01.08.2010 | Philipper 3, 7-14 (9. Sonntag nach Trinitatis)

9. SONNTAG NACH TRINITATIS – 1. AUGUST 2010 – PREDIGT ÜBER PHILIPPER 3,7-14

Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.
Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.

Heute will ich euch in meiner Predigt lieber nicht sagen, was der Apostel Paulus hier in der Epistel des heutigen Sonntags sagt. Denn der gebraucht hier in unserer Epistel einen uns wohlbekannten ziemlich vulgären Kraftausdruck, der mit s-c-h-e-i anfängt und mit ß-e aufhört. Nein, ich verzichte nicht deswegen darauf, dieses Wort auszusprechen, weil sich einige von euch dann vielleicht ziemlich aufregen würden und sich noch mehr in ihrer Auffassung bestätigt fühlen würden, dass der Pastor sich in seinen Predigten sprachlich immer wieder mal im Ton vergreift. Sondern ich verzichte deswegen darauf, dieses Wort auszusprechen, weil ihr dann nach dieser Predigt vermutlich nur noch darüber sprechen würdet, dass der Pastor sich getraut hat, auf der Kanzel das Sch-Wort zu gebrauchen, und den eigentlichen Aufreger unserer heutigen Predigtlesung gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen würdet. Denn der eigentliche Aufreger dessen, was Paulus hier schreibt, besteht doch darin, worauf Paulus diesen Kraftausdruck denn anwendet, der hier in unserer Lutherübersetzung mit dem Wort „Dreck“ nun doch sehr vornehm umschrieben wird, ja, warum und wozu Paulus denn Schei.. sagt.
Wenn uns selber dieses Sch-Wort herausrutscht, dann wohl meistens, weil uns gerade irgendeine Tätigkeit gründlich misslungen ist, weil wir uns über eine Nachricht gewaltig geärgert haben, weil wir damit unserem Missfallen darüber Ausdruck verleihen, dass da offenbar aus unserer Sicht etwas gerade ganz kräftig schiefgelaufen ist. Paulus hingegen hat scheinbar überhaupt keinen Anlass dazu, mit solch einem vulgären Kraftausdruck um sich zu schmeißen, ja, ihn sogar noch schriftlich niederzulegen. Denn er wendet das Sch-Wort an auf sein früheres Leben, das vorbildlicher scheinbar kaum sein konnte: Untadelig war sein Leben gewesen, so behauptet er es in dem Vers, der unserer Predigtlesung unmittelbar vorangeht; alle Bestimmungen des Gesetzes des Alten Testaments hatte er eingehalten, stand scheinbar mit völlig weißer Weste da vor Gott, nein, da gab es nichts, was er irgendwie verdrängen oder vertuschen musste. Er war voll korrekt, wie man das heutzutage wohl formulieren würde.
Doch dann machte der Paulus in seinem Leben eine Erfahrung, die sein gesamtes bisheriges Koordinatensystem völlig auf den Kopf stellte, ihn dazu veranlasste, sein gesamtes bisheriges Leben noch einmal ganz neu zu bewerten – mit eben diesem Ergebnis, dass er für seine größten Pluspunkte und Erfolge im Leben nur noch einen Kraftausdruck übrig hatte. Und diese Erfahrung, die Paulus zu solch einer Neubewertung veranlasste, war die Begegnung mit dem auferstandenen Christus vor den Stadttoren von Damaskus. Da erfuhr der Paulus nicht bloß, dass er sich ganz schwer geirrt hatte mit seiner Auffassung, dass es Blödsinn sei zu behaupten, dass dieser Jesus von Nazareth wieder von den Toten auferstanden sein könnte. Sondern da machte der Paulus eine noch viel tiefer gehende Erfahrung, die sich letztlich in der ganz kurzen Formel zusammenfassen lässt: Ohne Christus – alles Schei..
Dieses sehr eingängige Urteil des Apostels beruht natürlich auf einer ganz bestimmten Voraussetzung, die wir uns zunächst einmal klar machen müssen: Es beruht auf der Voraussetzung, dass wir uns mit unserem Leben vor Gott zu verantworten haben. Würde diese Voraussetzung nicht stimmen, dann wäre auch das Urteil des Apostels Paulus völlig unsinnig: Wenn mich Gott am Ende nicht nach meinem Leben fragt, dann tue ich gut daran, einfach drauflos zu leben, so viel Spaß und gute Unterhaltung im Leben mitzunehmen, wie ich nur irgendwie kann. Dann ist es letztlich völlig egal, wie ich mein Leben führe, dann ist es eben mein Ding, ob mir Karriere, Familie, Spaß, ein Hobby, die jeweils neuste Freundin oder was auch immer das Wichtigste im Leben ist. Dann habe ich nicht den geringsten Grund dazu, eine bestimmte Lebensausrichtung mit einem Kraftausdruck zu belegen.
