20.01.2010 | Apostelgeschichte 15, 22-31 (Mittwoch nach dem 2. Sonntag nach Epiphanias)

MITTWOCH NACH DEM 2. SONNTAG NACH EPIPHANIAS – 20. JANUAR 2010 – PREDIGT ÜBER APOSTELGESCHICHTE 15,22-31

Und die Apostel und Ältesten beschlossen samt der ganzen Gemeinde, aus ihrer Mitte Männer auszuwählen und mit Paulus und Barnabas nach Antiochia zu senden, nämlich Judas mit dem Beinamen Barsabbas und Silas, angesehene Männer unter den Brüdern. Und sie gaben ein Schreiben in ihre Hand, also lautend: Wir, die Apostel und Ältesten, eure Brüder, wünschen Heil den Brüdern aus den Heiden in Antiochia und Syrien und Zilizien. Weil wir gehört haben, dass einige von den Unsern, denen wir doch nichts befohlen hatten, euch mit Lehren irregemacht und eure Seelen verwirrt haben, so haben wir, einmütig versammelt, beschlossen, Männer auszuwählen und zu euch zu senden mit unsern geliebten Brüdern Barnabas und Paulus, Männer, die ihr Leben eingesetzt haben für den Namen unseres Herrn Jesus Christus. So haben wir Judas und Silas gesandt, die euch mündlich dasselbe mitteilen werden. Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzuerlegen als nur diese notwendigen Dinge: dass ihr euch enthaltet vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, tut ihr recht. Lebt wohl!
Als man sie hatte gehen lassen, kamen sie nach Antiochia und versammelten die Gemeinde und übergaben den Brief. Als sie ihn lasen, wurden sie über den Zuspruch froh.

Darf man als Christ eine Bluttransfusion empfangen? Wenn man zur Sekte der Zeugen Jehovas gehört, darf man das nicht. Eher lassen bei den Zeugen Jehovas Eltern ihre Kinder sterben, als dass sie ihnen eine solche Bluttransfusion, etwa bei Operationen, gestatten. Und die Begründung für diese Anschauung, für dieses Verbot finden die Zeugen Jehovas allen Ernstes in den Worten unserer heutigen Predigtlesung aus dem 15. Kapitel der Apostelgeschichte, dem Brief der Apostelversammlung in Jerusalem an die Christen in Antiochia. Davon, dass man sich vom Blut enthalten soll, ist dort die Rede. Nun ja, an Bluttransfusionen hatten die Apostel damals gewiss nicht gedacht; aber wenn es darum geht, die eigenen Mitglieder mit immer neuen sonderbaren Anweisungen bei der Stange zu halten, erweist sich eben auch ein solcher Vers als willkommener Beleg für die Schaffung von neuen Gesetzen, die auf dem Weg zur ewigen Seligkeit eingehalten werden müssen.
Und damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun in der Tat schon ganz zentral bei dem, worum es hier im 15. Kapitel der Apostelgeschichte in Wirklichkeit geht – nämlich um das genaue Gegenteil dessen, was die Zeugen Jehovas aus diesen Versen gemacht haben. Sehr sorgfältig hat Lukas seine Apostelgeschichte komponiert; nicht zufällig steht der Bericht von der Apostelversammlung in Jerusalem genau in der Mitte des gesamten Buches, weil hier eine Entscheidung fällt, die für den Fortbestand der Kirche Jesu Christi bis heute von maßgeblicher Bedeutung geblieben ist. Ja, auch wenn man das beim ersten Hinhören den Versen unserer Predigtlesung gar nicht gleich entnehmen konnte: Es handelt sich hier um einen der bedeutendsten Beschlüsse und damit auch um einen der bedeutendsten Briefe der gesamten Weltgeschichte, was uns hier gerade zu Ohren gekommen ist.
