04.01.2009 | St. Lukas 2, 41-52 (2. Sonntag nach Weihnachten)

ZWEITER SONNTAG NACH WEIHNACHTEN – 4. JANUAR 2009 – PREDIGT ÜBER ST. LUKAS 2,41-52

Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

Wenn unsere Konfirmanden etwa zwölf Jahre alt werden, setzt bei ihnen hier in der Kirche regelmäßig eine Wanderungsbewegung ein. Saßen sie bis dahin im Gottesdienst noch zumeist brav neben ihren Eltern oder anderen Verwandten, so suchen sie sich nun mit etwa zwölf Jahren ihren eigenen Platz in der Kirche, meistens hinten links auf der Empore, wo auch die Jugendlichen sitzen, möglichst weit auch vom Zugriff des Pastors entfernt. Kinder werden Jugendliche, lösen sich allmählich aus dem Elternhaus – das ist ein ganz normaler, natürlicher Prozess, der dennoch immer wieder mit Schmerzen bei allen Beteiligten verbunden ist, weil es Eltern immer wieder so schwerfällt, ihre Kinder loszulassen, und weil die Kinder umgekehrt die Sorgen ihrer Eltern oftmals nur schwer verstehen können.
Im Heiligen Evangelium des heutigen Sonntags ist auch von einem Zwölfjährigen die Rede an der Grenze zwischen Kindheit und Jugend, am Beginn der Pubertät, von einem Zwölfjährigen, der sich ebenfalls von seinen Eltern abseilt und damit einigen Ärger hervorruft. Nein, dieser Zwölfjährige ist nicht irgendein Zwölfjähriger; es ist kein Geringerer als Christus, der Sohn des lebendigen Gottes und zugleich doch Sohn seiner Mutter Maria und seines Stiefvaters Joseph. Eine ungewöhnliche Geschichte ist es, die uns St. Lukas hier erzählt, die einzige Geschichte über Jesus zwischen seinen ersten Lebensmonaten und seinem Auftreten als etwa 30jähriger Erwachsener. Jesus in der Pubertät – der Gedanke mag uns etwas schwerfallen. Und doch ist es ein hochtröstlicher Gedanke, dass Jesus auch diese Lebensphase durchlaufen hat, gerade auch Jugendliche in ihrer Entwicklung aus eigener Erfahrung bestens verstehen kann. Und es ist zugleich aufregend wahrzunehmen, wie Jesus hier mit seinem doppelten Zuhause, das er in seiner Person in sich trägt, umgeht, wie er uns hier zeigt, wer er in Wirklichkeit ist und wie er das erste und das vierte Gebot hier in einem erfüllt. Hören wir also noch einmal genau hin, was uns St. Lukas hier berichtet:
Maria und Joseph sind auf dem Weg von Nazareth nach Jerusalem. Jedes Jahr ziehen sie als fromme Juden zur Feier des Passahfestes von Galiläa hoch in die Heilige Stadt, die während dieses Festes jedes Jahr von Pilgern überquoll, weil in ihr allein die Passahlämmer, die im Tempel geschlachtet wurden, bei der Passahfeier verzehrt werden konnten. Diesmal ziehen Maria und Joseph jedoch nicht allein nach Jerusalem. Sie nehmen ihren zwölfjährigen Sohn mit, damit auch er dieses Fest miterleben kann, damit er die Heilige Stadt kennenlernt, damit er von früher Jugend an in den Bräuchen des Glaubens zu Hause sein kann. Was muss es für Jesus bedeutet haben, als er zum ersten Mal die monumentale Anlage des Tempels sah, als er zum ersten Mal die Treppen hoch zum Tempel stieg, gemeinsam mit unzähligen anderen Pilgern! Was müssen diese Tage des Festes bei ihm für Eindrücke hinterlassen haben! St. Lukas berichtet uns bewusst nichts davon; wir sollen hier nicht anfangen zu psychologisieren. Aber ein wenig uns vorstellen, was Jesus damals gesehen und erlebt haben muss, das dürfen wir schon. Und dann sind die Festtage vorbei; der Pilgertrupp aus Nazareth und Umgebung macht sich auf den Weg zurück nach Galiläa. Nein, es ging damals nicht sehr preußisch zu; man marschierte nicht in Zweierreihen aus der Stadt, mit ständigem Durchzählen, wie es unsere Konfirmanden von den