25.05.2011 | 2. Samuel 6,12-16.20-22 | Mittwoch nach Kantate

Vor vielen Jahrzehnten, als ich noch ein Jugendlicher war, nahm ich mit meiner Familie regelmäßig an Gottesdiensten in einer Gemeinde teil, in der sich aus mir nicht ganz erfindlichen Gründen vor langer Zeit die Praxis eingebürgert hatte, im Gottesdienst in den Kirchenbänken überhaupt nicht zu knien, auch nicht beim Sündenbekenntnis in der Beichte, auch nicht bei der Konsekration bei der Sakramentsfeier. Als unsere Familie und eine andere Familie es dann doch wagten, im Gottesdienst von den zugegebenermaßen nicht sonderlich bequemen Rudimenten einer Kniebank Gebrauch zu machen, gab es in der Gemeinde bald heftige Diskussionen: Das macht man doch nicht! Ein aufrechter Lutheraner kniet nicht, sondern steht! Ähnliche Konflikte um Körperhaltungen im Gottesdienst, um liturgische Gesten und Gewänder ließen sich gewiss aus vielen Gemeinden nicht nur unserer Kirche berichten.

Und genau solch eine Geschichte wird uns auch in der Abendlesung des heutigen Abends geschildert, wobei uns allerdings das liturgische Verhalten, das uns hier vor Augen gestellt wird, doch wohl noch etwas befremdlicher erscheinen mag als die Frage, ob man denn nun im Gottesdienst knien sollte oder nicht. Da befinden wir uns in Jerusalem, der neuen Hauptstadt von König David, die dieser kurz zuvor gerade auf geniale Weise erobert und nun zu seiner Hauptstadt gemacht hatte. Zu einer anständigen Hauptstadt gehörte damals auch ein anständiges Heiligtum, zu dem die Bevölkerung pilgern konnte – und ein solches Heiligtum richtet David nun auch in seiner neuen Hauptstadt ein: Die Bundeslade lässt er nach Jerusalem bringen, jenen Kasten mit langen Tragestangen an seinen Seiten, in dem sich unter anderem die Steintafeln mit den Zehn Geboten befanden – die Bundeslade, die nicht bloß ein besonders heiliger Gegenstand war, sondern die als Ort der Gegenwart Gottes galt, der Ort, an den er, der Gott Israels, seine Gegenwart in besonderer Weise gebunden hatte.

Natürlich lässt David die Bundeslade nicht einfach mithilfe des Deutschen Paketdienstes nach Jerusalem bringen; sondern der Einzug der Bundeslade erfolgt, wie es sich gehört, in einer feierlichen Prozession mit Opfern und Posaunenchor und allen liturgischen Schikanen. Und an der Spitze dieser Prozession steht er, der König selber, nun nicht in seiner Eigenschaft als König, sondern gleichsam als oberster Priester der Stadt und seines Volkes. Und so trägt er auch nicht sein königliches Gewand, sondern ein Priestergewand, allerdings ein ganz besonderes: nicht ein Gewand, das ihn von oben bis unten umhüllte, sondern einen leinenen Lendenschurz, mit dem Priester damals ihre Niedrigkeit im Vergleich zu der unermesslichen Größe Gottes zum Ausdruck brachten. Und dann begnügt sich David nicht damit, feierlich vor der Bundeslade voranzuschreiten, sondern die Freude darüber, nun den Ort der besonderen Gegenwart Gottes in seiner Stadt, in seiner Nähe zu haben, die erfüllt den David so sehr, dass er anfängt, zu tanzen und zu springen. Was sich dabei nun genau ereignet hat, schildert der Erzähler hier nicht im Einzelnen. So wissen wir nicht genau, ob David durch sein Tanzen und Springen angesichts seiner eher spärlichen Bekleidung eher unwillentlich tiefere Einblicke in seine Unterleibsgegend eröffnet hat oder ob er möglicherweise, so kann man aus den Reaktionen seiner Frau Michal erschließen, sich in seiner Freude über das Heiligtum Gottes so verhalten hat, wie Priester in Kanaan dies auch sonst mitunter zu tun pflegten, dass sie sich nämlich alle Kleidungsstücke vom Leibe rissen, um so ihre Niedrigkeit gegenüber der Hoheit ihres Gottes auf recht radikale Weise zum Ausdruck zu bringen. Fest steht jedenfalls, dass David, als er nach dem Abschluss der gottesdienstlichen Prozession nach Hause kommt, von seiner Ehefrau eine kräftige Abreibung erhält, die für diese liturgische Entblößung ihres Gatten nur Hohn und Spott übrig hat: Nein, das hatte noch nicht einmal etwas mit der Geschichte von des Königs neuen Kleidern zu tun, das war einfach nur peinlich, geschmacklos, wie sich ihr Mann da in aller Öffentlichkeit aufgeführt hatte. Doch David widerspricht ihr deutlich: Weder sein Tanzen noch seine Erniedrigung vor Gott will er sich durch die Spöttelei seiner Frau madig machen lassen.

