14.12.2011 | Jesaja 56,1-8 | Mittwoch nach dem 3. Sonntag im Advent

In den letzten Jahren ist in einer ganzen Reihe von Gemeinden eine nette Sitte aufgekommen: der sogenannte „Lebendige Adventskalender“: Jeden Tag der Adventszeit vom 1. bis zum 24. Dezember öffnet jeweils eine Familie der Gemeinde ihre Türen für andere Gemeindeglieder, Verwandte und Freunde: es wird gesungen, gefeiert und gebetet. Nun lässt sich das in einer Diasporagemeinde wie unserer St. Mariengemeinde schwer umsetzen, weil man bei uns eben nicht schnell mal in die nächste Straße gehen kann, um dort abends mal beim nächsten offenen Türchen des Adventskalenders vorbeizuschauen. Doch die Idee als solche ist wunderbar: Advent bedeutet eben gerade nicht, dass wir unter uns bleiben, sondern dass wir unsere Türen auch für andere öffnen, so macht es Gott der HERR selber in der Predigtlesung des heutigen Abends deutlich.

Seinen Advent kündigt der Herr hier an: „Mein Heil ist nahe, dass es komme, und meine Gerechtigkeit, dass sie offenbar werde.“ Und dann entfaltet er, was dieses Kommen für sein Volk, das Volk Israel, bedeutet: „Türen auf!“ – So rief es Gott den Israeliten, die damals gerade aus dem Babylonischen Exil zurückgekehrt waren, zu. Doch durch diese Türen sollten nun eben nicht bloß die Freunde, Verwandten und Nachbarn gehen, sondern Leute, die mit dem Volk Gottes eigentlich gar nichts zu tun hatten, ja, mehr noch: die nach den Bestimmungen der Gesetze des 5. Buches Mose ausdrücklich aus dem Volk Gottes ausgeschlossen waren, dort keinen Platz hatten: Eunuchen und Angehörige heidnischer Völker außerhalb Israels. Und denen sollen die Israeliten nun nach dem ausdrücklichen Willen Gottes die Türen öffnen: nein, nicht bloß zu einem kleinen privaten Kaffeeplausch, zu einem kleinen adventlichen Beisammensein. Sondern diese Leute sollen allen Ernstes ganz offiziell aufgenommen werden in das Volk Gottes, sollen Vollmitglieder dieses Volkes werden können. Da werden die Israeliten damals ganz tief durchgeatmet haben, als sie diese Botschaft des Propheten vernahmen: Das darf doch wohl nicht wahr sein, dass wir jetzt mit einem Mal tun sollen, was Gott selber uns so lange doch verboten hatte! Doch Gott gibt eine Begründung für seine Maßnahme an: Jetzt, wo sein Heil kommt, wo er kommt, um Menschen wieder neu in seine Gemeinschaft aufzunehmen, da soll keiner mehr ausgeschlossen sein. Nein, diese Maßnahme ist nicht gegen das Gottesvolk Israel gerichtet – im Gegenteil: Israel soll dadurch noch viel größer werden, soll anziehend werden für Menschen von überall her.

Die Israeliten waren verwirrt: Bisher machte doch die Weitergabe der Volkszugehörigkeit von Geschlecht zu Geschlecht unsere Identität als Israeliten, als Juden aus. Darum sollte doch niemand aufgenommen werden, der sich von vornherein der Möglichkeit beraubt hatte, Nachkommen zu zeugen. Darum sollte niemand aufgenommen werden, der eben nicht in dieser Generationenfolge jüdischer Väter und Mütter stand. Wenn das nun wegfiel, worin bestand dann eigentlich noch unsere Identität? Gott antwortet: Was euch miteinander künftig verbindet, ist allein das gemeinsame Achthaben auf mein Wort, die Einhaltung meiner Gebote, ja, ganz besonders die Einhaltung des Sabbatgebotes. Wer zu meinem Volk gehört oder gehören will, soll dies dadurch zum Ausdruck bringen, dass er den Sabbat heiligt, dieses ganz besondere Geschenk des Ruhetages, das ich euch gemacht habe.

Gott hat sein Wort gehalten, hat sein Heil, seine Gerechtigkeit zu uns Menschen gesandt in seinem Sohn Jesus Christus. Der wird als Kind im Stall von Bethlehem geboren, der stirbt am Kreuz – für alle. „Euch ist heute der Heiland geboren“, ja „also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab.“ Und was das bedeutet, das mussten auch damals die Glieder der ersten christlichen Gemeinde, allesamt Juden, mühsam lernen. Das waren sie doch, Jesaja 56 hin oder her, immer noch gewohnt, unter sich zu bleiben, und auch wenn Jesus seine Apostel doch in alle Welt geschickt hatte, kam man erst einmal gar nicht unbedingt auf die Idee, die Botschaft von Christus sehr weit über Jerusalem hinaus auszubreiten, Menschen in die Gemeinschaft mit Christus zu rufen, die im Gottesvolk des Alten Bundes keinen Platz gefunden hätten. Und so muss Gott selber der ersten christlichen Gemeinde ein wenig auf die Sprünge helfen: Den Philippus schickt er nach Gaza, wo er einem Eunuchen aus Äthiopien begegnet, dem gerade der Zugang zum jüdischen Tempel untersagt worden war. Er predigt ihm die Botschaft von Christus und tauft ihn, nimmt den Eunuchen in die Gemeinschaft der christlichen Gemeinde auf. Und dann schickt Gott gleich darauf den Petrus zum heidnischen Hauptmann Cornelius, leitet ihn dazu an, auch diesen Heiden zu taufen, zu tun, was er, Gott selber, doch schon in Jesaja 56 angekündigt hatte. Was verband nun all diejenigen, die neu zum Gottesvolk des neuen Bundes hinzukamen? Es war das gemeinsame Hören auf das Wort der Apostel, der gemeinsame Glaube an das Kommen Gottes in Jesus Christus, die gemeinsame Feier des Gottesdienstes, des Heiligen Mahles. Ethnischer Hintergrund oder gar Zeugungsfähigkeit spielten da nun keinerlei Rolle mehr.

