31.12.2010 | Jesaja 30,8-17 | Altjahrsabend

Ganz vernünftig ist das ja eigentlich nicht, was heute Abend überall auf der Welt abläuft: 364mal im Jahr machen wir uns keine sonderlichen Gedanken darüber, wie der eine Tag endet und der nächste anfängt, nehmen es mit völliger Gelassenheit hin, dass die Uhr anzeigt, dass es wieder einmal nach Mitternacht geworden ist. Doch einmal im Jahr scheint der Übergang von einem Tag auf den anderen für uns gleichsam ein besonderes Wagnis zu sein, bei dem wir uns gerne geistlichen Beistand holen. Denn einmal im Jahr wird uns mit einem Male klar, wie brüchig der Boden ist, auf dem wir stehen, so brüchig, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass wir auf diesem Boden immer weiter laufen können, der Zukunft entgegen. Einmal im Jahr wird uns klar, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir leben, dass wir auch weiter leben werden, nehmen wir unser Leben und das Leben der Welt gleichsam aus einem gewissen Abstand heraus wahr und fragen uns aus diesem Abstand, wie es denn eigentlich nun mit uns und dieser Welt weitergehen soll.

Die Wahrnehmung der Brüchigkeit unseres Lebens, ja der Welt insgesamt führt bei denen, die sie wahrnehmen, immer wieder zu einer doppelten Erwartungshaltung, wie die Kirche denn bitteschön auf diese Brüchigkeit reagieren soll: Da gibt es die einen, die gerade an einem solchen Silvesterabend in die Kirche kommen, um sich dort Bestätigung und Ermutigung zu holen, dass sie den Weg in die Zukunft nicht allein gehen, dass sie mit dem Beistand Gottes auf diesem Wege rechnen können. Angenehmes, Beruhigendes, Mutmachendes wollen sie hier hören, wollen eine Bestätigung dafür erhalten, dass auch in Zukunft alles so weitergehen wird wie bisher, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Und da gibt es die anderen, die gerade zur Jahreswende von der Kirche erwarten, dass sie den Leuten ganz klar sagt, dass es so mit dieser Welt nicht mehr weitergehen kann, dass wir schleunigst etwas unternehmen müssen, um die Zukunft dieser Welt angesichts von Klimawandel, Kriegen und der verbreiteten sozialen Schieflage doch noch auf irgendeine Weise zu retten. Tun müssen wir etwas, bevor es zu spät ist, müssen möglichst viele Menschen dazu motivieren, bei dieser Weltrettung mitzumachen!

Schwestern und Brüder, ich werde heute in dieser Predigt weder die eine noch die andere Erwartung befriedigen können – ganz im Gegenteil! Diejenigen, die heute Abend erwarten, dass ich ihnen versichere, dass auch in Zukunft alles so weitergehen wird wie bisher, die muss ich leider enttäuschen. Dieses Versprechen kann und will ich euch nicht machen. Denn mein Auftrag besteht gerade darin, euch anzukündigen, dass sich in Zukunft in unserem Leben, ja in der Welt insgesamt nicht weniger als alles radikal ändern wird. Nein, wir erwarten nicht, dass sich diese Welt einfach allmählich immer weiter entwickeln wird, bis sie sich schließlich einmal unmerklich in ein Paradies verwandelt haben wird. Sondern wir erwarten, dass diese Welt tatsächlich ihrem Ende entgegengehen wird, wenn Christus erscheinen wird, um die Lebendigen und die Toten zu richten. Ja, auch du gehst diesem Tag des Gerichts entgegen, in dem Gott dich nicht einfach bestätigen wird und alles gut und schön finden wird, was du gesagt und getan hast. Sondern dieses Gericht wird auch dich und dein Leben radikal in Frage stellen. Nein, das ist nicht einfach nur eine nette, angenehme Botschaft.

Doch ich kann auch die andere Erwartung nicht befriedigen, dass ich euch heute Abend von der Kanzel erkläre, wie wir diese Welt vielleicht oder wahrscheinlich doch noch retten können. Gewiss ist der Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung etwas sehr Gutes und Lobenswertes; natürlich sind wir als Christen zu diesem Einsatz gerufen aus Liebe zu unseren Nächsten – denen, die schon jetzt auf dieser Welt unter ungleich schlechteren Bedingungen leben als wir, und denen, die nach uns kommen und das einmal werden ausbaden müssen, was wir hier und jetzt anrichten. Doch niemals sollen und dürfen wir bei diesem Einsatz glauben und den Eindruck erwecken, als sei es das Ziel der Kirche, die Welt mit eindringlichen Appellen und engagiertem Einsatz zu retten. Denn das wäre eine völlige Verharmlosung der Botschaft, die wir als Kirche zu verkündigen haben, die auch ich euch heute Abend zu verkündigen habe. Selbst wenn es uns gelingen sollte, diese Welt hier und da ein wenig besser zu gestalten, fällt dadurch doch die Wiederkunft Christi, sein Kommen zum Gericht, fällt damit auch die Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde nicht aus. Doch genau diese Botschaft vom kommenden Gericht und vom kommenden Richter möchten eigentlich die Wenigsten hören, weil diese Botschaft, wenn man sie denn ernst nimmt, unser ganzes Leben, so, wie wir es hier und jetzt führen, ganz grundlegend hinterfragt.