Bemerkenswertes war zuvor in Antiochia, einer Stadt, gelegen im heutigen Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien an der Mittelmeerküste, damals einer der größten Städte des römischen Weltreiches, geschehen: Menschen, die nicht aus dem Judentum stammten, waren dort in die christliche Gemeinde aufgenommen worden, ohne dass sie zuvor beschnitten worden waren, ohne dass sie sich damit auf die Einhaltung des alttestamentlichen Gesetzes verpflichten mussten. Bisher stammten die Glieder der christlichen Gemeinde weitestgehend aus dem Judentum selber oder aus dem Kreis derer, die sich schon zuvor durch Beschneidung dem jüdischen Glauben angeschlossen hatten. Doch nun kamen mit einem Mal dort in Antiochia Menschen in die christliche Gemeinde, die zuvor keine direkte Berührung mit dem Judentum hatten. Und, so stellten es Paulus und Barnabas fest, die dort in der Gemeinde tätig waren, diese Menschen mussten nicht erst Juden werden, um dann Christen werden zu können, sondern konnten den Weg in die christliche Gemeinde gehen ohne den Umweg über die Beschneidung.
Was für uns heute so selbstverständlich erscheint, dass wir uns über diese Frage gar nicht mehr groß den Kopf zerbrechen, war damals so revolutionär, dass nicht wenige Glieder der christlichen Gemeinde in Jerusalem durch diese neue Praxis den Bestand der christlichen Kirche insgesamt gefährdet sahen: Wer Heiden ohne Beschneidung in die christliche Gemeinde aufnimmt, der betreibt damit gleichsam die Entwurzelung der christlichen Kirche, der bestreitet damit, dass Leben in der Gemeinschaft mit Gott doch nur im Rahmen der guten Ordnungen der Gesetze des Alten Testaments möglich ist! Und so waren einige Glieder der Jerusalemer Gemeinde nach Antiochia gefahren und hatten dort den Heidenchristen in der Gemeinde deutlich zu machen versucht, dass sie sich dringendst beschneiden lassen müssten, wenn sie denn auch an dem Heil Anteil bekommen wollten, das denen verheißen ist, die zu Gottes Volk gehören. Das führte in Antiochia zu einem „nicht geringen Streit“, wie St. Lukas den Krach so schön zurückhaltend umschreibt, der daraufhin zwischen den selbsternannten Missionaren aus Jerusalem auf der einen Seite und Paulus und Barnabas auf der anderen Seite dort in Antiochia entstand.
Am Ende des Krachs schickt die Gemeinde Paulus und Barnabas nach Jerusalem, damit dort die ganze Frage im Kreis aller Apostel und Verantwortlichen geklärt werden soll. Heiß gerungen wurde dort in Jerusalem um diese Frage, bei der, wie gesagt, letztlich nicht weniger als die Zukunft der christlichen Kirche auf dem Spiel stand: Sind die Christen nur eine jüdische Sondergruppierung, oder ist die Kirche eine Gemeinschaft, die Juden und Heiden in gleicher Weise Raum bietet, weil nicht mehr die Einhaltung von Gesetzen, sondern allein der Glaube an Christus die Zugehörigkeit zum Heil eröffnet? Am Ende der Beratungen steht keine Kampfabstimmung, kein fauler Kompromiss: Nein, das Zeugnis der Propheten des Alten Bundes und das Zeugnis der Apostel führt die Versammlung dahin, einmütig zu bekennen, dass Paulus und Barnabas mit ihrer Lehre und Praxis Recht haben: Heiden brauchen künftig nicht beschnitten zu werden, wenn sie sich taufen lassen wollen; ihnen kann und darf nicht die Einhaltung der Gesetzesbestimmungen des Alten Testaments auferlegt werden. Nicht die Befolgung des Gesetzes, sondern allein die Gnade Gottes macht sie und alle Christen selig.
Eine ganz andere Frage ist die, wie nun ganz praktisch das Zusammenleben von Christen, die aus dem Judentum und die aus dem Heidentum stammen, geregelt werden soll: Wenn erst einmal klar ist, dass niemand, auch kein Judenchrist, durch die Einhaltung des Gesetzes vor Gott richtig dasteht, kann man sich natürlich darüber Gedanken machen, worauf die Heidenchristen auch verzichten können, um den Judenchristen nicht unnötigen Anstoß zu bereiten. Sie müssen nicht alles, was sie grundsätzlich dürfen, auch tatsächlich praktizieren, wenn sie damit das Zusammenleben mit denen belasten, die sich mit solch einer neuen Praxis schwertun. Und so greift die Versammlung in Jerusalem auf Bestimmungen zurück, die schon im Alten Testament für Fremde galten, die inmitten des jüdischen Volkes lebten: Auch sie sollten auf das Essen von Fleisch verzichten, das fremden Göttern geopfert worden war; auch sie sollten keine Eheschließungen zwischen Blutsverwandten vornehmen und keine Speisen zu sich nehmen, in denen sich noch Tierblut befand. Nicht für alle Christen soll diese Bestimmung gelten, sondern nur für die Heidenchristen in der Gegend von Antiochia; nicht das Heil sollen sich diese Christen durch die Befolgung dieser Bestimmungen verdienen, sondern damit das praktische Zusammenleben mit Brüdern und Schwestern anderer Herkunft in der Gemeinde ermöglichen.