Freizeiten kennen, weil ich mir die Panik, die Maria und Joseph damals erfasste, auf unseren Fahrten ersparen will. Nein, damals verlief das alles sehr viel lockerer: Jesus hatte offenbar eine Reihe von gleichaltrigen Freunden, mit denen er die Tage über zusammen war. Als die Gruppe sich dann in Bewegung setzt, gehen Maria und Joseph selbstverständlich davon aus, dass Jesus da bei seinen Altersgenossen mitmarschiert. Erst abends bei der Karawanserei, in der man über Nacht bleiben will, bemerken Maria und Joseph das Malheur: Ihr zwölfjähriger Filius ist nicht mitgekommen – und nun sind sie schon eine Tagereise von Jerusalem entfernt! Ach, wie gut kann ich mich in Maria und Joseph hineinversetzen! Ich weiß noch, wie wir im vorletzten Jahr bei der Kinderbibelwoche mit 42 Kindern im Schwimmbad waren. Doch als ich dann draußen vor dem Schwimmbad die Kinder am Ende durchzählte, kam ich immer nur auf 41 Kinder. Ihr könnt euch vorstellen, wie ich da durch das ganze Erlebnisbad gerannt bin und die Bademeister verrückt gemacht habe, bis ich schließlich Nummer 42 fröhlich plantschend im Wellenbad fand. So einfach war die Geschichte für Maria und Joseph nicht: Die mussten erst mal wieder einen ganzen Tag zurück nach Jerusalem laufen, die ganze Zeit bergauf – und dann suchen sie nicht weniger als drei Tage lang ganz Jerusalem nach dem Knaben ab. An alle möglichen Orte denken sie – nur auf die Idee, ihn im Tempel zu suchen, kommen sie nicht. Wieso sollte ein Zwölfjähriger auch freiwillig in den Tempel gehen! Aber schließlich suchen sie ihn in ihrer Verzweiflung auch dort – und siehe da, dort sitzt er unter den Schriftgelehrten und diskutiert mit ihnen! Das kann doch gar nicht sein: Ihr süßer Zwölfjähriger führt theologische Lehrgespräche und lässt die Eltern dafür tagelang durch ganz Jerusalem hetzen! Nein, das finden Maria und Joseph überhaupt nicht witzig; aber umgekehrt war ihre Wut über das Verschwinden ihres Sohnes, wenn sie denn zwischendurch eine solche verspürt hatten, längst ganz der Sorge und nun in diesem Augenblick der Erleichterung gewichen. Aber für einen kräftigen Vorwurf reicht es immer noch: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ – So redet Maria Jesus an, nachdem sie ihre Fassung erst einmal wieder gewonnen hatte. Doch die Antwort Jesu dürfte Maria und Joseph noch fassungsloser gemacht haben, als sie ohnehin schon waren:  „Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Uns mag diese Antwort Jesu aus dem Rückblick heraus einleuchten. Maria und Joseph jedoch waren, so zeigt es uns St. Lukas hier, mit dieser Antwort erst einmal völlig überfordert. „Warum habt ihr mich gesucht?“ – Was für eine blöde Frage: Weil du unser Sohn bist, haben wir dich gesucht, ist ja wohl klar! Doch was heißt hier: „unser Sohn“: Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Wisst ihr es nicht? Habt ihr die Weihnachtsgeschichte schon wieder völlig vergessen und verdrängt? Erinnerst du dich etwa nicht mehr an den Besuch von Gabriel bei dir, liebe Mutter Maria? Hast du es etwa vergessen, lieber Vater Joseph, dass du nur Stiefvater bist, mehr nicht? Nein, sie verstanden das Wort nicht, das er ihnen sagte, so schreibt es St. Lukas hier. So sehr hatten sie sich an ihren Sohn schon gewöhnt, dass sie es sich gar nicht vorstellen konnten, dass er ihnen nur für eine Zeitlang anvertraut war, dass sie ihn früher oder später wieder loslassen, wieder hergeben sollten. Simeon hatte es Maria doch bereits im Tempel angekündigt: Auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen. Hier fängt das Schwert schon an, an ihr und in ihr zu bohren.