Dass man sich mit der Botschaft von Gottes kommendem Gericht nicht gerade sonderlich beliebt macht, hatte damals vor 2700 Jahren auch schon der Prophet Jesaja erfahren. Gott hatte ihn genau mit diesem Auftrag losgeschickt, dass er den Leuten dies verkündigen sollte, dass sie sich Gottes Gericht auf den Leib holen, wenn sie glaubten, seine Weisungen mit Füßen treten zu können, wenn sie glaubten, sie könnten ihre Zukunft durch politische Bündnisse und militärische Stärke sichern. Doch eben diese Botschaft wollten die Leute damals absolut nicht hören: „Redet zu uns, was angenehm ist; schauet, was das Herz begehrt!“ – So forderten sie Jesaja und die anderen Propheten auf. Etwas Nettes und Angenehmes sollte Jesaja ihnen verkündigen, etwas, was ihnen ein gutes Gefühl gab, ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit. Und weil Jesaja auf diese Wünsche seiner Zuhörerschaft nicht einging, schalteten seine Hörer ihre Ohren auf Durchzug, sodass Gott schließlich den Jesaja dazu auffordert, seine Botschaft schriftlich niederzulegen, damit spätere Generationen nachlesen könnten, was Jesaja gesagt hatte, und feststellen konnten, dass sich seine Botschaft als wahr erwiesen hatte – auch wenn sie damals zu seiner Zeit kaum einer hören wollte.

Und nicht weniger groß war die Empörung bis hin zum Königshof, als Jesaja verkündigte, wie allein noch Gottes Gericht abzuwenden sei, die Eroberung des verbliebenen kleinen Reststaates Juda durch eine ausländische Macht: Nein, nicht durch das Schmieden von Militärbündnissen sei diese Rettung noch möglich, sondern allein dadurch, dass das Volk Israel zu Gott umkehrte, selber gar nichts unternahm und seine Rettung ganz und gar Gott selber, dem Herrn der Geschichte, überließ. Völlig weltfremd klang das, was Jesaja da verkündigte: Man musste doch selber was unternehmen, musste doch selber aktiv werden, konnte doch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und auf den lieben Gott warten. Das ging doch gar nicht, das konnte doch nur schiefgehen! Doch Jesaja sagt es dem Königshof auf den Kopf zu: Wenn ihr glaubt, mit euren Plänen, mit eurer Cleverness doch noch irgendwie eure Zukunft retten zu können, werdet ihr euer blaues Wunder erleben. Ihr könnt Gottes Gericht nicht mit euren Anstrengungen entkommen!

Unbeliebt, nicht weniger als Jesaja, macht man sich auch heute auch und gerade in der Kirche, wenn man es noch wagt, vom kommenden Gericht Gottes zu sprechen, und dieses Thema nicht peinlich berührt umschifft oder schön redet. Dass Christus als Richter wiederkommen wird – ja, das steht natürlich noch im Glaubensbekenntnis; aber das kann man doch höchstens noch irgendwie bildlich verstehen, das hat doch nichts mit unseren Erwartungen für das Jahr 2011 zu tun! Und erst recht ist uns modernen Menschen doch nicht die Vorstellung zuzumuten, dass dieses Gericht, wenn es denn überhaupt stattfindet, mit etwas Anderem enden könnte als allein damit, dass Christus, der Richter, am Ende einem jeden Menschen auf die Schultern klopft und das ganz gut findet, was er oder sie in seinem Leben so alles getan hat! Doch wo die Botschaft von Gottes Gericht nicht mehr ernst genommen wird, wo man sich dieser Botschaft einfach verweigert, hat die Kirche nicht viel mehr zu bieten als etwas Kuscheltheologie und ein paar moralische Appelle, da wird dann der Dalai Lama zum protestantischen Hoftheologen und das Engagement für die Weltrettung zu einer modernen Form des Ablasshandels.

