01.11.2011 | Hebräer 12,22-24 | Gedenktag der Heiligen

„Heute war die Kirche ja nicht gerade besonders voll!“ – Vielleicht sind euch solche oder ähnliche Gedanken auch schon einmal durch den Kopf gegangen. Gewiss, an vielen Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahres würden wir hier in unserer St. Marienkirche nicht unbedingt als erstes auf diesen Gedanken kommen. Doch es lässt sich andererseits ja schwerlich bestreiten, dass heute Abend hier in unserer Kirche doch noch der eine oder andere Sitzplatz, soweit wir dies beurteilen können, frei geblieben ist. Ja, so sind wir Menschen nun einmal: Wir sind so leicht geneigt, Gottesdienste zu beurteilen nach dem Zuspruch, den sie bei den Gottesdienstteilnehmern, den realen und den schmerzlich vermissten, auslösen. Wir sind so leicht geneigt, Gottesdienste nach dem zu beurteilen, was wir mit unseren Augen sehen und wahrnehmen können: nach der Zahl der Gottesdienstteilnehmer etwa oder auch nach dem Pastor, der den Gottesdienst leitet. Dessen Name wird in Gottesdienstübersichtsplänen im evangelischen Bereich üblicherweise immer dem jeweiligen Gottesdienst hinzugefügt, und damit wird dieses Missverständnis noch verstärkt, als ob wir am Sonntag zu Pastor X oder Pastor Y in den Gottesdienst gingen. Kurzum: Ohne in vielen Fällen darüber überhaupt nachzudenken, gehen wir oft genug erst einmal davon aus, dass wir hier in der Kirche, hier im Gottesdienst unter uns sind, Gemeindeglieder, vielleicht ein paar Gäste und der Pastor – und dann mag es sein, dass uns die ganze Veranstaltung mitunter doch ein wenig klein und eng vorkommt.

Von einem Gottesdienst ganz anderer Dimension weiß der Verfasser des Hebräerbriefes hier zu berichten. Die Teilnehmerzahl bei diesem Gottesdienst lässt sich nicht so leicht mit ein, zwei Blicken bestimmen; sie ist so riesig, dass sie sich auch nach längeren Nachzählbemühungen nicht in Zahlen ausdrücken lässt. Geradezu umwerfend ist es jedenfalls allemal, wer denn da so alles an diesem Gottesdienst teilnimmt: Viele tausend Engel sind in diesem Gottesdienst mit dabei – ach, letztlich stehen dem Verfasser des Hebräerbriefes einfach keine größeren Zahlen sprachlich zur Verfügung, um zu beschreiben, wie unermesslich groß die Schar dieser himmlischen Gottesdienstteilnehmer ist. Die Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, sind mit dabei, so schreibt der Hebräerbrief weiter. Das sind diejenigen, die durch die Heilige Taufe ihr Bürgerrecht im himmlischen Jerusalem erhalten haben. Die feiern alle miteinander kräftig mit. Und da sind schließlich auch die Geister der vollendeten Gerechten, also all diejenigen, die schon im Glauben an Christus heimgegangen sind. Nein, die sind nicht einfach weg, spurlos verschwunden, haben uns nicht für immer verlassen, sondern sie sind da, wo dieser Gottesdienst gefeiert sind, offenbar ganz lebendig, offenbar dazu in der Lage, Gott zu loben und zu preisen, eben Gottesdienst zu feiern. Eine riesige, unüberschaubar große Schar ist das, so haben wir es ja auch eben in der Epistel dieses Festtages gehört. Und doch ist auch diese riesige Schar nicht einfach unter sich; sondern in ihrer Mitte ist Gott der Richter gegenwärtig, den die, die da feiern, nicht zu fürchten brauchen, weil dieser Richter zugleich ihr Retter ist. Denn untrennbar verbunden mit dem Richter ist zugleich der Mittler des neuen Bundes, Jesus, der als der Gekreuzigte bei denen ist, die um seinetwillen an diesem himmlischen Gottesdienst teilnehmen dürfen.

