26.10.2011 | 2. Mose 23,1-9 | Mittwoch n.d. 18. Sonntag nach Trinitatis

Über ein Jahr ist es nun schon wieder her, seit wir einen Bruder aus unserer Gemeinde zu Grabe tragen mussten, der auf einem Fußgängerüberweg von einem Motorradfahrer erfasst und getötet worden war. In den kommenden Wochen soll nun die Gerichtsverhandlung endlich stattfinden. Doch es steht zu befürchten, dass diese Gerichtsverhandlung den Hinterbliebenen wohl doch nicht zu ihrem Recht verhelfen wird, abgesehen davon, dass der Getötete dadurch nun auch nicht wieder lebendig gemacht würde. Denn die Zeugen, die gleich nach dem Unfall noch einhellig bezeugen konnten, dass unser Bruder bei Grün über den Fußgängerüberweg gegangen war, haben in der Zwischenzeit alle wieder ihre Aussage zurückgezogen, können sich nun alle miteinander merkwürdigerweise nicht mehr an das Geschehen erinnern. Ahnen können wir, dass da vermutlich wohl einiges im Hintergrund gelaufen ist, dass da vermutlich wohl doch einige Gelder geflossen sind, um dem Verblassen des Gedächtnisses der Zeugen ein wenig nachzuhelfen. Doch nachweisen lässt sich natürlich nichts, und so werden diejenigen, die ein Interesse daran hatten, dass sich niemand mehr so genau an das Geschehen erinnern kann, am Ende wohl vor Gericht Erfolg haben.

Das ist kein neues Phänomen, sondern genau damit befassen sich auch schon die Gebote des Alten Testaments in aller Deutlichkeit. Wir kennen aus dem 2. Mosebuch ja zumeist nur die Zehn Gebote; doch Gott hat darüber hinaus seinem Volk noch jede Menge weitere Gebote gegeben, die die Zehn Gebote noch einmal ausführen und weiter erläutern. Und einige dieser Gebote haben wir nun eben in der Predigtlesung gehört. Um das Verhalten vor Gericht geht es in diesen Geboten in besonderer Weise, darum, dass man sich als Zeuge durch nichts und niemand davon abhalten lassen soll, die Wahrheit zu bezeugen: nicht durch den Druck der Mehrheit, auch nicht durch Mitleid und erst recht nicht durch Bestechungsgelder. Das Gewicht von Zeugenaussagen war damals zu einer Zeit, in der es noch keine DNA-Proben, noch keine Abhörgeräte und keine kriminaltechnischen Untersuchungen gab, noch sehr viel bedeutsamer als heute: Zeugenaussagen allein konnten einen Unschuldigen töten oder Schuldige ungeschoren davonkommen lassen. Wer die Zeugen auf seine Seite bringen konnte, der hatte gewonnen – und das waren eben auch damals schon zumeist die Reichen und die Einflussreichen.

Was hier in unserer Predigtlesung gesagt wird, das leuchtet uns natürlich ein, das finden wir gut und richtig. Aber wie lässt sich dies umsetzen und durchsetzen? Genau das ist das Spannende, was wir dieser Predigtlesung entnehmen können: Umsetzen und durchsetzen lässt sich all dies nur dort, wo Menschen um ihre Verantwortung vor Gott wissen und sie entsprechend ernst nehmen. Solange ich Gott als mein Gegenüber nicht ernst nehme, solange ich davon überzeugt bin, alles sei erlaubt, wenn ich dabei nicht erwischt werde, so lange wird sich mein Handeln einzig und allein daran ausrichten, was mir jeweils einen Vorteil einbringt. Erst wenn ich mit Ernst bedenke, dass ich mich mit jedem Wort, das ich rede, vor Gott zu verantworten habe, werde ich dann auch entsprechend anders, eben verantwortlich handeln.

Sehr tiefgründig hat Papst Benedikt XVI. in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag genau auf dieses Problem aufmerksam gemacht, dass Mehrheiten allein als Begründung für die Geltung von Recht letztlich nicht ausreichen. Die Menge kann sich auch auf den Weg zum Bösen begeben, so stellt es Gott dem Volk Israel und auch uns heute hier vor Augen; dann stehen die wenigen, die der Menge nicht folgen, in Wirklichkeit auf der Seite des Rechts und der Wahrheit. Nur in Verantwortung vor Gott, wie es in der Präambel unseres Grundgesetzes heißt, findet das Recht zwischen den Menschen seine tiefste und letzte Begründung.

