05.02.2012 | Jeremia 9,22-23 | Septuagesimae (Kirchweihfest)

Der Kandidat trat vor die Jury von „Deutschland sucht den Superstar“ und fing an zu singen. Beim Zuhören wusste man nicht so genau, ob man nun lachen oder weinen sollte: Warum hatte niemand diesen jungen Mann im Vorfeld davon abgehalten, sich vor einem Millionenpublikum so sehr zu blamieren? Das Urteil von Dieter Bohlen ließ dann auch nicht lange auf sich warten: „Wenn du zur Zeit von Moses gelebt hättest, dann wärst du wohl die 11. Plage gewesen“, stellte er nüchtern fest. Genau diese Sprüche – ich habe mir mal einen der wenigen stubenreinen von Dieter Bohlen herausgesucht – genau diese Sprüche sind es, weswegen sich Millionen von Fernsehzuschauern diese Castingshow anschauen. Sie ergötzen sich daran, wie Menschen sich mit ihren nicht vorhandenen Gesangskünsten, aber mit umso größerem Selbstbewusstsein zur Lachnummer machen lassen und anschließend von dem selbsternannten Poptitan abgekanzelt werden. Das tut ja so gut, mitzuerleben, wie Leute, die sich maßlos überschätzen, auf den Boden der Realität zurückgeholt werden, ja, das tut so gut, weil es uns das wohlige Gefühl vermittelt: „Ein Glück, dass ich nicht so blöd bin wie die oder der!“

Solche Castingshows sind ein ganz typisches Phänomen unserer Zeit: Menschen träumen davon, ganz groß herauszukommen, die allerbesten zu sein, sich gegen alle anderen im Konkurrenzkampf durchzusetzen. Und was im großen Rahmen im Fernsehen geschieht, erleben so viele Menschen im kleinen Rahmen in ihrem Alltag: Ich muss zeigen, dass ich besser bin als die anderen, darf keinesfalls das Risiko eingehen, hinter den anderen zurückzubleiben oder mich gar zum Gespött der anderen zu machen. Wenn die anderen das neuste Handy haben, dann kann ich unmöglich mit einem Uraltmodell von vor zwei Jahren herumlaufen, wenn die anderen die neusten Klamotten anziehen, dann kann ich unmöglich noch anziehen, was ich schon vor einem Jahr gekauft hatte. Wenn ich mich für einen Job bewerbe, dann muss ich beim Bewerbungsgespräch deutlich machen, warum ich der Allerbeste für diesen Job bin, warum ich dafür geeigneter bin als all meine Konkurrenten. Hoffentlich stellen die sich bei dem Bewerbungsgespräch alle blöde an, dann steigen meine Chancen! Solche Erfahrungen und Herausforderungen prägen dann auch unser Selbstwertgefühl: Ich bin was, wenn ich besser bin als andere, wenn ich andere beeindrucken, in ihren Augen bestehen kann. Ich bin was, wenn ich etwas vorzuzeigen habe: ein gutes Zeugnis, einen guten Beruf, ein gutes Einkommen – oder zumindest einen gut gebauten Körper, oder mit den Worten Jeremias: Weisheit, Stärke, Reichtum.

Die Worte unserer heutigen Predigtlesung mögen beim ersten Hinhören auch so ähnlich klingen wie ein Jury-Urteil in einer Castingshow: Ihr denkt, ihr seid weise, stark und reich – vergesst es, das bildet ihr euch alles nur ein. In Wirklichkeit seid ihr alles nur Nullen!

Doch wenn wir genauer hinschauen, stellen wir fest: So redet Gott gar nicht! Dem geht es nicht darum, Menschen, die sich etwas einbilden, fertigzumachen, bis sie schließlich so klein mit Hut vor ihm stehen, dem geht es nicht darum, Menschen lächerlich zu machen, die weise, stark oder reich sind. Gott spielt hier in unserer Predigtlesung nicht den Dieter Bohlen, im Gegenteil: Ganz liebevoll versucht er, Menschen ein neues Selbstbewusstsein zu vermitteln, ein Selbstbewusstsein, das nicht hohl ist, keine Einbildung, sondern ganz fest gegründet. Gott hat es nicht nötig, das, was Menschen haben und können, schlecht zu reden oder es gar durch den Kakao zu ziehen. Er macht die nicht fertig, die sich einbilden, weise, stark und reich zu sein, und es in Wirklichkeit gar nicht sind. Und er macht auch die nicht fertig, die tatsächlich weise, stark und reich sind, behauptet nicht, vor ihm hätten nur die Einfältigen, die Schwachen und Armen eine Chance.

