14.03.2012 | Mittwoch nach Okuli

DRITTE FASTENPREDIGT ZUM THEMA „DAS WORT VOM KREUZ“:
„DAS WORT VOM KREUZ – NACH LUKAS“

Darüber, welches der vier Evangelien wohl zuerst geschrieben worden ist, gibt es in der neutestamentlichen Wissenschaft durchaus unterschiedliche Auffassungen: Die klassische Position der deutschsprachigen Forschung ist, dass Markus der erste gewesen ist, der ein Evangelium geschrieben hat. In der angelsächsischen Forschung wird häufiger die auch bereits in der alten Kirche verbreitete Auffassung vertreten, dass Matthäus der erste auch in der zeitlichen Reihenfolge der Abfassung der Evangelien gewesen ist. Und in seinem vor einigen Monaten erschienenen Kommentar zum Neuen Testament vertritt der renommierte Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger nun die Auffassung, dass wohl das Johannesevangelium das älteste der vier Evangelien gewesen ist. Doch in einem sind sich alle Forscher einig: Lukas war es jedenfalls nicht. Denn der erklärt zu Beginn seines Evangeliums ausdrücklich, dass bereits vor ihm andere sich an die Abfassung von Evangelien begeben haben und er sich darauf nun schon zurückbeziehen kann.

St. Lukas setzt von daher in seinem Evangelium bewusst noch einmal andere, eigene Akzente – nicht um die anderen Evangelien zu korrigieren, sondern um einige Aspekte des Heilsgeschehens im Leben und Sterben Jesu noch einmal besonders herauszuarbeiten. Und diese besonderen Akzente, diese besonderen Anliegen des Evangelisten Lukas lassen sich nun auch in seiner Schilderung der Kreuzigung Jesu deutlich erkennen und wahrnehmen, und zwar in besonderer Weise an den drei Worten am Kreuz, die Jesus im Lukasevangelium spricht und die wir uns nun noch einmal genauer anschauen wollen:
Als Jesus ans Kreuz genagelt wird, betet Jesus zunächst einmal: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Darum hängt Jesus also dort am Kreuz, um Vergebung zu erwirken, um Vergebung der Sünden auszuteilen. Das Thema der Vergebung der Sünden zieht sich durch das ganze Lukasevangelium hindurch – und hier am Kreuz findet es nun seine letzte und tiefste Begründung: Da hängt einer, der selber unschuldig, der selber gerecht ist, so bekennen es in der Kreuzigungsgeschichte bei Lukas der Schächer am Kreuz und der römische Hauptmann – und dieser eine Gerechte, Unschuldige gibt am Kreuz allen Menschen Anteil an seiner Gerechtigkeit, an seiner Unschuld, lässt selbst denen, die ihn ans Kreuz nageln, seine Vergebung zuteil werden.

Lukas richtet sich mit seinem Evangelium an Leser, die zumeist nicht aus dem Judentum stammen. Und für die übersetzt er hier die Botschaft vom Sühnopfer Christi in ihre Sprache und Vorstellungswelt: Jesus hängt am Kreuz, nicht weil er dies verdient hätte, sondern obwohl er ganz unschuldig war. Doch er sinnt nicht auf Rache und Vergeltung, sondern seine Liebe gilt gerade den Sündern, denen, die ihn mit ihrer Sünde ans Kreuz gebracht haben, denen, die nicht gerecht, die nicht unschuldig sind. Und denen schenkt er vom Kreuz her die Vergebung der Sünden, nimmt alles von ihnen weg, was sie daran hindern könnte, gleich nach ihrem Tod ins Paradies einzugehen. Auf seine Weise entfaltet so St. Lukas das Motiv des großen Tausches, das sich immer wieder in der Verkündigung des Kreuzes Christi im Neuen Testament findet: Der Unschuldige wird verurteilt, der Gerechte wird hingerichtet – damit die Schuldigen freigesprochen werden und die Ungerechten leben dürfen. Ja, um dich und um mich geht es da am Kreuz, so macht es St. Lukas auf seine ganz eigene Weise deutlich: Jesu Zuspruch der Vergebung, hier in Gestalt seiner Bitte an den Vater, gilt vom Kreuz her auch für dich, für dein Leben, für deine Schuld. Ja, auch um meinetwillen und um deinetwillen hängt Jesus da am Kreuz, damit wir richtig vor Gott dastehen.

