28.12.2010 | St. Matthäus 2,13-18 | Tag der unschuldigen Kinder

Man möchte sich das alles gar nicht zu genau und realistisch vorstellen, was uns St. Matthäus im heiligen Evangelium des heutigen Tages schildert: Wie die Soldaten des Königs Herodes in Bethlehem und die Dörfer ringsum eindringen, wie sie die Häuser nach kleinen Jungen durchkämmen und diese schließlich vor den Augen ihrer Eltern mit dem Schwert abschlachten. Man möchte sich das alles gar nicht zu genau und realistisch vorstellen, was in Kriegen und Bürgerkriegen überall auf der Welt bis zum heutigen Tag immer wieder geschieht: Dass Kinder von Soldaten ermordet werden, nur weil sie der falschen Volksgruppe angehören oder weil ihre Ermordung möglicherweise dazu beiträgt, die Moral des Gegners zu schwächen. Man möchte sich das alles gar nicht zu genau und realistisch vorstellen, was sich Woche für Woche in vielen Krankenhäusern in unserem Land abspielt, wenn dort ungeborene Kinder mit einem Absauggerät in Stücke gerissen und auf diese Weise getötet werden – jedes Jahr weit über 100.000, gewiss weit mehr als tausendmal so viele, wie damals beim Kindermord in Bethlehem umgebracht wurden. Man möchte sich das alles gar nicht zu genau und realistisch vorstellen, was in diesem Jahr mit Mirko aus Grefrath und anderen Kindern in unserem Land geschehen sein mag, die eines Tages verschwanden und entweder Tage später tot aufgefunden wurden oder überhaupt nicht mehr zu finden sind. Man möchte sich das alles gar nicht zu genau und realistisch vorstellen, was in vergangenen Jahren und Jahrzehnten in Heimen und Internaten, ja, Gott sei’s geklagt, auch in vielen kirchlichen Einrichtungen, in Sakristeien und Amtszimmern geschehen ist, was auch heute verdeckt in so vielen Familien geschieht, ohne dass Außenstehende dies zunächst einmal ahnen: wie da das Leben von unschuldigen Kindern zerstört wird, selbst wenn sie physisch überleben, was Erwachsene ihnen da zur Befriedigung ihrer eigenen Triebe antun.

Nein, bis in die Details vorstellen müssen wir uns das alles auch nicht; es geht ja nicht darum, unseren Voyeurismus zu befriedigen. Aber wegschauen sollen und dürfen wir eben auch nicht, und so begeht die Kirche jedes Jahr den 28. Dezember als den Tag der unschuldigen Kinder, lässt sich an diesem Tag nicht allein an das Schicksal der von Herodes ermordeten Kinder erinnern, sondern auch an das Schicksal all der unzähligen anderen Kinder überall auf der Welt, die Opfer erwachsenen Machtwahns und Machtmissbrauchs geworden sind und auch weiter werden.

Ja, was können wir als Christen, als Kirche angesichts dieses Unfassbaren, was uns auch hier im Heiligen Evangelium geschildert wird, sagen und tun? Um es gleich vorwegzuschicken: Wir können es letztlich selber nicht begreifen, nicht einordnen, können es erst recht nicht mit irgendwelchen Appellen und Resolutionen ungeschehen machen. Was wir zunächst einmal und als erstes können, ist, mit Rahel und all den anderen Müttern und Vätern zu weinen, die darüber trauern, was ihren Kindern angetan worden ist. Was wir können, ist, mit denen zu weinen, die Opfer menschlichen, ja, in den meisten Fällen tatsächlich auch männlichen Machtmissbrauchs geworden sind und die vielleicht selber immer noch kaum dazu in der Lage sind, selber über das auch nur zu weinen, was ihnen da angetan worden ist. Was wir können, ist, auch über diejenigen zu trauern, denen unsere Gesellschaft kein Lebensrecht einräumt und deren Tötung auch nur zu erwähnen heutzutage zum Teil schon als Tabubruch gilt. Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen. Ja, es gibt Leid, angesichts dessen uns gerade auch als Christen alle Worte erst einmal vergehen.