Gott geht es um etwas ganz Anderes: Er möchte uns Menschen, möchte mich und dich davon abbringen, dass wir unseren Selbstwert in dem sehen, was wir selber können und leisten, dass wir unseren Selbstwert dadurch bestimmen, dass wir besser sind als andere oder zumindest das auch draufhaben, was andere draufhaben. Gott möchte uns davon abbringen, weil wir mit dem, womit wir uns selbst oder andere Menschen beeindrucken mögen, Gott nun wirklich nicht beeindrucken können, weil wir damit in seinem letzten Gericht nicht werden bestehen können. Gott wird sich einmal, wenn er uns nach unserem Leben fragen wird, nicht die Noten auf unserem Schulabschlusszeugnis anschauen; er wird uns nicht danach fragen, wie viele Facebook-Freunde wir gehabt haben und sich auch nicht unsere letzte Lohnabrechnung zeigen lassen, übrigens auch nicht unsere letzte Spenden- und Kirchenbeitragsbescheinigung. Mit allen Leistungsnachweisen, auch mit allen Nachweisen, dass wir doch besser, freundlicher, eifriger, frömmer als andere waren, könnten wir uns vor ihm nur blamieren.

Doch Gott begnügt sich eben nicht bloß damit, dass er uns deutlich macht, was für ein Irrweg es wäre, wenn wir unseren Selbstwert durch unser Tun, durch unsere Leistung bestimmen. Sondern er setzt dagegen, weshalb wir in der Tat allen Grund haben, uns zu rühmen, ein starkes Selbstbewusstsein zu haben: Wir haben dazu allen Grund, weil wir erkennen dürfen, was Gott selber aus uns und mit uns macht. Gott spielt nicht einfach bloß die Jury, die unser Leben beurteilt, sondern er greift selber ein, hier auf Erden, so betont er es ausdrücklich, schafft Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit. Was er damit meint, das hat er uns sichtbar erkennen lassen, als er seinen Sohn Jesus Christus zu uns Menschen gesandt hat. Der hat sich gerade auch derer angenommen, die in ihrem Leben, menschlich gesprochen, gescheitert waren, die für Castingshows völlig ungeeignet waren, nichts vorweisen konnten, was sie geleistet hatten. Der hat sich gerade auch derer angenommen, die dabei waren, sich in ihrem Leben zu verrennen, weil sie ihr Leben nur auf ihre eigene Leistung und ihren eigenen Reichtum gründen wollten. Für sie, ja für alle Menschen ist er, Christus, schließlich am Kreuz gestorben, hat eben dadurch Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit geschaffen, hat uns Menschen in das rechte Verhältnis zu Gott gesetzt, hat uns zu Menschen gemacht, die ihren Selbstwert daraus schöpfen dürfen, dass sie von Gott bedingungslos geliebt sind. Eben so will Gott unser auf Konkurrenz, auf Leistung, auf Ansehen geeichtes Herz gewinnen, dass er uns seine Liebe schenkt, seine Anerkennung zuspricht, längst bevor wir ihm irgendetwas vorweisen konnten. Und Gott freut sich darüber, wenn wir das nun auch wahrnehmen, was er da für uns getan hat und tut. Gott freut sich darüber, wenn wir erkennen, wer er ist: kein sadistischer Jury-Vorsitzender, sondern die Gnade in Person, einer, der für uns getan hat und tut, was wir von uns aus niemals tun könnten. Gott freut sich darüber, wenn wir eben daraus unseren Selbstwert beziehen: Ich bin wer, denn für Gott bin ich so wichtig, dass er seinen einzigen Sohn für mich in den Tod gegeben hat. Ich bin wer, denn in Gottes Augen stehe ich vollkommen da, weil Gott alles von mir wegnimmt und mir vergibt, womit ich mich vor ihm am Ende blamieren könnte. Ja, darüber freut sich Gott, wenn wir das kapieren, ja, wenn das auch unser Verhalten, unser Leben im Alltag bestimmt:
Dann brauchen wir unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Dann brauchen wir das Wissen, das wir uns angeeignet haben, ja, die Weisheit, die uns in unserem Leben zugewachsen sein mag, nicht zu verstecken oder gar zu verleugnen. Aber dann werden wir eben nicht versuchen zu zeigen, dass wir alles besser wissen als andere, werden nicht versuchen, den anderen zu demonstrieren, wie blöd sie doch sind. Sondern wir werden dieses Wissen, diese Weisheit mit Barmherzigkeit anwenden, so, dass wir anderen damit helfen, andere damit aufbauen – eben weil wir wissen, dass wir es nicht nötig haben, zu zeigen, wie großartig wir doch sind. Dann dürfen wir die Stärken, die uns von Gott gegeben sind und auch die, die wir uns selber antrainiert haben, durchaus zeigen und gebrauchen – aber eben nicht, um dadurch unseren Vorteil zu suchen, um anderen zu zeigen, wie viel schwächer sie doch sind. Sondern wir können unsere Stärken dann dazu gebrauchen, um denen, die sich selber nicht durchsetzen können, zu ihrem Recht zu verhelfen, um uns einzusetzen für die, die selber schwach sind. Und dann ist es auch keine Sünde, wenn wir vielleicht auch mehr Geld haben als manche andere. Aber dann werden wir aus dem, was wir besitzen, nicht unser Selbstbewusstsein schöpfen und werden damit erst recht nicht vor anderen angeben, sondern werden die finanziellen Möglichkeiten, die uns gegeben sind, nutzen, um abzugeben, um zu unterstützen, woran Gott seine Freude hat. Ja, das können wir, weil wir in Gottes Augen schon richtig dastehen, bevor wir auch nur damit angefangen haben, nach seinem Willen zu leben.