Doch wenn ich am Ende meines Lebens – und keiner von uns weiß, bitteschön, wann das bei ihm der Fall sein wird – wenn ich am Ende meines Lebens vor Gott Rechenschaft abzulegen habe, wenn sich am Ende meines Lebens vor Gottes Richterstuhl die alles entscheidende Frage stellt, ob ich mein Leben verfehlt habe oder nicht, dann sieht die Geschichte schon ganz anders aus. Dann ist tatsächlich letztlich nur noch eines wichtig: Ob und wie ich in Gottes Augen richtig dastehe, ja, was denn nun Gott dazu veranlassen könnte, mich für immer in seiner Gemeinschaft leben zu lassen. „Gerechtigkeit“, so nennt das der Apostel Paulus hier mit einem Fachausdruck in unserer Epistel.
Und auf diesem Hintergrund wird nun verständlich, warum der Apostel Paulus auf sein frommes Leben als Pharisäer, auf seine ehrlichen und für jeden Außenstehenden beeindruckenden Bemühungen, Gottes Gesetz möglichst vollständig einzuhalten, allen Ernstes diesen Kraftausdruck anwendet, den ich hier nicht weiter zu erläutern brauche: Ein Irrweg, ein Irrsinn ist es zu glauben, ich könnte Gott mit meinen guten Werken, mit meinem frommem Lebenswandel, mit meinen Bemühungen, Gottes Gebote zu halten, so sehr beeindrucken, dass er deswegen auf die Idee käme, mich einmal in den Himmel zu lassen. Das alles reicht nicht, um in Gottes Augen richtig dazustehen, ja mehr noch: Wenn ich mich darauf in meinem Leben verlasse, dann blende ich damit zugleich die einzige Möglichkeit aus, um tatsächlich vor Gott bestehen zu können: dadurch, dass ich mit Christus verbunden bin und in seiner Gemeinschaft lebe. Und dann geht es eben nicht mehr bloß darum, dass es vielleicht ein bisschen suboptimal ist, ein Leben zu führen, in dem ich glaube, am Ende ganz gut alleine mit Gott klarkommen zu können. Sondern dann ist eine jede Lebensausrichtung, in der Christus und das Leben in der Gemeinschaft mit ihm nicht im Zentrum stehen, mit den Worten des Apostels gesprochen, Schei..
Und das gilt eben nicht bloß für das Leben des heiligen Paulus damals – das gilt auch heute noch für dein und mein Leben, für das Leben eines jeden Menschen, ja, genau das ist es, was die Worte des Apostels auch für uns so hochaktuell macht:
Zurzeit läuft im Fernsehen auf bestimmten Sendern ein Werbespot der Deutschen Versicherer. Dabei wird verschiedenen Menschen auf der Straße die Frage gestellt: Was ist das Wichtigste in Ihrem Leben? Die Antworten kann man sich unschwer vorstellen: „Spaß haben“, sagt der erste und fährt mit seinem Skateboard davon. „Meine Familie“, „Karriere“, „finanzielle Sicherheit“, „Fußball“, „Gesundheit“, „Arbeit“, „das Leben genießen“ sind andere Antworten, die man auf der entsprechenden Website im Internet nachlesen kann. Verständlich sind diese Antworten, scheinbar so naheliegend. Und doch – wenn das wirklich alles ist, wenn das allein das Wichtigste in deinem Leben sein sollte, dann gilt auch dafür das Urteil des Apostels: Alles Schei..
Um es noch einmal klarzustellen: Es ist nicht so, dass Familie grundsätzlich Mist wäre, dass Gesundheit grundsätzlich Mist wäre, dass Karriere oder Arbeit oder finanzielle Sicherheit, dass auch Spaß zu haben und das Leben zu genießen Mist wäre. Aber wenn mir das alles so wichtig wird, dass Christus in meinem Leben höchstens noch eine kleine Nebenrolle spielt, wenn das ganz und gar zu meinem Lebensinhalt wird, dann wird es nicht bloß schwierig, dann gilt auch für dies alles das Kraftwort des Apostels, weil es mich davon abhält, mein Leben ganz auf den auszurichten, der mich allein in Gottes letztem Gericht zu retten vermag.
