18.10.2009 | St. Markus 2, 1-12 (19. Sonntag nach Trinitatis)

19. SONNTAG NACH TRINITATIS – 18. OKTOBER 2009 – PREDIGT ÜBER ST. MARKUS 2,1-12

Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden - sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Vor einigen Monaten konnte man im Radio einen saudummen Werbespot für die Domäne-Baumärkte hören: Da sülzt sich ein Pfarrer mit salbungsvoller Stimme etwas von der Kanzel ab, ganz vertieft in sein Manuskript, bis er schließlich aufblickt und feststellt, dass seine Schäfchen unter der Kanzel alle verschwunden und zum verkaufsoffenen Sonntag im Domäne-Baumarkt geeilt sind. Ja, saudumm ist dieser Werbespot auf der einen Seite. Aber andererseits ist er auch ehrlich und von der Realität gar nicht so weit entfernt: Der Werbespot ist natürlich ein sehr direkter Angriff auf die Kirchen, die immer noch so altmodisch sind und es für gut halten, dass der Sonntag nicht in einen normalen Arbeitstag umgewandelt wird, und er beschreibt, wenn auch überspitzt, was sich tatsächlich jeden Sonntagmorgen in unserem Land abspielt: Da müssen sich die Leute entscheiden zwischen der Teilnahme am Gottesdienst und den vielen anderen Möglichkeiten, den Sonntagmorgen zu gestalten, und das Ergebnis dieser Entscheidung ist für die meisten Leute ganz eindeutig: Natürlich hat die Kirche, hat der Gottesdienst keine Chance, wenn man doch gleichzeitig ausschlafen oder auf einen Flohmarkt gehen oder Äpfel aufsammeln oder zum Brunch gehen oder etwas für die Schule tun oder sich mit Freunden treffen kann. Nein, es muss gar nicht unbedingt der Domäne-Baumarkt sein, der die Leute vom Kirchbesuch abhält; das Angebot ist auch sonst reichlich genug.
Im Heiligen Evangelium des heutigen Sonntags wird das genaue Gegenteil jenes Werbespots für die Domäne-Baumärkte beschrieben: Da findet in einem Haus in Kapernaum ein Gottesdienst statt, und die Leute laufen nicht weg, sondern drängeln sich so sehr, dass der Platz im Haus gar nicht reicht, dass sie noch draußen vor der Tür stehen, nur um etwas von dem mitzubekommen, was da drinnen vor sich geht. Ja, da hätte man gleich nebenan einen Flohmarkt veranstalten oder ein schickes Büfett aufbauen können, ja, da hätte sogar ein Fußballplatz direkt neben dem Haus liegen können: Was auch immer dort angeboten worden wäre – die Leute wären nicht weggelaufen, hätten Jesus dort im Haus nicht allein zurückgelassen. Nein, das liegt nicht bloß daran, dass Jesus damals vielleicht ein bisschen spannender gepredigt hatte als jener Pfarrer in der Radio-Werbung. Sondern das liegt daran, dass die Leute mitbekommen hatten: Dieser Jesus ist nicht bloß ein ganz nettes Unterhaltungsangebot, ein gutes Mittel, unsere Langeweile zu vertreiben, solange uns nichts Besseres geboten wird. Sondern, so hatten die Leute erkannt, in der Nähe von diesem Jesus zu sein, ihn zu hören, das ist das Wichtigste, was es im Leben für uns geben kann. Denn wo dieser Jesus ist, da ist Gott selber, da geht es um das bedeutendste Thema unseres Lebens überhaupt.
Ein Gottesdienst findet da in diesem Haus in Kapernaum statt, so sagte ich eben. Gewiss, da stand keine Orgel in diesem Haus, da standen auch keine Blumen auf dem Altar, da wurden auch keine Gesangbücher ausgeteilt. All das ist schön und wichtig für einen Gottesdienst, aber es ist nicht das Entscheidende. Sondern was einen Gottesdienst zu einem Gottesdienst macht, ist allein dies, dass Jesus selber da ist, dass Menschen sein Wort hören und seine Nähe erfahren können. Und darum war das, was sich damals in diesem Haus in Kapernaum abspielte, ein Gottesdienst, auch wenn man das damals noch nicht so genannt hat.