Nun mag es den Anschein haben, als sei das, was Gott in Jesaja 56 seinem Volk verkündigt, längst abgehakt, längst umgesetzt, längst Wirklichkeit geworden. Doch tatsächlich sind die Worte, die Gott damals seinem Volk Israel verkündigen ließ, für uns genauso aktuell wie damals: „Türen auf!“ – So ruft es auch uns Gott immer wieder von Neuem zu. Gewiss, wenn wir auf unsere Gemeinde schauen, dann haben wir unsere Türen in der Tat immer wieder geöffnet, weit geöffnet, sind Menschen durch diese Türen in unsere Mitte gekommen, von denen wir früher noch nicht einmal geträumt hätten. Doch so ganz unbekannt ist uns die andere Tendenz auch nicht: Es reicht, es ist genug, wir wollen unter uns bleiben, wollen keinen anderen bei uns hereinlassen. Wo kommen wir denn hin, wenn mit einem Mal jeder bei uns zu Hause sein darf?

Doch Gott erinnert auch uns an sein großes Kommen, das auch uns noch bevorsteht, an das Kommen, bei dem er endgültig einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird, in denen Gerechtigkeit wohnt. Und angesichts dieses Kommens kann es auch für uns nur darum gehen, so viele wie möglich in unsere Mitte, in die Mitte des Gottesvolkes aufzunehmen. Und da haben dann eben nicht bloß Familien mit Kindern ihren Platz – ja, natürlich haben sie den auch, Gott sei Dank. Sondern da haben in unserer Mitte auch diejenigen ihren Platz, die keine Kinder haben und denen die Gemeinde in besonderer Weise zu ihrer Familie geworden ist. Ja, wie viel Segen empfangen wir hier in unserer Gemeinde gerade auch durch Menschen, die selber keine Kinder haben und sich dafür in besonderer Weise hier bei uns mit einbringen! Ja, es gibt ganz unterschiedliche Weisen, sein Leben als Christ zu führen, ob nun ledig oder verheiratet, so sagt es uns auch Jesus, nimmt auf, was Jesaja damals schon seinem Volk verkündigte. Und erst recht sollen auch unsere Türen ganz weit offen stehen für die Fremden, die den Weg, zu Christus, ihrem Herrn gefunden haben. Volkszugehörigkeit, Nationalität, Sprachkenntnisse spielen keine Rolle, wo Menschen durch die Taufe mit Christus, dem wahren Weinstock, als Reben verbunden werden.

Und ein besonderes Erkennungszeichen haben auch wir als Christen: Es ist nicht mehr der Sabbat, so macht es der Apostel Paulus deutlich. Doch in mancherlei Hinsicht hat für uns Christen tatsächlich der Sonntag diese Funktion des Sabbats übernommen: Die Art und Weise, wie wir den Sonntag gestalten, ist mittlerweile auch zu einer Art von Erkennungszeichen für uns Christen geworden: Das fällt auf, wenn wir am Sonntagmorgen zur Kirche gehen, statt uns gleich zum Brunch zu begeben oder uns mit Freunden zu treffen. Das fällt auf, wenn uns die Begegnung mit Christus im Heiligen Abendmahl wichtiger ist als alle anderen möglichen Termine. Ja, ich weiß, es kann ganz praktische Gründe dafür geben, dass Menschen beispielsweise nur dazu in der Lage sind, unsere Abendgottesdienste zu besuchen, weil sie sonntags arbeiten müssen. Ich kann das dritte Gebot auch dadurch befolgen, dass ich immer mittwochs zum Gottesdienst gehe, wenn es sonst nicht anders geht. Doch sollten wir insgesamt als Christen die Bedeutung des öffentlichen Gottesdienstes am Sonntagmorgen nicht unterschätzen: Christlicher Glaube kann niemals nur Privatglaube sein, ist immer eingebunden in die Gemeinschaft des Gottesvolkes, das sich um Gottes Altar versammelt. Gott geb’s, dass auch in Zukunft noch mehr Menschen den Weg durch unsere geöffneten Türen in unsere Mitte, und das heißt: zu Christus finden. Ja, Gott geb’s, dass wir gerade so in unserer Gemeinde das ganze Jahr über Advent feiern. Amen.