06.01.2011 | St. Johannes 1,15-18 | Epiphanias

Es gibt Worte der Heiligen Schrift, die von jedem Atheisten mit vollem Herzen unterschrieben werden können. Ein solches Wort haben wir eben in unserer Predigtlesung gehört: „Niemand hat Gott je gesehen“, so schreibt St. Johannes hier. Darin sind wir Christen uns mit allen Atheisten einig. Wir ziehen daraus nur jeweils unterschiedliche Schlussfolgerungen:
Es gibt Leute, die aus der Feststellung, dass niemand je Gott gesehen hat, messerscharf folgern, dass es entsprechend Gott auch gar nicht gibt: „Ich glaube nur an das, was ich sehe.“ Das ist allerdings eine ziemlich primitive Logik. Denn in Wirklichkeit haben wir sehr vieles in der Welt nicht selber gesehen, von dessen Existenz wir dennoch fest überzeugt sind. Nur die wenigsten von uns haben beispielsweise vermutlich schon einmal die Antarktis gesehen. Dennoch glauben die meisten von uns wohl daran, dass sie existiert. Nun könnte man dagegen einwenden, dass es andere gibt, die die Antarktis schon mal gesehen haben und davon berichten können, davon sogar Bilder zeigen können. Doch dass wir diesen Leuten glauben, hängt natürlich davon ab, dass wir sie tatsächlich auch für glaubwürdig halten, dass sie uns nicht etwas vormachen. Es gibt aber auch vieles, was überhaupt kein Mensch sehen kann und was trotzdem existiert. Gerade die moderne Physik kann uns da eine Menge erzählen. Die Tatsache, dass niemand Gott gesehen hat, sagt über seine Existenz also erst mal herzlich wenig aus. Andere folgern daraus, dass niemand Gott gesehen hat, dass es ihn zwar vielleicht geben mag, dass er aber offenbar für uns und unser Leben nicht sonderlich interessant ist. Wir mögen zwar mit unserem Verstand auch nachvollziehen können, dass es für unser Weltklima gut und wichtig ist, dass es die Antarktis gibt. Doch in aller Regel ist unser Herz im Alltag nicht gerade voll von Dankbarkeit über die Existenz der Antarktis. Wir finden es zwar gut, dass es sie gibt. Aber darüber hinaus hat sie mit unserem Leben eigentlich erst mal nicht viel zu tun. Doch Gott ist eben gerade kein ferner Kontinent, der irgendwo ganz am Rande in unserem Leben auch noch mitmischen mag, den wir aber als Faktor aus unserem Alltag getrost heraushalten können, um den wir uns jedenfalls keine sonderlichen Gedanken zu machen brauchen. Wer sich Gott so vorstellt, der hat keine Ahnung davon, wer oder was denn eigentlich mit Gott gemeint ist.

Und damit sind wir schon bei der dritten problematischen Schlussfolgerung, die man aus der Tatsache, dass niemand Gott gesehen hat, ziehen könnte. Und diese Schlussfolgerung lautet: Wenn niemand Gott gesehen hat, dann müssen wir uns eben unsere eigenen Bilder, unsere eigenen Vorstellungen von Gott machen. Genau dieses Bedürfnis steckt in uns Menschen ja ganz tief drin und hat alle möglichen Gottesbilder und Religionen hervorgebracht, alles Ausdrücke menschlicher Sehnsucht danach, den unsichtbaren Gott für sich selber ein Stück sichtbar zu machen. Doch dass es ein logischer Fehler ist, aus unseren menschlichen Vorstellungen von etwas auf dessen reale Existenz schließen zu können, ist offensichtlich. Nur weil ich mir einen Gott mit Rauschebart oder gar in Elefantengestalt vorstelle, muss er noch längst nicht bärtig sein oder gar einen Rüssel haben.

Niemand hat Gott je gesehen – ist das denn wirklich so interessant, Gott zu sehen? Wir sehen jeden Tag so viel Unglaubliches, nicht nur in unserer realen Umgebung, sondern erst recht im Fernsehen oder auf dem Computer bei YouTube und anderswo, dass es uns höchstens wie ein zusätzlicher visueller Kick erscheinen mag, möglicherweise nun auch noch auf irgendeinem Wege den lieben Gott angucken zu können. Doch wer so denkt, der hat noch nicht einmal ansatzweise begriffen, wer Gott eigentlich ist und was es entsprechend hieße, ihn sehen, ihn schauen zu können.

