16.12.2012 | Jesaja 40,1-11 | 3. Sonntag im Advent

Am vergangenen Dienstag hatte ich in Spandau eine Beerdigung zu halten. Am Eingang des Friedhofs hing ein großes Schild. Darauf stand: „Tot ist nur, wer vergessen ist. Steinmetz XY. Grabsteine aller Art, individuell gestaltet“. Was für ein wundervoller Trost! Grabsteine als Möglichkeit, dem Tod Paroli zu bieten. Deutlicher kann man die Armseligkeit unserer menschlichen Versuche, trösten zu wollen, wo wir Menschen gar nicht trösten können, wohl kaum zum Ausdruck bringen.

Trostlos ging es damals auch in den Auffanglagern vor den Stadttoren von Babylon zu: Da saßen sie nun schon seit Jahrzehnten in diesen Lagern, die Juden, die nach der Zerstörung der Stadt Jerusalem nach Babylon verschleppt worden waren. Womit sollten sie sich auch trösten? In ihre Heimat konnten sie nicht zurückkehren; der Tempel, der Ort, in dem sie Gott begegnet waren, war zerstört – und Gott selber schien die Verbindung zu ihnen abgebrochen zu haben. Was ihnen blieb, war die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit, an eine Zeit, in der Gott ihnen noch nahe gewesen war, an eine Zeit, in der sie noch etwas davon erfahren hatten, wie tröstlich es war, seine Gegenwart erfahren zu dürfen. Doch jetzt war das alles längst vorbei, und so kann sich auch der Prophet Jesaja eigentlich nur ein Thema für eine Predigt an sein Volk vorstellen: Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Tot ist nur, wer vergessen ist. Grabsteine aller Art, individuell gestaltet. Was soll man sonst noch sagen?

Schwestern und Brüder: Es bedarf keines großen Sprungs, um von Babylon in Berlin zu landen. Da sitzen hier in unserer Stadt auch so viele Menschen, deren Lebensperspektive tatsächlich nicht viel weiter reicht als bis zum Grabstein, Menschen, in deren Leben Gott so gar keine Rolle mehr spielt, die sich vielleicht jetzt in der Adventszeit noch daran erinnern, dass da ganz früher ja mal was war in ihrem Leben, was mit Gott zu tun hatte, dass sie ja früher vielleicht sogar noch eine Kirche von innen gesehen hatten. Aber all das liegt nun schon so weit zurück, scheint so gar nichts mehr mit ihrer, mit unserer Gegenwart zu tun zu haben. Vielleicht singt man es sogar noch bei so mancher Weihnachtsfeier, das „O du fröhliche“. Doch dass es allen Ernstes die Geburt Christi, des Erlösers, des Versöhners, sein könnte, die einen zu erfreuen und zu trösten vermag, auf die Idee kommen diejenigen, die dieses Lied in mehr oder weniger begrenzt nüchternem Zustand schmettern, zumeist gar nicht mehr. Advent und Weihnachten ohne Gott – wie armselig, wie hohl ein solches Fest ist, merken die meisten schon gar nicht mehr, haben sich schon längst an irgendwelchen Billigtrost, an irgendwelche Billigunterhaltung aus der Dose gewöhnt.

Und wir – ahnen wir noch etwas davon, was es für die Hörer des Propheten damals im Exil in Babylon bedeutet haben muss, als sie die Worte unserer heutigen Predigtlesung vernahmen? Ahnen wir noch etwas davon, wie aktuell diese Worte auch für uns sind, wie nötig auch wir es haben, diese Worte zu hören? Trost, wirklichen Trost, keinen Billigtrost verkündigt Jesaja hier seinem Volk, Trost, den nicht er sich ausgedacht hat, Trost, der nicht irgendwelchen kommerziellen Zwecken dient, der nicht bloß zukleistert, was uns Menschen bedrückt und uns zu schaffen macht. Denn es ist kein Trost, den ein Mensch sich ersonnen hat. Dieser Trost kommt von keinem Geringeren von Gott selbst. Ein Doppeltes verkündigt Jesaja hier im Auftrag Gottes seinem Volk, verkündigt er auch dir:
Gott kommt
Gott vergibt

I.
Das eine war den Juden im babylonischen Exil damals ganz klar, was wir uns heute oftmals gar nicht so klar machen: Sie wussten, dass sie von sich aus keine Chance hatten, mit Gott in Verbindung zu kommen, sich ihm zu nähern, seine Gegenwart zu erfahren. Sie erfuhren es, was es heißt, von Gott abgeschnitten zu sein, völlig abhängig zu sein davon, ob Gott selber die abgebrochene Verbindung zu seinem Volk wohl wiederherstellt.