Nur bei St. Lukas finden wir sodann die Schilderung eines Gespräches zwischen den dreien, die da am Kreuz nebeneinander hängen, den beiden Übeltätern, wie Lukas sie nennt, und Jesus. In diesem Gespräch werden zunächst einmal die Themen aufgenommen, die wir gerade schon bedacht haben: Der eine Übeltäter bekennt gegenüber dem anderen, dass sie beide empfangen, was sie mit ihren Taten verdient haben, während Jesus unschuldig ist. Doch dann wendet er sich direkt an Jesus – und redet ihn an als König, erkennt in dieser Elendsgestalt am Kreuz den König Israels: „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ Und eben als König reagiert Jesus dann auch, gewährt von seinem Königsthron, dem Kreuz, dem Übeltäter die Erfüllung seiner Bitte, ja, mehr noch, befördert ihn mit seinem freisprechenden Wort aus der Verdammnis in das Paradies: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ So vollzieht sich also nach Lukas die Vergebung der Sünden: dass ein Mensch seine Sünden bekennt und dann aus dem Mund Christi den Freispruch empfängt, der seine Gültigkeit auch im Himmel hat – genau so hat es auch Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus über die Beichte geschrieben.

Dass Jesus dort am Kreuz als König regiert, ist St. Lukas ganz wichtig; immer und immer wieder erscheint das Wort „König“ in der Kreuzigungsszene bei ihm. Ein König braucht ein Volk – und genau das ist ein ganz wichtiges Thema, das sich durch das Lukasevangelium hindurchzieht: Zu diesem Volk gehören zum einen die Frommen Israels, die in Jesus die Erfüllung der Verheißungen des Alten Bundes erkennen. Lukas beginnt mit diesem Thema schon sein Evangelium, wenn er von Zacharias oder Simeon berichtet, und auch jetzt bei der Kreuzigung weiß er sehr deutlich zu unterscheiden zwischen den Oberen, die ihre Ablehnung in der Verhöhnung Jesu deutlich zum Ausdruck bringen, und dem Volk, das angesichts des Todes Jesu seine Schuld bekennt und Buße tut, umkehrt. Doch mit der Kreuzigung weitet sich nun der Kreis derer, über die Jesus als ihr König regiert: Künftig gehören zum Volk des Königs Jesus auch all diejenigen, die wie jener Schächer am Kreuz mit Jesus sterben – die nach Ostern mit ihm sterben im Sakrament der Taufe. In der Kirche, in der Gemeinschaft der in Christi Tod Getauften findet das Gottesvolk des Alten Bundes seine Fortsetzung – und über sie alle regiert der gekreuzigte König, regiert sie mit seiner Vergebung.

Und dann überliefert uns St. Lukas noch ein drittes Wort Jesu am Kreuz: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ Lukas geht es nicht, wie etwa Markus, darum, in besonderer Weise die Schrecken der Gottverlassenheit zu beschreiben, die Jesus dort am Kreuz erleidet. Sondern er schildert das Sterben Jesu so, dass es zu einer Anleitung auch für unser eigenes Sterben wird: Wenn es aufs Sterben zugeht, dann tun wir gut daran, uns im Gebet an den zu wenden, den wir um Christi willen auch unseren Vater nennen und ihn eben so anrufen dürfen. Jeden Abend können wir dies schon einüben, uns auf unser Sterben rüsten, so, wie Jesus damals das Abendgebet des frommen Juden als letztes Wort vor seinem Sterben sprach, eben jenes Abendgebet, das auch wir aus dem Nachtgebet der Kirche, aus der Complet, kennen, die auch für uns in besonderer Weise eine Hilfe zur Vorbereitung auf unser Lebensende sein kann. Vertrauen dürfen wir darauf: Um Christi willen hat unser Tod seinen letzten Schrecken verloren; wir dürfen uns dem Vater im Himmel zuwenden in der Gewissheit, dass er uns durch Jesus Christus erhören wird. Und wenn es aufs Sterben zugeht, dann tun wir zum anderen gut daran, wie Jesus und gemeinsam mit Jesus denen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind, gerade auch diese Bitte des Heiligen Vaterunsers bewusst zu sprechen und in unserem Leben nachzuvollziehen, dass wir nicht unversöhnt unser Leben beenden. Und weil wir gut daran tun, uns mit dem Nachtgebet jeden Abend auf unseren letzten Abend vorzubereiten, tun wir gut daran, diese Vergebung gegenüber denen, die an uns schuldig geworden sind, auch jeden Abend vor Gott auszusprechen. 

Und eben so dürfen wir dann schließlich auch ganz getrost dem Ende unseres Lebens entgegenblicken: Weil Christus uns unsere Schuld vergibt, dürfen wir gewiss sein: Auch wir werden noch am selben Tag, an dem wir sterben, mit Christus im Paradies sein, werden ihn als unseren König schauen dürfen, der eben darum für uns am Kreuz gehangen hat. Da weichen alle Schrecken, wenn wir Christi Zusage im Ohr haben dürfen: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Amen.