25.03.2011 | Galater 4,4-7 | Mariae Verkündigung

Da sitze ich an meinem Schreibtisch und schaue auf meinen Zettel mit all den Aufgaben, die ich an diesem Tag noch erledigen muss. Geburtstagsgrüße schreiben – Gemeindebesuche machen – Lieder für die nächsten Gottesdienste heraussuchen – E-Mails beantworten – Telefonate erledigen – Veranstaltungen vorbereiten – Predigt schreiben. Ja, wo soll ich eigentlich anfangen, und wie soll ich das eigentlich alles schaffen? Doch da läuten mit einem Mal die Glocken von Herz Jesu nebenan. Sie rufen zum Angelusgebet, rufen dazu auf, das Geheimnis der Menschwerdung Gottes im Schoß Mariens zu bedenken. Ich bete das Kollektengebet von Mariae Verkündigung, das wir auch eben miteinander gebetet haben: „O Gott, der du deinen Sohn im Schoß der Jungfrau Maria um unsertwillen hast Mensch werden lassen …“ – Und da merke ich schon, wie mit einem Mal all das, was mich eben noch rotieren ließ, in einem anderen Licht erscheint: Mein Leben, meine Arbeit ist nicht eine endlose Tretmühle, kein ewig gleicher Trott, den ich immer weiter gehe, bis er irgendwann einmal mit meinem Sterben endet. Sondern da ist etwas Einmaliges geschehen in der Weltgeschichte und damit auch für mein Leben und in meinem Leben: Gott selber ist in die Weltgeschichte, ja auch in mein Leben hineingekommen, und mit diesem Kommen hat sich wirklich alles verändert, ist nichts mehr einfach, wie es war.
 
Von der „Knechtschaft der Mächte der Welt“ spricht der Apostel Paulus in dem Vers, der der Epistel unseres heutigen Festtags unmittelbar vorangeht. Was für ein passendes Bild: Wir erfahren uns in unserem Leben oftmals in der Tat als Getriebene, getrieben von Terminplänen, von Sachzwängen, von so vielem, was uns im Leben so wenig Raum zum Atmen lässt. Alles läuft scheinbar immer wieder gleich ab, wir scheinen mitunter mehr gelebt zu werden, als dass wir tatsächlich selber leben.
 
Doch da verkündigt der heilige Paulus nun die gute Nachricht dieses Tages: Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan. Nein, sagt Paulus, unsere Geschichte, die Weltgeschichte wie unsere persönliche Geschichte, ist kein ewiger Kreislauf, keine ewige Wiederkunft des Gleichen, wie einst Friedrich Nietzsche behauptete. Sondern da hat sich mitten in unserer Menschheitsgeschichte etwas absolut Einmaliges ereignet, etwas, was vorher nie geschehen war und auch künftig nie mehr geschehen wird: Der ewige Sohn des Vaters, eins mit dem Vater, geht in unsere Zeit, in unsere Geschichte ein. Nein, er verkleidet sich nicht bloß kurz mal als Mensch, huscht unerkannt durch die Geschichte, um dann wieder aus ihr zu entschwinden, wie wir dies aus griechischen Göttererzählungen kennen. Und was Paulus hier zu berichten weiß, ist auch nicht bloß ein Märchen, eingeleitet mit „Es war einmal“, keine Erzählung, die von ihren schönen und wahren Gedanken lebt, auch wenn sich das Erzählte in Wirklichkeit niemals ereignet hat. Sondern alles, wirklich alles hängt daran, dass der ewige Gott, dem diese Welt ihre Existenz verdankt, dem wir alle unsere Existenz verdanken, tatsächlich zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte ganz in sie eingegangen ist, so sehr, dass er, der Sohn Gottes, nun in alle Ewigkeit ein Menschenangesicht trägt, in alle Ewigkeit Fleisch von unserem Fleisch, ein wirklicher Mensch ist und bleibt.
 
Nie mehr brauche ich Gott bloß irgendwo in meinen Gedanken zu suchen, die ich mir über ihn machen mag, nie mehr muss ich mich in den Grunewald begeben, um dort irgendwo Gott finden und erfahren zu können. Nie mehr muss ich anfangen, ganz tief in mein Innerstes hineinzuhorchen, ob ich dort vielleicht auf etwas Göttliches, Unsterbliches stoße. Der Gott, den ich suche, den finde ich als Embryo im Schoß eines jungen Mädchens, der kann gar nichts Anderes sein als ein Jude, einer, in dem sich zugleich auch die Verheißungen Gottes an sein auserwähltes Volk erfüllen.
 
„Als die Zeit erfüllt war“, ist dies geschehen, schreibt der Apostel. Wir können das aus unserer Perspektive nur begrenzt nachvollziehen, warum er, der Sohn Gottes, gerade damals vor gut 2000 Jahren Mensch geworden ist. Gewiss, wir können staunend feststellen, dass seine Geburt, menschlich gesprochen, genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgte, gerade bevor die Geschichte des jüdischen Tempels an ihr Ende kam, gerade zu einer Friedenszeit im römischen Reich, als es für Paulus und die anderen Apostel einfach war, das ganze Reich zu bereisen und die frohe Botschaft von Christus überall zu verbreiten. Doch letztlich war es Gott allein, der entschied, dass es nun soweit war, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, die große, entscheidende Rettungsaktion für die Menschheit zu starten.
 