Und dann dürfen sie, viele Jahrzehnte nach ihrer Verschleppung aus Jerusalem, mit einem Mal vernehmen, dass Gott wieder anfängt zu sprechen. Und schon die allerersten Worte, die sie zu hören bekommen, reichen eigentlich schon aus, um sie erkennen zu lassen, wie wunderbar, wie großartig es ist, dass Gott die Verbindung wieder zu ihnen aufgenommen hat: Nein, er meldet sich nicht bei ihnen, um ihnen noch einmal vor Augen zu stellen, wie sehr sie sich ihr Geschick mit ihrer Abwendung von ihm, Gott, selber eingebrockt hatten. Er meldet sich nicht bei ihnen, um ihnen zu bestätigen, dass sie sein Gericht verdient haben, und er meldet sich erst recht nicht bei ihnen, um sich nun endgültig von ihnen zu verabschieden, sie künftig mit ihrem Schicksal allein zu lassen. Im Gegenteil: Er meldet sich, um zu trösten – um zu trösten, wie allein er, Gott, zu trösten vermag: „Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott.“ Und wenn Gott tröstet, dann klopft er nicht bloß Sprüche, dann versucht er erst recht nicht, von seiner eigenen Hilflosigkeit abzulenken. Gewiss, das eine wird in seinen Worten sehr schnell erkennbar: Gott geht es selber an die Nieren, wenn er sieht, wie sein Volk da in der Gefangenschaft sitzt; das ist ihm nicht egal, und eben darum macht er sich auf, um sein Volk zu trösten. Doch sein Trost besteht eben nicht in leeren Worten, sondern darin, dass er selber kommt, dass er kommt zu seinem Volk, um seine Lage grundlegend zu ändern, um es nach Hause zu führen, in sein Land, an den Ort seiner Gegenwart.

Gott kommt; er selber bahnt sich den Weg zu seinem Volk, lässt sich von Bergen und Tälern nicht aufhalten, zu seinem Volk vorzudringen, lässt sich von keinen Hindernissen abhalten, sein Volk zurückzuholen. So verkündigte es damals der Prophet, und genau so ist es dann auch eingetreten: Was niemand für möglich hielt, ist geschehen: Das Volk Israel durfte heimkehren, durfte erfahren, dass Gott keine leeren Versprechen macht, durfte erfahren, was es heißt, dass Gott kommt, um zu trösten.

Gott kommt – die Worte mögen uns heute so schnell über die Lippen gehen. Und dabei haben wir doch jedes Jahr neu die Adventszeit dringend nötig, diese Wochen, in denen wir still werden, um uns wieder neu klar zu machen, was die Ankunft Gottes in dieser Welt eigentlich bedeutet. Wir sitzen hier nicht mehr allein, fern von Gott, müssen uns nicht mit Grabsteinen und Jingle Bells begnügen. Nein, siehe, da ist euer Gott! Schaut ihn euch an, wie er da liegt in einem Futtertrog. Durch nichts und niemand hat sich Gott abschrecken zu lassen, zu euch zu kommen in diese Welt, die von ihm so wenig wissen will, hat sich nicht abschrecken lassen, selber Fleisch zu werden, das verdorrt wie Gras, selber sterblich zu werden. Was für ein Trost! Gott tröstet nicht von oben herab; er tröstet auf Augenhöhe, ach, was sage ich: er tröstet von unten her, ist viel weiter heruntergekommen, als wir dies jemals müssen. Siehe, da ist euer Gott! So tröstet er dich auch heute Morgen wieder hier in diesem Gottesdienst, lässt dich hier auf den Altar blicken, wo du ihn finden kannst, wo er auch heute wieder seinen großen Einzug bei uns hält, um uns hier in dieser Stadt nicht allein sitzen zu lassen, damit wir uns nicht bloß mit etwas Weihnachtsnostalgie zufrieden geben müssen. Da kommt er heute Morgen zu dir, spricht jetzt durch sein Wort zu dir, und dieses Wort Gottes, das du jetzt wieder vernimmst, das bleibt ewiglich, ja, das macht dich ewig. Es ist dasselbe Wort, das nun gleich wieder Brot und Wein zu Leib und Blut Christi werden lässt, zur Speise des ewigen Lebens, damit du eben nicht bloß im Gedächtnis der Menschen weiterlebst, sondern in den Armen deines guten Hirten Jesus Christus, der dich nach Hause tragen wird, wenn du nicht mehr weiter laufen kannst, der dich nach Hause tragen wird auch durch das dunkle Tal des Todes dorthin, wo auch du einmal die Herrlichkeit des Herrn mit eigenen Augen sehen wirst. Das Wort wird Fleisch, Gott wird sterblich, Christus kommt zu dir in Brot und Wein – so sieht wirklicher Trost aus, Trost, der trägt, der Bestand hat, selbst noch in den tiefsten Tiefen deines Lebens.