Also noch einmal: Wenn du in deinem Leben jede Menge Spaß hast, wenn in deinem Leben beruflich und privat alles wunderbar läuft und du Christus aus deinem Leben draußen vorlässt, dann ist dein scheinbar so gutes Leben in Wirklichkeit doch Schei.. Wenn du meinst, du hättest für Christus in deinem Leben keine Zeit, weil es da so viele andere Dinge gibt, die für dich wichtiger sind als er, dann sind all diese Dinge letztlich für dich doch Schei.. Ja, selbst wenn du glaubt, Gott sei darum mit dir und deinem Leben zufrieden, weil du solch ein anständiges Leben führst, regelmäßig zur Kirche gehst und dich auch ansonsten für deine Gemeinde engagierst, wenn du glaubst, du könntest dies alles Gott am Ende deines Lebens als Pluspunkt vorweisen, dann trifft selbst darauf der Kraftausdruck des Apostels zu. Denn all das hindert dich daran, wahrzunehmen, dass du ganz und gar auf Christus allein, auf seine Gnade, auf das Leben in seiner Gemeinschaft angewiesen bist.
Und von daher wollen wir nun auch nicht länger darüber nachdenken, was wäre, wenn Christus in unserem Leben keine Rolle spielen würde, sondern wollen es nun zurücklassen, wegspülen, uns nicht unnötig damit beschäftigen, womit es sich letztlich doch gar nicht zu beschäftigen lohnt.
Schauen wollen wir vielmehr auf das Leben, das dem Apostel Paulus damals vor den Stadttoren von Damaskus ganz neu aufging und das seit unserer Taufe doch in Wirklichkeit auch unser Leben ist, schauen wollen wir auf das Leben, von dem her überhaupt erst erkennbar wird, warum ein Leben ohne Christus letztlich eben ein völlig verfehltes Leben ist, ganz gleich, wie viel wir in diesem Leben auch geleistet haben mögen.
Das erste und wichtigste, was wir über dieses neue Leben sagen können, ist dies: Wir können uns dieses Leben weder aussuchen noch verdienen, es widerfährt uns, es bricht in unser Leben hinein, sodass wir nur rückblickend staunend feststellen können, was da eigentlich mit uns geschehen ist. „Ich bin von Christus Jesus ergriffen“, so formuliert es der Apostel Paulus selber, ja, Christus hat mich längst gepackt, längst bevor ich angefangen hatte, mich nach ihm auszustrecken. Passend zur gerade stattfindenden Leichtathletik-Europameisterschaft gebraucht der Apostel hier ein Bild aus dem Sport: Da läuft ein Läufer allein seinen Weg, aber von hinten kommt ein anderer Läufer immer näher an ihn heran, holt ihn ein und überholt ihn schließlich. Genau das, sagt Paulus, ist in meinem Leben geschehen: Ich bin allein gelaufen, doch dann ist Christus, ohne dass ich es gemerkt habe, von hinten an mich herangelaufen, hat mich eingeholt und überholt und mich damit in seine Nachfolge gerufen. Ja, eingeholt hat Christus uns schon am Tag unserer Taufe; da ist er in unser Leben hineingekommen, hat sich mit uns verbunden und läuft uns seitdem voran. Aber es mag uns in unserem Leben dennoch so ergangen sein, dass wir nicht in seiner Spur geblieben sind, dass wir nicht den Anschluss an ihn gehalten haben. Doch Christus gibt uns deswegen nicht auf, der ist auch weiter hinter uns hergelaufen, hat uns in unserem Leben immer und immer wieder eingeholt, überholt, uns immer wieder neu die Möglichkeit gegeben, uns an seine Fersen zu heften. Ja, dass wir Christen sind, dass wir an Christus glauben und mit ihm leben, das liegt an ihm allein, an ihm, der in unser Leben hineingekommen und es damit ganz neu gemacht hat.
