22.12.2013 | Jesaja 52,7-10 | Vierter Sonntag im Advent
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich Mitte der 80er Jahre in Dresden vor einem großen Trümmerhaufen stand: Es waren die Überreste der Frauenkirche, die dem verheerenden Bombenangriff vom 13. Februar 1945 zum Opfer gefallen war. Schwarze, verkohlte Steine – mehr nicht. Nicht im Traum wäre ich auf die Idee gekommen, dass diese Steine wieder zu einer wunderschönen Kirche zusammengefügt werden könnten, erst recht nicht damals Mitte der 80er Jahre, als dort in Dresden der Atheismus noch die offizielle Staatsreligion war. Doch mittlerweile liegt der Trümmerhaufen dort in Dresden nicht mehr herum – an seiner Stelle erhebt sich eine der schönsten Kirchen Deutschlands, deren barocke Pracht die Besucher bei ihrem Eintritt fast erschlägt. Engagierte Bürger haben das Unmögliche möglich gemacht, haben tatsächlich wiederhergestellt, was scheinbar doch gar nicht mehr wiederhergestellt werden konnte.

Nicht immer schaffen es Menschen, aus Trümmern wieder das Alte oder auch etwas Neues erstehen zu lassen – im Gegenteil: In den allermeisten Fällen bleibt das, was kaputt ist, auch kaputt, haben wir Menschen keine Möglichkeit mehr, an erlittenen Zerstörungen und Vernichtungen noch etwas zu ändern. Und eben davon können wir auch hier in unserer Gemeinde eine Menge erzählen:
Da stehen so viele von euch, menschlich gesprochen, vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens, musstet ihr erleben, wie euch alles genommen wurde, was euch bisher im Leben etwas bedeutete: eure Familie, eure Freunde, euer Beruf, euer Haus, euer Besitz, ja, nicht selten auch eure Gesundheit. Ja, was wurde da bei euch nicht alles zertrümmert in den Gefängnissen und Folterkammern, in den Monaten und Jahren eurer Flucht, ja, was ist dann schließlich auch noch an menschlichen Verbindungen bis in die eigene Familie hinein kaputt gegangen, als ihr den Menschen, die euch am nächsten standen, mitteiltet, dass ihr euch habt taufen lassen! Trümmer sind da in eurem Leben übrig geblieben, mehr oftmals nicht. Und dass sich das alles noch irgendwie rückgängig machen lässt, ist nach menschlichem Ermessen wohl doch ausgeschlossen.

Oder da mag so mancher auch das, was in den letzten Monaten in unserer St. Mariengemeinde Berlin-Zehlendorf geschehen ist, wie einen Trümmerhaufen empfinden: Da hatte man sich ganz bestimmte Vorstellungen davon gemacht, wie das Leben in der Gemeinde weitergehen würde; doch dann kam alles ganz anders: Hoffnungen zerbrachen, Traumvorstellungen von dem, wie sich die Dinge in der Gemeinde weiterentwickeln könnten, stürzten ein. Ja, so etwas tut weh, wenn einem einstürzt, was doch so fest zu stehen schien – nicht anders habe ich es in diesem Jahr auch ein ganzes Stück weit selber erfahren, habe auch miterlebt, wie von so manchem, was mir unumstößlich schien, auch nur noch Trümmer übriggeblieben sind. Wie man das wiederaufbauen soll – ich weiß es nicht, kann es mir selber nicht vorstellen.

Trümmer – das war auch alles, was den Israeliten von ihrer geliebten Stadt Jerusalem, von der Stadt Gottes, der Stadt des Tempels, übriggeblieben war. Viele Jahrzehnte lag dieser Trümmerhaufen nun schon oben auf dem Zionsberg, und sie, die Israeliten, lebten weit, weit entfernt von ihrer früheren Heimat in den Camps der Deportierten in Babylon. Dass sich daran in der Zukunft noch einmal etwas ändern würde, schien doch völlig ausgeschlossen.

Doch da tritt mit einem Mal ein Prophet auf, dort in den Heimen der Verschleppten und Hoffnungslosen, und verkündigt denen, die da auf den Trümmern ihrer menschlichen Existenz saßen, eine geradezu unfassliche Botschaft: Nein, er fordert die Israeliten nicht dazu auf, ein großes Wiederaufbauprogramm zu starten, eine Revolution zu planen, aus eigenen Kräften Unmögliches möglich zu machen. Sondern er kündigt viel Größeres an: Gott selber wird kommen, wird zurückkehren in seine Stadt, wird sein Volk dorthin mitnehmen und ihm auf den Trümmern Jerusalems eine neue Zukunft schenken. Gott lässt sein Volk nicht im Stich, schenkt ihm einen neuen Anfang, verwandelt Trauer und Verzweiflung in Freude und Jubel. Völlig utopisch, völlig unrealistisch klang das, was der Prophet hier seinem Volk verkündigt – doch nur wenige Jahre später durften die Israeliten mit eigenen Augen sehen, dass Gott sein Wort gehalten hatte, dass er eingelöst hatte, was er seinem Volk durch seinen Propheten versprochen hatte.