II.
Da saßen sie also in den Aufnahmelagern vor den Stadttoren von Babylon und hörten sie, die gute Nachricht, dass Gott zu seinem Volk kommt, um es zu trösten. Doch zu diesem Trost gehört noch ein Zweites, so macht er selber es hier deutlich:
Als Gott damals sein Kommen ankündigte, stand da ja noch die ganze Geschichte zwischen ihm und seinem Volk im Raum, die Geschichte der immer neuen Abwendung des Volkes von ihm, Gott, eine Geschichte von Sünde und Schuld und Versagen. Solange da nichts bereinigt war, konnte es keine gute Nachricht sein, dass Gott zu seinem Volk kommt, weil diese Geschichte doch gar keine echte Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk zuließ, weil das Volk mit dem, was gewesen war, Gott doch gar nicht unter die Augen treten konnte.

Doch Gott weiß darum, was für eine Last da auf seinem Volk liegt, weiß darum, dass man Schuld nicht einfach wegreden und verdrängen kann. Und so ist das Allererste, was er seinem Volk verkündigen lässt, eben dies, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist. Gott nimmt sich des entscheidenden Hindernisses an, das zwischen ihm und seinem Volk steht, vergibt seinem Volk die Schuld und schafft so überhaupt erst die Möglichkeit zu echter Gemeinschaft zwischen ihm und seinem Volk, schafft so überhaupt erst die Möglichkeit, dass sein Volk sich über Gottes Kommen wirklich freuen kann.

Und nicht anders ist es auch bei uns: Das ist die eine entscheidende Botschaft, die Gott auch uns heute hier in Berlin verkündigen lässt: Deine Schuld ist vergeben, ich will dich nicht länger strafen. Die Strafe für deine Schuld hat ein anderer auf sich genommen, mein Sohn Jesus Christus. Ob dir die Schuld und das Versagen deines Lebens wohl bewusst ist, ob es da Lasten in deinem Leben gibt, die dir immer noch schwer auf der Seele liegen, oder ob du dir vielleicht gar nicht klar machst, wie viel an Schuld da eigentlich zwischen dir und Gott liegt: Gott lässt es auch dir verkündigen, dass deine Schuld vergeben ist, dass dich die Erinnerung an das, was gewesen ist, nicht mehr gefangen halten muss, dass selbst das Versagen nicht mehr von Gott trennt, von dem du selber in deinem Leben niemals eine Ahnung hattest. Darum hat er dir eben die Hand aufgelegt und dir den wirksamen Trost seiner Vergebung zugesprochen, und darum lässt Christus dir jetzt gleich wieder seinen Leib und sein Blut reichen, zur Vergebung aller deiner Sünden. Ja, sie haben ja so recht, die Damen und Herren, die es in diesen Tagen auf den Weihnachtsfeiern wieder aus voller Kehle schmettern: Christ ist erschienen, uns zu versühnen. Genau so tröstet Gott, genau so schafft es Gott, dass dich selbst im Tod nichts von ihm scheiden kann: Er kommt, und er vergibt. So geht Trösten. Amen.