Doch die Heilige Schrift begnügt sich nicht damit, uns zum Weinen anzuleiten. Sie stellt uns auch ganz nüchtern die Motive vor Augen, die Menschen dazu veranlassen, Kindern Gewalt anzutun: Um die Befriedigung des Bedürfnisses nach Machtausübung geht es immer wieder, darum, die Interessen des eigenen Ich durchzusetzen, ohne Rücksicht darauf, was man damit anderen antut. So können wir es bei Herodes in aller Offenheit und Brutalität beobachten: Die Sorge um die eigene Machtposition veranlasst ihn zu diesem rational kaum zu fassenden Handeln, lässt Leben und Gesundheit der Kinder als zweitrangig erscheinen im Vergleich zu den eigenen Interessen und Ansprüchen. Herodes spielt sich zum Richter über Leben und Tod über andere, wehrlose Menschen auf. Was machen wir heute Anderes, wenn wir die Beendigung des Lebens eines ungeborenen Kindes für gesellschaftlich akzeptabel erklären, wenn nur bestimmte – menschlich gewiss nachvollziehbare – Interessen auf Seiten der beteiligten Erwachsenen vorliegen? Und was ist es letztlich Anderes als furchtbarer Machtmissbrauch, was uns in diesem nun zu Ende gehenden Jahr immer wieder an Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen berichtet worden ist? St. Matthäus geht in seiner Schilderung allerdings noch einen Schritt weiter: Er macht deutlich, dass die Maßnahme des Herodes sich ja letztlich gegen Gott selbst, gegen seinen Sohn richtet, dass Herodes ihn als Bedrohung seines Lebens wahrnimmt und sich dagegen zur Wehr setzt. Und damit hält er eben auch uns einen Spiegel vor Augen: Was für Abgründe auch in unserer Seele schlummern mögen, wozu wir möglicherweise auch fähig und bereit wären, mögen wir vermutlich noch nicht einmal ahnen. Aber sehr wohl ahnen mögen wir, wie leicht auch wir dazu geneigt sind, Gottes Anspruch auf unser Leben als Bedrohung wahrzunehmen, gegen die wir uns dann entsprechend zur Wehr setzen, zumeist nicht unbedingt durch die Tötung von Kindern, aber so, dass wir zu vielem bereit sind, um uns diesen Anspruch vom Hals zu halten – angefangen damit, dass wir so leicht dazu bereit sind, Gott und uns selber etwas vorzumachen, uns selber zu belügen, weshalb wir gar nicht anders können, als uns diesem Anspruch zu entziehen.

Nein, nicht Empörung ist heute Abend angesagt, Empörung über die Untaten anderer, sondern zunächst und vor allem Erschrecken über uns selber, über unser menschliches Herz, das eben im Grunde genommen auch kein anderes ist als das des Herodes auch.

Doch nun handelt die Geschichte, die uns St. Matthäus hier erzählt, zunächst und vor allem auch von Gott. Das war allerdings auch für Matthäus gar nicht so einfach, Gott zu dem, was er hier schildert, in der rechten Weise in Beziehung zu setzen. Während er ansonsten in den ersten Kapiteln seines Evangeliums immer wieder formuliert: „Das geschah, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten“, drückt er es angesichts des Kindermords von Bethlehem vorsichtiger aus: „Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten“. Nein, von einer Absicht Gottes, dass er den Kindermord geschehen lässt, damit er dadurch ein Prophetenwort erfüllt, will Matthäus nicht sprechen. Gott will nicht den Kindermord von Bethlehem, genauso wenig wie er es will, dass bis heute Kinder ermordet, missbraucht oder abgetrieben werden. Aber natürlich kann man damit Gott aus der ganzen Geschichte nicht einfach herausziehen. Und das macht Gott selber ja auch nicht. Gewiss, hier in dieser Geschichte rettet er seinen Sohn vor dem Mord des Herodes. Aber er macht dies ja nicht, um ihm damit ein schönes, angenehmes Leben zu ermöglichen. Als Asylbewerber muss Jesus die ersten Jahre seines Lebens im Ausland verbringen, all den Kindern gleich, denen ich in Asylbewerberheimen und -lagern auch hier in unserer Stadt immer wieder begegne: angewiesen auf das Wohlwollen derer, bei denen er als Flüchtling Unterkunft fand. Und die Verschonung, die Gott seinem Sohn hier noch gewährt, bleibt eben eine sehr vorläufige: Als junger Mann wird er schließlich eben doch von den Soldaten ergriffen, nein, nicht gleich umgebracht, sondern furchtbar zu Tode gefoltert – und Gott greift nicht ein, rettet ihn nicht. Seite an Seite mit Rahel und all den weinenden Vätern und Müttern, die um ihr Kind trauern, stellt sich Gott damit, erleidet ihr Leid und ihre Trauer selber, vermag alle, die um das Leid, das ihnen oder ihren Kindern angetan worden ist, trauern, nur selber allzu gut zu verstehen. Nein, begreifen können wir es trotzdem nicht, warum Gott damals Joseph rechtzeitig die Flucht ermöglichte und die anderen Kinder sterben mussten. Begreifen können wir es auch heute nicht, warum bestimmten Menschen solches Leid widerfährt und anderen nicht. Doch eines dürfen wir wissen: Der Gott, den wir danach fragen, der ist kein teilnahmsloser Gott, der ist selber in das Leid unserer Welt hineingekommen und hat es durchlitten bis in letzter Konsequenz – nur damit Leid und Schuld und Tod im Leben von uns Menschen nicht das letzte Wort haben. Denn der Tod seines Sohnes war und ist eben unendlich mehr als ein weiteres Glied in der Kette menschlicher Verbrechen und Katastrophen:  In ihm hat Gottes Sohn selber auf sich genommen, was unsere menschlichen Herzen mit all ihren Abgründen gesagt, gedacht und auch ausgeführt haben. Heil und neues Leben hat Gott durch diesen Tod seines Sohnes geschaffen, damit das Weinen und die Trauer von Rahel nicht das letzte Wort behalten, damit diejenigen, die hier noch dem Machtmissbrauch der Stärkeren ausgeliefert waren und sind, und damit wir mit ihnen dorthin kommen werden, wo Gott einmal auch Rahels Tränen von ihren Augen abwischen wird. Amen.