihrem Hals, an ihrer Brust, ja, mitunter sogar als Tattoo auf der Haut: das Kreuz, das Zeichen unserer Rettung. Amen.