23.03.2011 | Mittwoch nach Reminiszere

ZWEITE FASTENPREDIGT ZUM THEMA „WARUM WIR ES ALS CHRISTEN GUT HABEN“:
„WIR KÖNNEN ZU UNSERER SCHULD STEHEN“
 
 
Es gibt einen Satz, der geht uns Menschen in unserem Leben immer wieder unglaublich schwer über die Lippen; den versuchen wir immer wieder zu vermeiden, so gut wir können. Es ist der Satz: „Ich bin schuld.“ Woran liegt das, dass wir uns mit dem Aussprechen dieses Satzes so schwertun?

Es kann sein, dass Menschen sich davor scheuen, diesen Satz auszusprechen, weil dies für sie erhebliche Konsequenzen und Nachteile mit sich bringen würde, weil sie dann für ihre Schuld in vielfältiger Weise moralisch und finanziell einzustehen hätten. „Sagen Sie bloß nicht, dass Sie Schuld haben“, raten Kfz-Versicherungen ihren Kunden nach einem Unfall; sonst müssen Sie für den ganzen Schaden aufkommen!

Doch damit allein lässt sich nicht erklären, warum Menschen sich so schwer damit tun, diesen Satz auszusprechen, gerade auch außerhalb des Gerichtssaals: „Ich bin schuld!“ Ein Grund hierfür kann beispielsweise auch sein, dass Menschen gar nicht mehr in dieser Kategorie von „Schuld“ oder „Unschuld“ denken. „Schuld“ ist ja ein Beziehungsbegriff; schuldig bin ich immer irgendeinem anderen gegenüber. Wenn ich beispielsweise nicht an Gott glaube, dann kann ich entsprechend auch nicht vor Gott schuldig sein. Dann kann ich mich, wenn ich nicht einer ganz bestimmten Person Schaden zugefügt habe, dessen Behebung sie dann auch gerichtlich einklagen kann, höchstens vielleicht an „der Gesellschaft“ schuldig machen; aber das bleibt dann auch sehr abstrakt. Statt „ich bin schuld“ kann ich dann höchstens sagen: „Ich bin erwischt worden!“ Doch wer sich nicht erwischen lässt, der ist eben clever, der braucht doch kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn es ihm gelungen ist, sich seinen eigenen Vorteil zu sichern! Warum soll ich „schuld“ sein, wenn ich einem anderen Menschen den Ehepartner ausspanne? Dann war ich einfach attraktiver als dieser andere Mensch! Warum soll ich „schuld“ sein, wenn ich geistiges Eigentum eines anderen Menschen klaue? Das schadet dem doch nicht – und im Übrigen machen das doch alle! Ja, wir gehen eigentlich davon aus, dass wir Menschen so etwas wie ein Gewissen haben, das sich meldet, wenn wir etwas tun, was nicht recht ist. Doch uns Menschen gelingt es immer wieder ganz gut, unser Gewissen zu betäuben, uns Freiräume in unserem Leben zu schaffen, in denen unser Gewissen nichts zu sagen hat. Und ein Gewissen bedarf ohnehin der beständigen Schärfung durch Maßstäbe, an denen wir ablesen können, was richtig und falsch, was gut und böse ist. Wenn es diese Maßstäbe nicht gibt, wenn ganz konkret beispielsweise Gottes Gebote als Maßstab ausgeblendet werden, dann kann es sein, dass sich das Gewissen von Menschen immer weniger meldet, immer weniger sensibilisiert wird dafür, dass wir schuldig werden könnten. Dann bleibt letztlich tatsächlich nur als Maßstab übrig, ob wir erwischt werden können und auch tatsächlich dann erwischt werden oder nicht. Wenn der Finanzbeamte nicht nachprüfen kann, ob das, was ich in meiner Steuererklärung geschrieben habe, richtig oder falsch ist – dann habe ich eben Glück gehabt; da kann ich doch nicht von Schuld reden, wenn ich da manches nicht so ganz genau genommen habe!
 
Schuld – man verweist in diesem Zusammenhang gerne darauf, dass gerade die Kirche in früheren Zeiten Menschen sehr schnell Schuld eingeredet hat, ihnen ein schlechtes Gewissen gemacht hat, dass Menschen sich für etwas schuldig gefühlt haben, was doch eigentlich gar keine Sünde war oder was sie vielleicht sogar noch nicht einmal getan hatten. In der Tat hat die Kirche, haben ganz konkret Menschen, die im Auftrag der Kirche gesprochen und gehandelt haben, selber Schuld auf sich geladen, indem sie Gewissen belastet haben, wo es in Wirklichkeit gar nicht um Schuld vor Gott ging. Und in der Tat ist es richtig, dass es auch krankhafte Schuldgefühle gibt, dass Menschen sich aufgrund bestimmter Erkrankungen permanent an jedem und allem schuldig fühlen, obwohl sie in Wirklichkeit gar nicht dafür verantwortlich sind. Nicht immer ist es in der Tat gut und heilsam, wenn Menschen sagen: „Ich bin schuld“.
 