Wir feiern heute unser 39. Kirchweihfest hier in St. Marien. Ja, allen Grund haben wir, dieses Kirchweihfest zu feiern. Wir feiern es nicht, weil wir darin unsere eigenen Erfolge feiern, weil wir feiern, was wir in den letzten 39 Jahren alles auf die Beine gestellt haben in unserer Gemeinde. In dieser Gefahr stehen wir ja durchaus auch als Kirche, als Gemeinde in unserer heutigen Leistungsgesellschaft, dass wir darauf verweisen, was bei uns alles besser läuft als anderswo, ja, was wir alles in dieser Zeit geschafft haben, dass wir eben damit auch werben.

Sondern wir feiern heute dieses Kirchweihfest, weil sich hier der Ort befindet, wo Gott der Herr Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit schafft auf Erden. Ja, auf Erden schafft er dies alles, das ist das Wunder, das wir heute an diesem Festtag bestaunen. Gott kommt zu uns, um uns herauszuhelfen aus unserem Kreisen um uns selbst, um uns von unserem hohlen Selbstbewusstsein zu befreien und uns begründetes Selbstbewusstsein zu schenken. Gott kommt zu uns, um uns immer und immer wieder neu ins rechte Verhältnis zu ihm zu setzen. Dafür steht er hier, der Taufstein, in unserer Kirche. Dort hat Gott schon bei so vielen von euch in eurem Leben Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit geschaffen, jawohl hier auf Erden, hier in der Riemeisterstraße 10-12. Dafür steht sie hier, die Kanzel, wo Gott selber durch den Mund seiner Boten zu euch spricht, um euch wahre Weisheit zu schenken, Einsicht in das, worauf es im Leben wirklich ankommt. Und dafür steht er hier, der Altar, wo Gott immer wieder neu bettelarme Menschen steinreich macht, schwachen Menschen Kraft und Stärke schenkt, wenn sie ihn, Christus, leibhaftig mit ihrem Mund hier empfangen, jawohl, hier auf Erden.

Gott geb’s, dass wir klug genug sind, das immer wieder neu zu erkennen und davon Gebrauch zu machen, was hier auf Erden, hier in diesem Kirchgebäude geschieht, dass wir uns nicht dadurch davon abhalten lassen, hierher zu kommen, weil uns Geld, Stärke, Ansehen und vermeintliches Besserwissen wichtiger erscheinen, als uns von Gott beschenken zu lassen. Und Gott geb’s, dass wir klug genug sind, davon auch unseren Umgang miteinander in der Gemeinde prägen zu lassen: dass wir auch den Bruder, die Schwester neben uns nicht nach dem beurteilen, was sie leisten und können, wie klug, stark oder reich sie sind, sondern dass wir sie einzig und allein nach dem beurteilen, was Gott über sie denkt. Und der geht barmherzig mit ihnen um – und mit uns auch, Gott sei Dank! Amen.