Gott sagt: „Du sollst“ – und damit will er uns gerade nicht schikanieren und einschränken, sondern gelingendes Leben, nicht zuletzt auch gelingendes Zusammenleben zwischen den Menschen ermöglichen. Gott weiß, wie gut es für uns Menschen ist, wenn wir in einem Land leben, in dem tatsächlich Recht gesprochen wird und Recht nicht eine Frage der Macht oder der Mehrheit ist. Gott weiß, dass es uns Menschen menschlich macht, wenn wir auch denen, mit denen wir vor Gericht über Kreuz liegen, in unserem Alltag Gutes tun und dort nicht die Gelegenheit nutzen, an ihnen Rache zu üben. Gott weiß, dass es uns Menschen menschlich macht, wenn wir Menschen, die als Fremdlinge in unserem Land leben, nicht als Menschen zweiter Klasse behandeln. Eindrücklich erinnert Gott hier die Israeliten an ihre Sklavenzeit in Ägypten, erinnert sie daran, dass sie sich doch eigentlich gut in die Situation dieser Ausländer in ihrem Land hineinversetzen können, weil sie selber in der Vergangenheit in Ägypten ein ganz ähnliches Geschick durchlitten hatten. Ja, erinnern muss Gott die Israeliten und auch uns daran, weil sie und wir nur allzu vergesslich in dieser Hinsicht sind, so leicht Zeiten vergessen, in denen wir dankbar für die Zuwendung anderer waren, auf deren Hilfe wir angewiesen waren.

Ja, hochmodern ist das, was Gott dem Volk Israel hier in seinen Geboten ans Herz legt. Um ein gelingendes Zusammenleben zwischen den Menschen, ganz besonders in seinem Volk, geht es ihm. Und doch würden wir diese Worte aus dem 2. Mosebuch noch nicht recht erfasst haben, wenn wir sie nur so lesen, als würde Gott uns hier zu einem anständigen Leben anleiten wollen – Gott als der große Sittenwächter, der aufpasst, dass sich alle nach seinen Vorschriften richten.

Sondern recht verstehen können wir diese Worte erst, wenn wir dabei immer mitbedenken, dass ein jeder von uns, ohne Ausnahme, einmal auf die richtigen Zeugenaussagen im wichtigsten Prozess seines Lebens angewiesen sein wird. Gott selber wird uns einmal vor sein Gericht rufen, wird uns genau danach fragen, ob wir uns in den Entscheidungen unseres Lebens von Mehrheiten haben leiten lassen, von der Aussicht auf irgendwelche kurzfristigen Vorteile. Er wird uns danach fragen, wie wir mit unseren Feinden umgegangen sind; er wird uns auch danach fragen, wie wir mit den Fremdlingen, den Ausländern in unserem eigenen Land umgegangen sind. Und das Urteil, das uns dann erwartet, formuliert Gott selber hier in aller Eindrücklichkeit und Kürze: „Ich lasse den Schuldigen nicht recht haben.“ Keine Chance hätten wir von uns aus, in diesem Gerichtsverfahren zu bestehen. Aber dann kommt er, der eine Zeuge, von dem alles abhängt. Der sagt ganz und gar die Wahrheit – und doch vernichtet uns diese Wahrheit nicht, sondern rettet uns. Der Zeuge bestreitet nicht, was wir getan haben, bestreitet nicht, dass wir uns in unserem Leben oft genug gerade nicht von Gott, sondern von so vielem Anderen haben leiten lassen. Aber dann bezeugt er zugleich auch, was er für uns getan hat, bezeugt, dass er sein Leben auch für uns in den Tod dahingegeben hat. Und dieses Zeugnis ist wahr und lässt sich durch nichts und niemand zum Verstummen bringen; dieses Zeugnis wird uns retten, obwohl wir selber dies gar nicht verdient haben, diese Zeugenaussage unseres Herrn und Retters Jesus Christus.

Was wir hier auf Erden an Rechtssprechung erleben, wird immer sehr unvollkommen bleiben. Wir können Gott nur bitten, dass er Menschen immer wieder durch sein Wort so das Gewissen schärft, dass sie nach dem handeln, was Gottes Wille ist. Doch Gott wird dazu auch einmal endgültig Recht schaffen, wird alles falsche Zeugnis einmal endgültig aufdecken und uns auf der Basis des Zeugnisses seines Sohnes einmal ewig freisprechen. Gott geb’s, dass wir uns darum in unserem Reden und Handeln niemals von dem beeindrucken lassen, was andere von uns erwarten und was die Mehrheit tut und will, sondern allein auf ihn schauen, unseren Herrn, der aus Liebe zu uns auch zu uns sagt: Du sollst! Amen.