Wer Gott auch nur einmal in seiner ganzen Herrlichkeit gesehen hat, der kann und möchte nie mehr irgendetwas Anderes in seinem Leben sehen, dem wird sofort, im selben Augenblick, klar, wie hohl und leer ein Leben ist, in dem er, Gott, selber nicht ganz und gar im Mittelpunkt steht, der erkennt, dass er, Gott, der Herr und Schöpfer dieser Welt, das einzige Thema unseres Lebens ist, das ernsthaft für uns Menschen von Belang sein kann, wenn wir denn unser Leben nicht vertun wollen. Ja, so überwältigend ist die Schau Gottes, dass sie kein Mensch hier auf Erden ertragen könnte: „Kein Mensch wird leben, der mich sieht“, so hatte es Gott schon dem Mose damals mitgeteilt. Ja, uns allen würde es ergehen wie Jesaja, der nur den Saum des Thronmantels Gottes zu sehen bekam und doch schon ausrief: „Weh mir, ich vergehe!“ Und doch wäre es gerade verkehrt, wenn wir daraus folgern würden, wir sollten dann lieber darauf verzichten, uns nach dem Anblick Gottes zu sehnen. Im Gegenteil: Dieser Anblick Gottes ist und bleibt das eigentliche Ziel und die letzte Erfüllung unseres Lebens.
Und auf diesem Hintergrund beginnen wir nun zu erahnen, worum es heute an diesem Epiphaniasfest, worum es ganz konkret auch in unserer heutigen Predigtlesung geht:
Der unsichtbare Gott wird sichtbar – und zwar so, dass wir hier auf Erden vor ihm, dem sichtbaren Gott, nicht vergehen müssen, sondern im Gegenteil erfahren, wie durch diesen sichtbar gewordenen Gott unser Leben voll, reich und hell wird. Der unsichtbare Gott wird sichtbar – Schwestern und Brüder, wer diese Botschaft einfach nur mit freundlichem Interesse zur Kenntnis nimmt, wem nicht der Atem angesichts dieser unfasslichen Nachricht stockt, hat sie noch überhaupt nicht begriffen. Ja, zutiefst paradox ist es, was Johannes hier zum Ausdruck bringt, und doch lässt sich dieses Geheimnis nur so paradox umschreiben: „Niemand hat Gott je gesehen“ – jawohl, das leuchtet ein. Doch dann fährt Johannes fort: Der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt. Gott selber, mit Gott dem Vater untrennbar verbunden, verkündigt Gott, legt seinen Vater, legt damit sich selbst so aus, dass wir wissen können, wer er, Gott, wirklich ist. Gott, das ewige Wort, wird Fleisch – und wir sahen seine Herrlichkeit, so heißt es in dem Vers, der unserer Predigtlesung unmittelbar vorangeht. Nein, diese Herrlichkeit verbrannte nicht die Netzhaut derer, die sie sahen, im Gegenteil: Was Johannes und die anderen Apostel sahen, war zunächst einmal nicht mehr als scheinbar ein ganz normaler Mensch, bei dessen Betrachtung man ebenso wenig eine Sonnenbrille benötigte wie bei der Betrachtung der meisten von euch, die ihr heute Abend hier in der Kirchenbank sitzt. Doch genau das ist die Botschaft des christlichen Glaubens, die uns St. Johannes hier verkündigt, dass wir ihn, den lebendigen Gott, tatsächlich in Menschengestalt, als wirklichen Menschen, zutiefst verborgen in Niedrigkeit erkennen und sehen können. Er, Jesus Christus, ist eben nicht bloß ein Gesandter Gottes, nicht bloß ein Prophet, wie es Mohammed zu sein beansprucht. Christus hat nicht bloß von Gott Informationen erhalten, die er nun exklusiv an uns weiterreicht. Sondern er ist selber mitten unter uns, er, der Eingeborene, der selber Gott ist. Das galt damals zu der Zeit, als er mit seinen Jüngern durch Galiläa zog, und das gilt genauso für uns heute Abend hier in dieser Kirche: „Sichtbar schauen wir Gott“, so haben wir es in den vergangenen Wochen immer wieder im Präfationsgebet zu Beginn der Sakramentsfeier gebetet. Ja, ich werde ihn euch heute Abend wieder zeigen, ihn, den sichtbaren Gott: „Seht, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Jawohl, seht, da gibt es in der Tat etwas zu sehen: Scheinbar nicht mehr als eine Hostie und in Wirklichkeit doch der Leib des fleischgewordenen Gottes. Ja, Gott selber darfst du heute wieder schauen, Gott selber darfst du nun gleich mit deinem Mund empfangen, Gott selber, der Herr und Schöpfer der Welt, wohnt nun gleich wieder in dir. Da ist er schon hier: der Himmel, voll und ganz. Was dich einmal am Ziel deines Lebens erwartet, unterscheidet sich davon nur noch dadurch, dass dann auch der letzte Schleier der Verborgenheit beiseite gezogen sein wird und du dann unverhüllt den schauen wirst, der doch nicht weniger real schon jetzt in seiner Herrlichkeit in deinem Leben Einzug hält.