Gott kommt zu seinem Volk, schenkt denen einen neuen Anfang, die nur noch vor den Trümmern ihres Lebens, vor den Trümmern ihrer Existenz stehen – genau diese Botschaft darf ich euch heute Morgen nun auch verkündigen, darf heute Morgen euer Freudenbote sein. Du magst dir in diesen Tagen vor dem Weihnachtsfest ganz allein und verlassen vorkommen, magst an die Menschen denken, die du so lieb hattest und hast und die nun so ferne von dir sind, magst dich fragen, was dich in deinem Leben eigentlich noch erwartet. Doch ich darf dir heute Morgen die frohe Botschaft überbringen: Du bist nicht allein und verlassen. Dein Gott kommt, kommt auch zu dir, hat dich nicht vergessen. Gott ist nicht weit weg von dir, irgendwo ganz oben im Himmel, unerreichbar für dich und deine Gebete. Er ist schon zu uns gekommen, als kleines Kind in der Krippe, das noch weniger hatte als ihr, noch nicht einmal ein Bett, in das er gelegt werden konnte. Er ist schon zu uns gekommen, hat selber in seinem Leben all das durchgemacht, was ihr auch erfahren habt, hat als Asylbewerber in Ägypten gelebt, hat erfahren, was es heißt, verhaftet, gefoltert, ja schließlich gar ermordet zu werden. Doch er hat das Gefängnis der Hoffnungslosigkeit und des Todes durchbrochen, ist auferstanden, hat auch euch damit eine Perspektive geschenkt, die viel, viel weiter reicht als das, was ihr im Augenblick erfahrt.
Gott ist nicht nur gekommen, sondern er wird auch kommen, wird auch einmal die Trümmer eures Lebens zu einem Ganzen zusammenfügen, wird aus den Bruchstücken eures Lebens etwas ganz Neues machen, wird euch einmal ohne Ende jubeln lassen, wenn ihr einmal ankommen werdet in Gottes neuer Welt, in seiner Stadt, in der es einmal endgültig kein Leid, keine zerbrochenen Hoffnungen, kein Heimweh, keinen Abschied mehr geben wird. Nein, nicht ihr müsst euch den Platz in Gottes neuer Welt verdienen mit dem, was ihr tut und leistet. Gott kommt und führt euch dahin. Ja, er kommt nun auch heute wieder hier in unsere Mitte, wenn wir sein heiliges Mahl feiern, wenn wir den Einzug des Königs aller Königreich feiern, wenn wir auf den Trümmern unseres menschlichen Lebens dem entgegenjubeln, der gekommen ist, um auch bei uns schließlich alles neu zu machen.

Noch können wir nicht sehen, was Gott einmal mit uns machen wird, so wenig, wie die Hörer des Propheten damals in ihren Camps schon etwas sehen konnten von dem Wiederaufbau der Heiligen Stadt. Ihnen blieb damals nur dies eine: dem Wort Gottes zu vertrauen, darauf zu bauen, dass Gott hält, was er verspricht. Die Israeliten haben es damals erfahren: Gott steht zu seinen Versprechen. Und so darfst auch du gewiss sein: Gott wird auch zu dem stehen, was er dir in deiner Taufe versprochen hat, wird dich einmal ohne Ende jubeln lassen bei seinem großen Advent. Ja, manchmal muss Altes, an dem wir gehangen haben, erst einmal zusammenstürzen, in Trümmer zerfallen, damit Gott daraus Neues, Schöneres, Größeres machen kann. Was ihr aufgegeben, was ihr erlitten habt, war nicht vergeblich; dass Hoffnungen in unserem Leben zerplatzen und wir erst einmal gar nicht wissen, wie es weitergehen soll, ist nicht umsonst. Wo wir nicht mehr weiterkönnen, da fängt Gott erst gerade an – in unserem Leben, im Leben unserer Gemeinde, ja in unserer Welt. Und wo Gott sich ans Werk macht, da fangen selbst Trümmer an zu jauchzen und zu frohlocken. Darum singt und jubelt mit, denn der Herr hat sein Volk getröstet! Amen.