Ja, um nicht weniger als um Rettung, um Erlösung ging es bei dem, was damals im Haus des jungen Mädchens Maria im Provinzkaff Nazareth geschah, um Rettung und Erlösung für alle Menschen. Gerettet werden wir Menschen nicht dadurch, dass Gott einen Propheten schickt, der uns Menschen verkündigt, wie wir unser Leben ändern und künftig anders gestalten sollen. Gerettet werden wir Menschen nicht dadurch, dass Gott einen Boten schickt, der uns zur Erkenntnis ewiger Wahrheiten hilft. Sondern gerettet werden wir dadurch, dass Gottes Sohn von einer Frau geboren wird und als Jude Gottes Willen in seinem Gesetz so erfüllt, wie Gott sich das in seinem Gesetz eigentlich vorgestellt hatte. Ja, genau das hat er getan, genau das ist geschehen, ein einziges Mal in der Menschheitsgeschichte. Und das reicht, um damit das Heil für alle Menschen zu wirken. Christus erduldet die Strafe des Gesetzes für die Übertreter des Gesetzes, damit wir frei sind, damit wir nicht mehr getrieben sein müssen von der Angst, vor Gott zu versagen, nicht genügend zu leisten, von ihm am Ende verworfen zu werden. Frei sind wir davon, durch eigene Leistung, durch eigenes Bemühen Gottes Ansprüchen gerecht werden zu müssen, um so in seiner Gemeinschaft leben zu dürfen. Frei sind wir davon, unseren Wert gegenüber anderen Menschen und gegenüber Gott durch das bestimmen zu müssen, was wir tun und vermögen, was wir in unserem Leben schaffen.
 
Die Glocken läuten – ich atme auf: Meine Rettung verkündigen sie, die schon längst geschehen ist, längst bevor ich auch den Zettel mit meinen täglichen Verpflichtungen abgearbeitet habe. Kind Gottes bin ich, unbedingt geliebt von ihm, meinem Vater, meinem himmlischen Papi, wie Paulus ihn hier nennt. Ja, so einmalig wie damals die Empfängnis und Geburt des Sohnes Gottes im Jahr 7 vor dem angeblichen Zeitpunkt seiner Geburt erfolgte, so einmalig war und bleibt auch das Geschehen in meinem Leben, durch das ich Kind Gottes, Tempel des Heiligen Geistes, Erbe des ewigen Lebens geworden bin. Ja, das können wir auf den Tag genau bestimmen, wann das in unserem Leben geschehen ist: am Tag unserer heiligen Taufe. Da hat sich in unserem ganz persönlichen Lebenslauf die Zeit erfüllt, da ist Christus, der Sohn Gottes, in unsere ganz persönliche Lebensgeschichte hineingekommen, hat endgültig Fakten geschaffen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, die nicht mehr widerrufen werden können. Seitdem bin ich frei, kein Sklave der Erwartungshaltungen anderer, sondern Gottes geliebtes Kind.
 
Und nun wird die Glocke gleich wieder läuten – und wenn sie dies gleich tut, dann erinnert sie uns nicht bloß an etwas, was früher, vor 2000 Jahren geschehen ist, sondern sie verkündigt, dass genau das hier und jetzt Gegenwart wird, was damals geschehen ist: Gottes Sohn kommt wieder neu in unsere Lebensgeschichte hinein, mit all ihren Ängsten und scheinbaren Zwängen. Nicht anders kommt er zu uns, als so wie Paulus dies hier beschreibt: Leibhaftig kommt er zu uns, macht unseren Leib damit genauso zu seiner Wohnung, wie er sich damals den Leib Mariens zu seiner Wohnung erwählt hat. Ja, wir werden ihn, den Fleisch gewordenen Gott, nachher nach Hause tragen, in unseren Alltag hinein mit all seinen Sorgen und Nöten, werden daraus Kraft schöpfen können für das, was uns dort erwartet: Gott selber ist da in meiner Lebenszeit, nein, nicht bloß irgendwie geistig, sondern ganz real, bestärkt mich dadurch darin, dass ich Kind bin, Kind Gottes, Erbe des ewigen Lebens. Mitten in der Zeit erfahren wir schon die Ewigkeit, weitet sich unser Horizont in die Unendlichkeit, weil der unendliche Gott für uns ganz klein, ganz endlich, ja ganz Mensch geworden ist, damit bei uns nicht alles immer beim Alten bleibt, damit der Tod am Ende nicht der letzte Herrscher unseres Lebens bleibt. Gott gönnt uns diese heilsame Unterbrechung unseres Alltagstrotts, damit wir auch heute wieder aufatmen und es wieder neu erkennen dürfen: Steinreiche Leute sind wir, Erben bei Gott – weil Gott sich in unsere Geschichte, in unser Leben eingemischt hat, als die Zeit erfüllt war. Gott sei Dank! Amen.