Das Zweite, was wir über dieses neue Leben sagen können, ist dies: Christsein heißt nicht bloß, dass ich an Christus denke und das für richtig halte, was er so gesagt und getan hat. Sondern Christsein heißt, so formuliert es der Apostel hier: „in Christus gefunden werden“. Es geht also um eine Lebensgemeinschaft mit Christus, die an dem Tag begonnen hat, an dem ich getauft worden bin, an dem ich Christus angezogen habe wie ein Gewand. Seitdem werde ich „in Christus gefunden“. Aber ich weiß eben auch, wo ich Christus nun weiter finden kann, wo ich weiter mit ihm verbunden werden kann: nein, nicht in meinem Schlafzimmer, nicht auf der Datsche, nicht im Wald, sondern hier an seinem Altar, hier, wo ich seinen Leib und sein Blut empfange, hier, wo sich immer wieder die Verheißung unseres Herrn erfüllt: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.“ Nein, nicht nur in Gedanken werde ich in den Sakramenten mit Christus verbunden, sondern ganz real. Hier im Sakrament darf ich sie schon erfahren, die Kraft seiner Auferstehung, weil ich an seinem Auferstehungsleben ganz konkret Anteil erhalte. Aber ich werde eben durch die Taufe, durch das Heilige Mahl auch hineingezogen in die Leidensgemeinschaft mit meinem Herrn Jesus Christus. Ich komme auf keinem anderen Wege am Ziel meines Lebens, im Leben der Auferstehung an, als Christus, mein Herr, auch: durch Leiden und Tod hindurch. Ja, durch deine Taufe gewinnt auch all das Schwere, was du in deinem Leben erfährst, noch einmal einen ganz neuen und viel tieferen Sinn: Es ist eben nicht bloß Pech oder unbegreifliches Schicksal, sondern es ist für dich der Weg, auf dem Christus dich Seite an Seite mit ihm zu seinem Ziel führt, von dem her du dann auch einmal all das begreifen wirst, was für dich jetzt noch so unbegreiflich bleibt.
Und damit sind wir schon bei dem Dritten, was Paulus hier über das neue Leben des Christen schreibt: Wir sind in diesem Leben immer noch unterwegs. Gewiss, wir sind schon von Christus eingeholt, von ihm gepackt und ergriffen, wir werden schon in ihm gefunden. Aber zugleich sind wir eben noch nicht am Ziel. Und eben darum ist es so wichtig, dass wir dieses Ziel immer wieder vor Augen haben und uns durch nichts und niemand davon abbringen lassen, unser Leben auf dieses Ziel auszurichten. Wieder gebraucht Paulus hier ein Beispiel aus der Leichtathletik: Wenn ein Läufer nach dem Startschuss im Endlauf losgelaufen ist, wird er sich nicht noch mal umgucken, ob er vielleicht an seinem Startblock sein Handy hat liegen lassen. Und er wird auch nicht während des Laufes kurz mal von der Bahn gehen, um sich was zu trinken zu holen oder sich mit seiner Familie zu unterhalten. Nein, wenn der Startschuss gefallen ist, dann hat er nur noch eins vor Augen: das Ziel, das es zu erreichen gilt. Und so ist das auch bei uns Christen: Wir leben eben nicht einfach so vor uns dahin, sondern wir haben ein klares Ziel vor Augen: das ewige Leben in der Gemeinschaft mit demselben Christus, mit dem wir doch auch zugleich jetzt schon verbunden sind. Nichts soll uns davon abbringen, dieses Ziel zu erreichen, dort anzukommen. Nein, das heißt natürlich nicht, dass wir künftig 24 Stunden pro Tag in der Kirche sitzen sollen, dass wir keine Familie haben, nicht arbeiten, keine Hobbys und Freunde haben sollten. Sondern wichtig ist allein, dass die Ausrichtung unseres Lebens stimmt, wichtig ist allein, dass wir wissen, wo unser Leben hinführt und uns von nichts davon abhalten lassen, auf dem Weg zu diesem Ziel zu bleiben. Dass wir eine Familie haben, dass wir einen Beruf haben, dass wir Hobbys und Freunde, dass wir Spaß haben im Leben – all das braucht uns durchaus nicht von unserem Weg zum Ziel abzubringen. Dann können wir all dies fröhlich und dankbar genießen. Aber wenn mir all das keine Zeit mehr für Christus lässt, wenn mir all dies wichtiger ist als Christus und das Leben mit ihm – dann wird es schwierig. Denn am Ziel fällt eben die Entscheidung, ob wir dort allein ankommen oder gemeinsam mit Christus, verbunden mit ihm, und diese Entscheidung, die hat Konsequenzen, in alle Ewigkeit. Bleibe darum nur dran an Christus, lebe mit ihm – dann ist auch all das andere, was du in deinem Leben erfährst, einfach nur sch-ön. Amen.