Schwestern und Brüder, was uns St. Lukas hier berichtet, ist keine Geschichte von einem pubertierenden Jungen, der anfängt, seine Freiheit zu testen und seine Eltern ein bisschen zu ärgern. Dass Jesus bei Gott, seinem Vater, zu Hause ist, dass er auf seine Seite gehört, das will uns St. Lukas hier ganz groß vor Augen stellen. Ja, wahrer Gott ist Jesus; der Tempel ist sein wahres Zuhause. Aber er ist zugleich auch wahrer Mensch; er wächst heran, hat gleichaltrige Freunde, fällt so wenig auf, dass Maria und Joseph nicht gleich auf den Trichter kommen, dass da jeden Morgen der lebendige Gott bei ihnen am Frühstückstisch sitzt und sein Brötchen verspeist. Und als wahrer Mensch hält sich Jesus zugleich an Gottes Gebote, ist und bleibt seinen Eltern untertan, so betont es St. Lukas hier zum Schluss ausdrücklich. Sein Ausflug in den Tempel war keine Rebellion gegen die Eltern, sondern brachte nur zum Ausdruck, dass im Zweifelsfall das erste Gebot immer über dem vierten Gebot steht: Gott steht in seiner Autorität natürlich über der Autorität der Eltern. Jesus – wahrer Gott und wahrer Mensch. Was das für seine Seele, für sein Denken, für sein Bewusstsein bedeutet hat, was er empfunden hat, als er zwölf, vierzehn, zwanzig Jahre alt war – wir wissen es nicht, werden uns da auch niemals hineinversetzen können. Nur so viel macht uns St. Lukas hier deutlich: Jesus wusste auch mit zwölf Jahren offenbar schon genau, dass er Gottes Sohn war; und von daher interessierte er sich natürlich für das Wort seines Vaters, machte es ihm Freude, sich damit zu beschäftigen, es besser kennenzulernen. Jesus fragte im Tempel, so heißt es hier ausdrücklich. Ja, er, der ewige Sohn Gottes, lernt zugleich noch dazu. Da stoßen wir an die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens – genau wie dabei, dass er, der ewige Sohn Gottes, sich seinen irdischen Eltern freiwillig unterordnet und ihnen gehorcht, er, dem doch auch seine Eltern ihr Leben verdanken!
Ja, Christus sollen wir in dieser Geschichte besser kennenlernen, wahrnehmen, dass wir ihm nicht gerecht werden, wenn wir ihn nur für einen hochbegabten Religionsphilosophen, für einen weisen Lehrer halten. Dann suchen wir ihn immer noch an der falschen Stelle, wie Maria und Joseph zunächst auch. Nein, wir finden ihn allein im Tempel, in Gottes Gegenwart, in der Gemeinschaft mit seinem Vater, mit dem er eines Wesens ist.