Doch genauso verkehrt ist es umgekehrt, wenn menschliche Schuld grundsätzlich nur noch als ein psychisches Phänomen angesehen wird und zwischen Schuld und Schuldgefühlen überhaupt nicht mehr unterschieden wird. Ja, genauso problematisch ist es, wenn Menschen Gottes Gebote als Maßstäbe ihres Handelns abhanden kommen und für sie nur noch zählt, was ihren Vorteil, ihre Position, ihre Macht sichert. Ja, Menschen werden in der Tat schuldig, ganz gleich, ob sie es selber so sehen und empfinden; dringend nötig hätten sie es, immer wieder dieses Bekenntnis auszusprechen: „Ich bin schuld!“ Denn nur so könnte sie beginnen, die entscheidende Heilung ihres Lebens.
 
Warum tun sich Menschen so schwer mit dem Bekenntnis „Ich bin schuld!“? Ein weiterer Grund dafür könnte darin liegen, dass Menschen zwar „Schuld“ als Kategorie für ihr eigenes Leben gerne verdrängen, aber diese Kategorie umso lieber gebrauchen, um über das Leben anderer Menschen zu urteilen. Ja, erst recht erscheint diese Kategorie nötig, um erfahrenes Leid irgendwie verarbeiten zu können: Wenn irgendwo ein scheinbar unerklärliches Unglück passiert, gibt man nicht Ruhe, bis man irgendjemanden gefunden hat, der daran schuld ist, den man als vermeintlichen oder tatsächlichen Sündenbock präsentieren kann. Und ist erst einmal ein Sündenbock identifiziert, dann gibt es für ihn kein Erbarmen: Wer schuld ist, der darf in der Öffentlichkeit mit keiner Vergebung rechnen, selbst wenn er ausnahmsweise selber ein Schuldbekenntnis ablegen sollte. Kein Wunder, dass unter diesen Umständen keiner in irgendeiner Angelegenheit schuld sein will, dass keiner der Sündenbock sein will, der den anderen zur Bestätigung dessen dient, dass sie, gottlob, ja besser sind als dieser Schuldige!

Sündenbockmechanismen dienen so zugleich immer wieder zur eigenen seelischen und gewissensmäßigen Entlastung.
Aber es gibt eben auch noch einen dritten Grund dafür, dass Menschen sich so schwer damit tun, diesen Satz „Ich bin schuld!“ auszusprechen. Ich habe ihn eben schon ein wenig angedeutet: Irgendwie steckt ganz tief in uns Menschen eben doch eine Ahnung drin, dass wir uns mit unserem Leben vor einer höheren Instanz einmal werden verantworten müssen. Und wir ahnen zugleich: Wenn wir schuldig sind, können wir vor dieser Instanz nicht bestehen. Und so greifen wir Menschen immer wieder zu denselben Tricks, um uns zu ent-schuldigen: Wir leugnen unsere Schuld, versuchen sie zu verstecken, zeigen mit dem Finger auf die Schuld anderer, reden unsere eigene Schuld klein und schön, sprechen höchstens vielleicht von einem Fehler, den wir gemacht haben, weisen darauf hin, dass wir im Vergleich zu anderen Menschen doch immer noch ganz gut dastehen. Dass wir uns damit mitunter geradezu lächerlich machen, erscheint uns dabei immer noch erträglicher, als diese Worte über die Lippen zu bringen: „Ich bin schuld!“ Und doch ahnen wir es in unserem Tiefsten zugleich auch selber: Mit solchen Tricksereien können wir der Frage nach unserer Schuld letztlich doch nicht entkommen.