Genau diese Entscheidungen fassen die Beteiligten bei der großen Versammlung in Jerusalem in einem kurzen Brief zusammen und schicken diesen Brief nicht einfach mit der Post los, sondern lassen ihn persönlich von einigen Vertretern der Versammlung überbringen und vorlesen. Um den Vorteil persönlicher Kommunikation wusste man auch schon damals vor 2000 Jahren – und siehe da, genau so, wie es die Absender sich erhofft hatten, geschieht es dann auch: Die Empfänger empfinden diesen Brief nicht als Einschränkung ihrer Freiheit, sondern als Trostschreiben und freuen sich über diese gute, geistliche Lösung.
Nein, nicht im Traum wären die Verfasser dieses Briefes auf die Idee gekommen, Christen in Deutschland damit Bluttransfusionen zu verbieten. Sie wollten gerade keine neuen Gewissensbelastungen und Heilsbedingungen schaffen, sondern mit diesem Schreiben im Gegenteil genau das Zentrum der christlichen Heilsbotschaft sichern: Dass wir ohne jede Bedingung, ohne jedes Mittun auf unserer Seite allein aus Gnaden um Christi willen allein durch den Glauben gerettet werden. Und wo diese Grundlage feststeht, kann man dann anschließend überlegen, wie man in christlicher Liebe miteinander verfährt.
Ja, hochaktuell sind diese Worte aus der Apostelgeschichte auch für uns heute, nicht bloß, weil sie historisch die Grundlage dafür sind, dass wir uns heute Abend als Heidenchristen hier in Berlin zum Gottesdienst versammeln. Sondern hochaktuell sind diese Worte aus der Apostelgeschichte auch für uns heute, weil die Kirche Jesu Christi immer und immer wieder in der Gefahr steht, das Geschenk des ewigen Lebens doch wieder an irgendwelche Bedingungen zu knüpfen, die Gewissen von Menschen an die Einhaltung von bestimmten Vorschriften zu binden. Das muss nicht unbedingt so plump geschehen wie bei den Zeugen Jehovas oder wie bei manchen christlichen Gruppierungen in der früheren Sowjetunion, bei denen es schon als Sünde gelten konnte, einen Fernseher zu besitzen oder gar nichtchristliche Bücher zu lesen. Das kann auch viel feiner geschehen, dass man die Rettung des Menschen mit seiner Willensentscheidung verknüpft, vielleicht auch mit irgendwelchen emotionalen Erfahrungen, die ein Christ angeblich machen muss, wenn er denn ein wirklicher Christ sein will. Nein, so ruft es uns der Heilige Geist, der auch damals in der Apostelversammlung in Jerusalem am Werke war, auch heute zu: Ihr werdet selig allein aus Gnaden; ihr braucht dabei nicht mitzuwirken und könnt es auch gar nicht. Ihr seid damit ganz freie Menschen. Aber wenn andere Christen in der Gemeinde noch Schwierigkeiten haben, von dieser Freiheit so ganz und gar in ihrem Leben Gebrauch zu machen, dann bereitet ihnen keinen Anstoß, dann führt ihnen nicht demonstrativ vor, wie frei ihr doch seid. Versucht sie in Liebe zu gewinnen, auch dadurch, dass ihr vielleicht auf Dinge verzichtet, die doch eigentlich keine Sünde sind und doch den Bruder oder die Schwester verletzen würden. Ja, genau so hat es dem Heiligen Geist damals in Jerusalem gefallen, und so gefällt es ihm auch heute noch, wenn genau dies in der christlichen Gemeinde verkündigt und praktiziert wird – auch hier in Berlin-Zehlendorf. Amen.