Und doch können wir dieser Geschichte zugleich eine Menge über unseren Umgang mit Kindern und Jugendlichen, mit unseren Konfirmanden entnehmen, dürfen sich unsere Konfirmanden zugleich in besonderer Weise in dieser Geschichte, ja, in diesem Jesus wiederfinden:
Schaut euch Maria und Joseph an, wie sie ihren zwölfjährigen Sohn hier persönlich nach Jerusalem in den Tempel bringen. Ach, wenn wir doch mehr solche Marias und Josephs in unserer Gemeinde hätten, mehr Eltern, die mit gutem Beispiel ihren Kindern vorangehen, selber ihren Glauben praktizieren und gemeinsam mit ihnen hier im Gotteshaus erscheinen! So viele unserer Konfirmanden haben es da nicht so gut wie Jesus damals, kommen ganz allein hierher, machen sich allein auf den oft so langen Weg in das Haus ihres Vaters im Himmel, der auch ihr Vater geworden ist in ihrer Heiligen Taufe. Ach, helfen wir unseren Kindern, unseren Konfirmanden, unseren Jugendlichen als Gemeinde insgesamt, diesen Weg zu gehen, nehmen wir sie mit, gehen wir ihnen als Gemeinde mit gutem Beispiel voran, machen wir ihnen Mut, diesen Weg ins Gotteshaus auch in Zukunft weiter zu gehen!
Und dann erleben wir hier bei uns auch immer wieder dieses Wunder, dass Kinder hier ins Gotteshaus, in die Gemeinde kommen, dass sie hier Fragen stellen, Antworten erhalten und dabei hier so heimisch werden, dass es sie immer wieder in die Gemeinde zieht. Ja, das kann dann auch immer wieder zu Konflikten führen mit Eltern, die dafür nur wenig Verständnis haben, wenn ihre Kinder ihnen die schöne Ruhe am Sonntagmorgen stören, wenn denen das Zusammensein in der Kirche wichtiger wird als das gemeinsame Frühstück sonntags um elf. Da geraten auch so manche unserer Konfirmanden in Konflikte zwischen dem ersten und dem vierten Gebot, die sich mitunter gar nicht so einfach lösen lassen. Ach wie gut ist es dann für sie zu wissen, dass auch Jesus genau diese Konflikte damals schon hat durchmachen müssen, dass er auch diese Spannung erfahren hat, in der nicht wenige unserer Jugendlichen auch leben! Nein, es darf uns als Kirche ja nicht darum gehen, unsere Konfirmanden und Jugendlichen gegen ihre Eltern aufzuhetzen; sie sollen ja gerade den Respekt vor ihnen behalten. Aber sie vom Haus Gottes fernzuhalten – dieses Recht haben die Eltern nicht. Da wiegt die Einladung des Vaters im Himmel allemal schwerer.
Und auch für euch, liebe Eltern und Großeltern, können die Worte des Heiligen Evangeliums eine wichtige Hilfe und Ermutigung sein: Auch euch wird es nicht erspart bleiben, eure Kinder, eure Enkel loszulassen, wenn sie größer werden, sie ihre eigenen Wege gehen zu lassen. Ihr könnt und dürft euch nicht auf die Dauer an sie klammern. Sie sind niemals euer Besitz, sondern euch immer nur von Gott anvertraut. Aber das Beste, was ihr für eure Kinder tun könnt, ist, dass ihr dafür sorgt, dass sie um ihr Zuhause bei ihrem Vater im Himmel wissen, dass ihr ihnen diesen Blick auf ihr wahres Zuhause niemals verstellt. Dann wird es auch euch leichter fallen, eure Kinder einmal loszulassen, sie ihre eigenen Wege gehen zu lassen, wenn ihr seht, dass sie bei Gott, ihrem Vater, zu Hause bleiben, dass sein Haus auch ihr Haus ist. Gott geb’s, dass wir bei der Suche nach den Kindern und Jugendlichen unserer Gemeinde immer wieder hier in der Kirche, hier im Gottesdienst fündig werden, ja, Gott geb’s, dass wir alle miteinander, ganz gleich, wie jung oder alt wir sind, wissen, zu wem wir hier ins Gotteshaus eigentlich kommen: nicht zum Pastor, nicht zu unseren Freunden, sondern zu ihm, Christus, der auch für uns ein kleines Kind und ein pubertierender Jugendlicher geworden ist, damit wir einmal für immer bei Gott zu Hause bleiben! Amen.