Schwestern und Brüder, es mag uns heute weithin nicht anders gehen als dem Jesaja damals, dass die Ankündigung des kommenden Gerichts Gottes bei den meisten Menschen auf taube Ohren stößt, weil für sie nur noch das der Maßstab ist, was ihrem Wohlgefühl dient oder was mit ihren gesellschaftlichen Ansichten konform geht. Doch Gott lässt sich heute von den Reaktionen der Menschen genauso wenig beeindrucken wie damals zur Zeit des Jesaja. Er bläst sein Gericht nicht deswegen ab, weil ein groß Teil der Bevölkerung dagegen ist und es blöd findet. Er schickt auch heute noch seine Boten los, dass sie den Menschen dieses Gericht ankündigen – und weh den Boten, die die Botschaft, die ihnen anvertraut ist, den Wünschen und Bedürfnissen der Hörer anpassen! Es sollen alle zumindest die Botschaft gehört haben, auch wenn sie sich ihr gegenüber am Ende verweigern.

Und darum sage ich es jetzt heute Abend auch dir: Ich weiß nicht, was das Jahr 2011 alles bringen wird, ob es für dich ein schönes und schlimmes Jahr wird, ob die Welt in diesem kommenden Jahr großen Katastrophen entgegengeht oder nicht. Aber das eine weiß ich und bezeuge es dir: Du wirst in diesem neuen Jahr dem wiederkommenden Christus näher kommen, dem, der kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten. Du wirst dem Tag näher kommen, an dem du Rechenschaft wirst ablegen müssen über alles, was du in deinem Leben gesagt, getan und gedacht hast. Du wirst dem Tag näher kommen, an dem all das, woran dein Herz in dieser Welt jetzt noch hängen mag, einmal keine Rolle mehr spielen wird, weil Christus eine ganz neue Welt schaffen wird.

Und so bleibt auch für dich und für mich allein diese eine Frage: Wie können wir in diesem kommenden Gericht Gottes bestehen? Nein, es geht nicht darum, ob und wie wir dieses Gericht aufhalten oder ob und wie wir ihm entgehen können. Darum geht es so wenig, wie es uns darum gehen kann, diese Welt vor dem wiederkommenden Christus zu retten. Nein, es geht darum, wie du bestehen kannst, wenn Christus dich einmal nach deinem Leben fragen wird.

Und die Antwort ist genau dieselbe, die Jesaja damals auch schon seinen Zuhörern gegeben hat: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen. Nein, gerettet wirst du in Gottes kommendem Gericht nicht dadurch, dass du ein netter, anständiger Mensch gewesen bist und auch nicht dadurch, dass du dich mit deiner Persönlichkeit weiterentwickelt hast. Gerettet wirst du in Gottes Gericht nicht dadurch, dass du dich in dieser Welt für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung eingesetzt hast und auch nicht dadurch, dass du viel für die Kirche getan hast. Nein, gerettet wirst du einzig und allein dadurch, dass du dein Vertrauen ganz auf ihn, deinen Herrn und Gott, setzt, dass du ihn alles machen lässt und selber gar nichts tust.

Nein, so einfach kann das doch nicht sein! – So riefen es damals die Zuhörer Jesajas dem Propheten entgegen. Nein, so einfach kann das doch nicht sein – wir müssen doch auch etwas tun, müssen doch auch unseren Beitrag dazu leisten, dass Gott uns zu Menschen erklärt, die in seinen Augen richtig dastehen, so heißt es auch heute nicht anders. Doch Gott meint es genau so, wie er es den Jesaja damals verkündigen ließ: Setzt eure Hoffnung allein auf mich, euren Gott. Ich habe eure Rettung doch schon längst geschehen lassen, als ich meinen Sohn für euch habe am Kreuz sterben lassen, als ich euch in der Taufe zu einem neuen Leben wiedergeboren habe. Das könnt ihr nicht ergänzen, das sollt ihr nicht ergänzen, und das braucht ihr auch nicht zu ergänzen. Übt einfach nur das Stillehalten ein, übt es ein, wenn ihr hier am Altar niederkniet und euch den Leib meines Sohnes in den Mund legen lasst, wenn ihr sein Blut aus dem Kelch trinkt. So und nicht anders sieht eure Rettung aus, so werdet ihr in der rechten Weise vorbereitet auf den kommenden Tag des Gerichts. Ja, was hier im Sakrament geschieht, das trägt euch dann auch hindurch über den brüchigen Untergrund eures Lebens, über die Brüchigkeit der Welt insgesamt. Und eben darum brauchen wir dem Jahr 2011 nicht mit zitternden Knien entgegenzublicken, sondern dürfen ihm an diesem Abend ganz getrost entgegensehen. Denn durch Stillesein und Hoffen werdet auch ihr stark sein, weil Christus, euer Herr, eure Stärke ist. Amen.