Schwestern und Brüder: Auf diesem Hintergrund wird noch einmal ganz besonders deutlich, wie gut wir es als Christen haben. Wir haben zunächst einmal einen Maßstab für unser Leben, der uns die Wahrheit unseres Lebens erkennen lässt und uns davor bewahrt, uns in unserem Leben selber etwas vorzumachen: Gottes Gebote sind dieser Maßstab, der darum für uns von Bedeutung ist, weil Gott selber an diesem Maßstab einmal unser Leben messen wird. Ja, da geht es in der Tat darum, ob wir schuld sind oder nicht, weil unser Leben, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, auf Gott ausgerichtet ist und auf die Begegnung mit ihm zuläuft. Was Menschen allgemein nur ahnen mögen, das ist uns als Christen ganz klar und bewusst: Schuld ist mehr als ein Gefühl; es geht hier um die letzte Wahrheit meines Lebens. Ich komme eben nicht damit durch in meinem Leben, dass mich vielleicht keiner erwischt, dass keiner hinter meine Maske blickt, die ich mir zugelegt habe. Gott blickt tiefer, und vor ihm habe ich keine andere Chance, als es ganz offen und ehrlich auszusprechen: „Ich bin schuld!“

Doch gut haben wir es als Christen vor allem, weil wir wissen, wo wir mit unserer Schuld hin können, weil wir den Sündenbock kennen, auf den wir unsere Schuld tatsächlich abwälzen können: Er, Christus, hat sich dazu bereiterklärt, unser Sündenbock zu werden, hat sich dazu bereiterklärt, damit auch alle Konsequenzen auf sich zu nehmen, mit der ein Sündenbock rechnen muss: Ausgestoßen von der Gemeinschaft hat er sein Sündenbock-Dasein schließlich mit dem Tod bezahlt, mit dem Tod am Kreuz. „Ich bin schuld!“ – Der Einzige, der diesen Satz in Bezug auf seine eigene Person, sein eigenes Handeln nicht hätte sagen können und müssen, dieser Einzige akzeptiert es, dass man ihm die Schuld der ganzen Welt in die Schuhe schiebt. Ja, eben darum können und dürfen wir als Christen zu unserer Schuld stehen, weil wir wissen, dass uns diese Schuld nicht länger verdammt, dass wir auf diese Schuld nicht in alle Ewigkeit festgenagelt werden, sondern dass wir auch diese Schuld, die wir hier und jetzt bekennen, zugleich schon auf den Schultern des Gekreuzigten liegend erkennen dürfen. Ja, weil wir als Christen um Gottes Vergebung wissen, die im Tod seines Sohnes am Kreuz gründet und die wir ganz konkret in der Beichte, im Heiligen Abendmahl empfangen, eben darum können wir zu unserer Schuld stehen, brauchen nicht um sie herumzureden, brauchen nicht zu versuchen, uns ihrer mit irgendwelchen Tricks zu entledigen, weil wir sie sonst nicht tragen könnten, dürfen es darum auch ganz offen gegenüber anderen Menschen aussprechen: Ja, ich bin schuld!

Schwestern und Brüder, es wäre gut, wenn wir genau daran als Christen erkannt werden, dass wir mit unserer Schuld anders umgehen als Menschen, die von Gottes Vergebung nichts wissen, dass wir ehrlich zu unserer Schuld stehen und nicht versuchen, sie schönzureden und zu verstecken. Und es wäre schließlich auch gut, wenn sich der Glaube an den gekreuzigten Christus, unseren Sündenbock, auch darin bei uns Christen auswirkt, dass wir mit der Schuld anderer Menschen anders umgehen als die, die von Gottes Vergebung keine Ahnung haben: Wir brauchen nicht auf der Schuld anderer herumzuhacken, um uns selber in ein besseres Licht zu rücken, um uns selber das bessere Gefühl zu verschaffen, das wir ja vielleicht doch nicht so schlechte Menschen sind. Wir brauchen anderen Menschen gegenüber nicht als unbarmherzige Richter aufzutreten, weil wir doch wissen, dass wir unsere Zukunft allein der Barmherzigkeit Gottes verdanken, der gottlob mit unserer Schuld immer wieder anders verfährt als wir mit der Schuld unseres Nächsten. Ja, Gott geb’s, dass in der Nähe von uns Christen Menschen keine Angst haben müssen, eben dies offen auszusprechen: „Ich bin schuld!“ Ja, Gott geb’s, dass sie und wir mit ihnen erfahren, was für eine heilende Wirkung es hat, Schuld bekennen und Vergebung empfangen zu dürfen. Genau davon wusste schon der Beter des 32. Psalms etwas: „Wohl dem Menschen, dem der HERR die Schuld nicht zurechnet, in dessen Geist kein Trug ist! Denn als ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Klagen. Darum bekannte ich dir meine Sünde, und meine Schuld verhehlte ich nicht. Ich sprach: Ich will dem HERRN meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde.“ Mensch, was haben wir Christen es gut! Amen.