Und genau diese Form der Kommunikation mit uns Menschen, die er, der lebendige Gott, gewählt hat, bestimmt nun auch die Gestalt unseres Glaubens: Üblicherweise geht es in Religionen darum, dass ein Bote einer Gottheit den Menschen Nachrichten überbringt, wie sie sich denn bitteschön verhalten sollen, was sie tun sollen, um sich der Gottheit zu nähern, um es mal ganz einfach auszudrücken. Ja, letztlich ist dies auch, so formuliert es Johannes hier, die Struktur des Glaubens im Alten Testament gewesen: Das Gesetz ist durch Mose gegeben. Doch mit Christus ist nun etwas grundlegend anders geworden: Durch ihn ist die Gnade und Wahrheit „geworden“, so betont es St. Johannes hier. Christus überbringt nicht bloß etwas, er ist selber die Gegenwart Gottes, das Heil, eben Gott selber in Person. Nun geht es nicht mehr darum, dass wir etwas tun müssen, nun besteht unser Glaube einzig und allein im Empfangen: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade“, berichtet der Evangelist. Angeschlossen an den Strom des Lebens werden wir in der Verbindung mit ihm, Christus. Da gibt es keine Trennung von Gott mehr, wenn wir mit ihm, Christus, eins werden, da gibt es nur noch dies eine: Gnade um Gnade.

Noch von einem anderen Johannes ist hier in unserer Predigtlesung die Rede: Von Johannes dem Täufer. Und der macht hier das einzig Angemessene angesichts dessen, was es hier zu berichten gibt: Der schreit und ruft aus voller Kehle, damit auch alle es mitbekommen, damit es auch ja keiner überhört: Ja, schaut auf diesen Christus, dieser war es, dieser ist es. Ach, wie gerne würde ich manchmal auch schreien und rufen wie der Johannes, wenn ich mit Menschen zu tun habe, die das einfach noch nicht mitbekommen haben, was dieser Christus auch für sie und ihr Leben bedeutet, wenn ich mit Menschen zu tun habe, die Christus vielleicht ganz nett finden, denen aber noch nicht aufgegangen ist, was es bedeutet, dass sie in der Begegnung mit ihm Gott selber und darin das ewige Leben finden. Ja, schreien und rufen möchte ich am liebsten, wenn ich mit Menschen zu tun habe, die immer noch allen Ernstes glauben, es gäbe in ihrem Leben etwas Wichtigeres, als ihm, Christus, zu begegnen, immer wieder neu, als ihn zu schauen und zu empfangen im Sakrament. Ja, schütteln würde ich sie am liebsten, wenn es denn etwas nützen würde. Doch mehr als Zeuge kann ich auch nicht sein, genau wie Johannes, ein Zeuge, der darauf vertrauen darf, dass dieses Zeugnis eben doch immer wieder Menschen erreicht und sie dahin führt, dass sie erkennen, was ihr Leben eigentlich ausmacht und bestimmt. Gott dürfen wir schauen, Gott darfst du sehen und empfangen, hier und jetzt. Größeres wirst du in deinem Leben niemals finden. Amen.