Schwestern und Brüder: Ihr braucht keine Sorgen zu haben: Ich werde es jetzt hier im Gottesdienst nicht dem David nachzumachen versuchen, werde euch weder mit einer Tanzeinlage erschrecken noch mir vor euren Augen meine Gewänder und meine Kleidung vom Leibe reißen. Und ich wäre euch umgekehrt doch sehr verbunden, wenn auch ihr euch durch unsere heutige Predigtlesung nicht dazu veranlasst säht, hier im Gottesdienst nun Ähnliches zu tun. Wir haben nirgendwo in der Heiligen Schrift eine Anweisung, dass wir uns bei gottesdienstlichen Prozessionen ähnlich verhalten sollten wie David hier. Und doch können wir aus dieser Geschichte dreierlei auch für uns mitnehmen:
Zunächst einmal zeigt uns diese Geschichte: Wenn wir Gottesdienst feiern, dann hat das immer auch mit unserem Körper zu tun. Gottesdienst feiert man nicht bloß mit seinem Kopf, sondern auch mit dem, was da so alles unter dem Kopf herumhängt. Das geht schon damit los, dass wir auch zum Singen unseren Körper brauchen, und das geht weiter damit, dass wir im Gottesdienst eben nicht bloß sitzen, sondern auch stehen und knien, wenn es uns denn körperlich möglich ist, dass wir uns verneigen und bekreuzigen, dass wir unsere Ehrfurcht vor dem Herrn eben auch leiblich zum Ausdruck bringen. Und damit sind wir schon beim Zweiten: Wenn wir unseren Körper hier im Gottesdienst einsetzen, dann dient dies immer wieder in besonderer Weise auch dazu, dass wir damit auf unsere Weise anerkennen, dass wir vor ihm, dem gegenwärtigen Gott, Respekt haben und uns darum ihm gegenüber anders verhalten, als wenn wir nur vor dem Fernseher sitzen würden. Ja, das können wir nachvollziehen, dass der David dieses Bedürfnis hatte, mit seinem Körper eben auch dies zum Ausdruck zu bringen, dass Gott größer ist als er, dass es tatsächlich keine lutherische Tugend ist, vor Gott einfach aufrecht und ungebeugt zu stehen, als hätten wir es hier sozusagen mit einem gleichberechtigten Partner zu tun. Aber noch ein Drittes können wir dem David nachempfinden: Wenn wir hier im Gottesdienst Gott gegenüber unsere Verehrung zum Ausdruck bringen, wenn wir in unserer eigenen, auch ganz persönlichen Weise, unsere Frömmigkeit praktizieren, dann öffnen wir uns damit in einer sehr persönlichen, um nicht zu sagen: intimen Weise. Und da möchten wir nicht unbedingt, dass andere sich das gleichsam als unbeteiligte Zuschauer anschauen und dann darüber ihre Kommentare abgeben, wie Michal dies damals gegenüber David getan hat. Der Gottesdienst soll zugleich auch ein Schutzraum sein, in dem wir uns auf Gott ausrichten und in dem jegliche Wertungen gegenüber der Frömmigkeitspraxis anderer fehl am Platz sind, weil sie nur allzu leicht verletzend wirken. Ja, es ist gut und hilfreich, dass uns dies am Beispiel des David hier so deutlich vor Augen gestellt wird. Wir mögen es eben mit Recht nicht, während des Gottesdienstes fotografiert, gefilmt oder begafft zu werden. Wir mögen es nicht, dass wir vor irgendjemand Rechenschaft ablegen müssen, warum wir unsere Frömmigkeit so und nicht anders zum Ausdruck bringen. Denken wir auch daran, wenn wir in der Versuchung stehen sollten, über die Frömmigkeitspraxis anderer Kommentare abzugeben!

Und doch geht es in dieser Geschichte noch um viel mehr als bloß um rechtes liturgisches Verhalten: Nackt tanzt der König David da vor seinem Volk, erniedrigt sich damit vor den Augen seines Volkes. Und mit dem, was er da tut, weist er schon, ohne es zu ahnen, auf seinen Nachkommen, auf den einen Sohn Davids hin, vor dem wir uns in jedem Gottesdienst beugen, wenn sein Name genannt wird. Der hat sich noch in ganz anderer Weise entblößen lassen als David, hat sich splitternackt ans Kreuz hängen und dort begaffen lassen – nein, nicht bloß als liturgische Übung, sondern um die Strafe für unsere Schuld auf sich zu nehmen, um uns zu retten. Vor ihm, dem nackten König, beugen wir uns in jedem Gottesdienst, ihn beten wir an, der sich für uns erniedrigt hat, um uns ganz groß herauszubringen, um uns dorthin zu bringen, wo wir einmal nicht nackt, sondern in weißen Kleidern dem für immer huldigen werden, der seine Größe gerade darin zum Ausdruck gebracht hat, dass er sich für uns ganz klein gemacht hat – bis zum Tod am Kreuz. Amen.