„Mensch, bei dem Gottesdienst möchte ich auch einmal dabei sein“, magst du jetzt denken:  Engelchöre, mit denen weder der Gesang zweier Pastoren noch selbst der Gesang des Philharmonischen Chors auch nur ansatzweise mithalten kann. Ein Gottesdienst, bei dem sie alle miteinander dabei sind: Maria, die Mutter Gottes, und der heilige Paulus, die Märtyrer aller Zeiten der Kirchengeschichte, Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer, ja auch Abraham, Mose, David und Elia, und eben auch all unsere Lieben, die uns im Glauben an Christus schon vorangegangen sind. Ja, solch einen Gottesdienst würden wir auch gerne mal miterleben, an dem würden wir wohl auch gerne mal teilnehmen.

Und da ruft uns nun der Verfasser des Hebräerbriefs zu: Das ist nicht bloß ein schöner Wunschtraum, dass ihr solch einen Gottesdienst einmal miterlebt; und auf diesen Gottesdienst müsst ihr auch nicht bis zu eurer Beerdigung warten. Sondern der Verfasser des Hebräerbriefes schreibt hier allen Ernstes: „Ihr seid gekommen“, ihr seid jetzt schon da, angekommen auf dem Berg Zion, angekommen im himmlischen Jerusalem. Wann immer ihr euch zum Gottesdienst versammelt – und mag die Schar der Gottesdienstteilnehmer für menschliche Augen auch noch so kümmerlich und kläglich sein – wann immer ihr euch zum Gottesdienst versammelt, tretet ihr zugleich ein in diesen Gottesdienst, an dem unzählige Engel und alle Heiligen, alle im Glauben an Christus schon Heimgegangenen teilnehmen. Mit jedem Gottesdienst, den wir feiern, kommen wir schon hier und jetzt am Ziel an, treten wir schon ein in den Himmel, trennt uns nichts mehr von denen, die ihn, den Herrn und Mittler des neuen Bundes, Jesus Christus, jetzt schon schauen dürfen.

Vielleicht habt ihr es schon einmal in einer orthodoxen Kirche miterlebt, wie Kirchbesucher, nachdem sie den Kirchraum betreten haben, erst einmal zu den Ikonen hingehen, sie begrüßen und sie küssen. Ja, ich weiß, dahinter steckt nicht selten ein reichlich naiver Volksglaube, der tatsächlich von bestimmten Bildern und Ikonen besondere Wirkungen erwartet, der die Ikonen nicht unbedingt als das ansieht, was sie doch eigentlich sein sollten: Fenster, durch die man hindurchblickt zu der eigentlichen Wirklichkeit hinter ihnen. Doch recht verstanden, kann man diesem Brauch durchaus auch aus lutherischer Sicht etwas abgewinnen, auch wenn man ihn nicht unbedingt gleich nachahmen muss: Wenn ich in die Kirche komme, dann darf ich gewiss sein: Sie sind nun im Gottesdienst alle mit dabei, die Heiligen, die mir gerade darum ganz lieb und vertraut sein dürfen, ja, überhaupt auch all diejenigen, die ihren Glaubenslauf schon vor mir vollendet haben. Wenn wir uns das klarmachen, dann weitet das unseren Blick auf den Gottesdienst, dann bestärkt uns das in unserer Freude an der Gottesdienstteilnahme: Wie schön, jetzt wieder mit Maria und Paulus und dem heiligen Martin zusammen feiern zu dürfen! Da möchte man sie in der Tat genauso herzlich begrüßen, wie ihr ja auch sonst so manche Gottesdienstteilnehmer begrüßt, die ihr an der Kirchentür oder hier in der Kirche trefft. Alle sind sie da – die Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind. Die Kommentarausleger streiten sich darüber, ob mit diesen Erstgeborenen nun diejenigen gemeint sind, die hier auf Erden am Gottesdienst teilnehmen, oder diejenigen, die schon gestorben und am Ziel angekommen sind. Als ob das eine Alternative wäre! Wenn wir alle miteinander zu Christus gehören, Glieder seines Leibes sind, dann ist es vergleichsweise unwichtig, ob wir hier auf Erden noch am Leben sind oder nicht. So oder so gehören wir zu der einen Kirche, so oder so sind wir angekommen im himmlischen Jerusalem, so oder so kann keine Macht der Welt uns voneinander trennen!

Ach, Schwestern und Brüder, wenn wir uns das doch nur klar machen würden, wenn wir das Geheimnis der Kirche bedenken! Es gibt in der Tat nur die eine Kirche im Himmel und auf Erden! Wir mögen Gemeindeglieder aus unserer Gemeindekartei streichen, wenn wir sie beerdigt haben. Doch sie hören nicht auf, Kirchglieder zu sein, hören nicht auf, gemeinsam mit uns den Gottesdienst zu feiern, auch all diejenigen nicht, von denen wir hier in unserer Gemeinde in diesem Jahr auf den Friedhöfen Abschied nehmen mussten.

Dass wir uns nicht missverstehen: Wir feiern hier keine Gottesdienste mit Toten; unsere Gottesdienste sind keine spiritistischen Zirkel. Sondern die, mit denen wir den Gottesdienst feiern, die leben, eben weil sie mit Christus verbunden sind, eben weil Gott, der Richter, ihnen das ewige Leben gewährt und zugesprochen hat, eben weil das Blut Christi, an dem sie schon auf Erden im Heiligen Mahl Anteil hatten, sie nun auch ewig leben lässt.

Und noch eines unterscheidet allerdings unsere Gottesdienste von spiritistischen Zirkeln: Es geht hier im Gottesdienst nicht darum, dass wir versuchen, mit denen, die im Glauben an Christus verstorben sind, irgendwie Kontakt aufzunehmen, von ihnen irgendwelche Nachrichten aus dem Jenseits zu erhalten. Was sie dort machen, ist doch klar: Genau dasselbe, was wir auch im Gottesdienst machen: Sie loben und preisen Gott, sie beten Christus, ihren Heiland, an, singen gemeinsam mit allen Engeln und Erzengeln, mit den Mächten und Gewalten und mit dem ganzen himmlischen Heer. Gemeinsam mit uns ist ihr Blick auf Christus gerichtet; er allein steht im Zentrum des himmlischen Jerusalem. Zu wissen, dass die, die uns vorangegangen sind, diesen Gottesdienst feiern, dass sie ihn nun schon in der sichtbaren Vollendung feiern, das sollte uns reichen, das sollte auch bei uns immer wieder neu die Sehnsucht danach wecken, dort auch einmal endgültig anzukommen.

Ja, es ist und bleibt richtig: Ihr seid schon gekommen zu dem himmlischen Jerusalem, auch heute Abend. Aber noch müsst ihr nachher auch wieder raus, in die Dunkelheit der Nacht, in die Mühsal des alltäglichen Lebens. Noch bleibt es dabei, dass wir hier einen Vorgeschmack dieses Ziels erhalten, mehr noch nicht. Doch dieser Vorgeschmack ist zugleich mehr als nur eine ferne Ahnung: Wir stehen auch gleich wieder schon mitten drin in der himmlischen Festversammlung, wenn wir das „Heilig, heilig“ anstimmen. Möge uns diese Erfahrung immer wieder von Neuem Mut machen, dranzubleiben an ihm, Christus, uns nicht von allen möglichen Negativerfahrungen in der Kirche irritieren zu lassen. Wem Gott einmal den Blick geöffnet hat für das, was im Gottesdienst wirklich geschieht, der wird sich immer wieder ganz von allein hier einfinden, hier auf dem Berg Zion, hier, wo sie schon jetzt zu finden sind: alle Heiligen. Amen.