Und damit sind wir nun auch schon direkt bei dem, was sich heute und hier auch in diesem Haus in Zehlendorf abspielt. Nein, ich meine nicht bloß, dass es bei uns oftmals auch ähnlich voll ist wie damals in dem Haus in Kapernaum, dass wir hier auch öfters mal die Türen öffnen müssen, weil der Platz hier drinnen nicht reicht. Wem das ein Anstoß ist, dass es bei uns in der Kirche zu voll ist, der möge mal im Neuen Testament nachlesen, wie oft da die Rede davon ist, dass sich die Leute um Jesus drängelten und sich auf den Füßen standen. Ja, das kann offenbar immer wieder passieren, wenn Menschen mitbekommen, mit wem sie es da eigentlich bei diesem Jesus zu tun haben, dass es dann eng wird. Ja, das gilt auch für euch: Nein, ihr seid heute Morgen nicht bloß zum Pastor gekommen, ihr seid heute Morgen nicht bloß hierhin gekommen, weil nachher eine Jugendkreis-Freizeit und ein gemeinsames Mittagessen auf dem Programm stehen; ihr seid nicht bloß hierher gekommen, weil es heute Morgen im Fernsehen nichts Vernünftiges gab. Sondern ihr seid hierher gekommen, weil Jesus hier ist, weil der der Gastgeber in diesem Gottesdienst ist, weil wir uns um ihn versammeln, weil das Wort, das ihr hier hört, sein Wort ist, weil das Brot und der Wein, die ihr nachher hier am Altar empfangt, in Wahrheit sein Leib und sein Blut sind, weil ihr damit so dicht an ihn, Jesus, herankommt, wie nirgends sonst auf der Welt. Nein, da braucht ihr euch nicht vorzudrängeln, da braucht ihr auch keine Abkürzung übers Dach zu nehmen; alle kommt ihr dran, alle dürft ihr seine Gegenwart leibhaftig erfahren, alle dürft ihr es erleben, wie dieser Jesus euch die ganze Schuld eures Lebens vergibt, euch ganz von vorne anfangen lässt, euch fröhlich und befreit hier aus der Kirche wieder nach Hause gehen oder in die Freizeit fahren lässt. Dafür seid ihr heute Morgen früh aufgestanden, dafür sind viele von euch weit über eine Stunde hierher unterwegs gewesen, dafür habt ihr auf manches Andere, was ihr heute auch noch hättet machen können, verzichtet. Ja, es ist wirklich kein Wunder, dass es heute so voll hier in der Kirche ist, wenn man bedenkt, was hier eigentlich abgeht!
Nun rede ich die ganze Zeit von „euch“, sage die ganze Zeit „ihr“, als ob ihr alle miteinander einfach eine einheitliche Gruppe wärt. In gewisser Weise seid ihr das auch, denn das Wichtigste habt ihr, haben wir in der Tat gemeinsam: Wir sind alle um ihn, Jesus Christus, versammelt, haben an ihm Anteil in Seinem Mahl. Im Vergleich dazu spielen die Unterschiede zwischen uns wirklich nicht die große Rolle. Aber natürlich gibt es zwischen euch dann doch auch gewichtige Unterschiede – Unterschiede, wie man sie auch schon im Heiligen Evangelium des heutigen Sonntags deutlich erkennen kann. Auch da werden uns ganz unterschiedliche Menschen geschildert, die sich da um ihn, Jesus, versammeln:
Da sind zunächst einmal die Leute, die sich da im Haus oder direkt vor der Haustür befinden. Sie wissen Bescheid, waren gleich zur Stelle, als Jesus kam, wissen, wie gut und wichtig es ist, sich da einzufinden, wo er ist. Ja, in diesen Leuten im Haus können sich sicher viele von euch gut wiedererkennen: Wenn Christus zu sich einlädt hier in sein Haus, dann seid ihr da, dann fackelt ihr nicht lange, dann geht ihr da hin. Ganz wichtig ist es für euch, in seiner Nähe zu sein; man muss euch in der Tat nicht erst mit allen möglichen Tricks davon abbringen, in dieser Zeit irgendwo anders hinzugehen, anderen Beschäftigungen nachzugehen. Ihr wisst, was für ein Geschenk es ist, das Wort des Herrn hören zu dürfen, seine Vergebung empfangen zu dürfen, mit ihm, Christus, eins werden zu dürfen im Sakrament. Ja, das ist wunderbar, das ist richtig, darüber kann man sich nur freuen.
In einer Hinsicht allerdings ist das Verhalten dieser Menschen da im Haus problematisch, auch wenn sie das gar nicht bewusst machen oder böse meinen: Sie bilden, ohne dass sie dies selber vermutlich mitbekommen, mit ihren Rücken nach außen hin eine Mauer, sodass Leute, die von draußen an Jesus heranwollen, nicht an ihn herankommen. Dass sie selber in der Nähe von Jesus sind, das ist diesen Menschen im Haus genug.
Schwestern und Brüder, ich sage nicht, dass wir uns genauso verhalten, wie die Leute damals im Haus von Kapernaum. Aber die Gefahr sollten wir jedenfalls wahrnehmen: die Gefahr, dass wir so sehr damit beschäftigt sind, selber an Jesus heranzukommen, dass wir die gar nicht mehr wahrnehmen, die auch zu ihm, dem Herrn, kommen wollen, und daran scheitern, dass wir ihnen nur den Rücken zuwenden, einen geschlossenen Kreis bilden, in den man von außen nur schwer eindringen kann. Ja, gottlob läuft es hier in unserer Gemeinde anders; doch das Bild, das uns St. Markus hier von der Menschenmenge in Kapernaum zeichnet, sollte uns immer als Warnung dienen, als Mahnung, durchlässig zu bleiben, selber auch einmal einen Schritt zurückzutreten, auf die Durchsetzung eigener Ansprüche zu verzichten, wenn es denn nur helfen kann, dass auch andere herankommen an ihn, den Herrn, dessen Nähe, dessen Wort uns so wichtig ist.
Und dann ist da dieser Mensch auf der Matratze, auf der Matte, der Jesus da direkt von oben vor die Füße gelegt wird. Keinen Schritt ist er selber gegangen, mühselig musste er zu Jesus geschleppt werden, weil er von allein den Weg zu ihm sicher nicht geschafft hätte.
Schwestern und Brüder, damals hat in dem Haus von Kapernaum nur ein Mensch mit einer Matte vor Jesus gelegen. Heute habe ich manchmal bei uns in der Kirche den Eindruck, dass ich da ganze Matratzenlager vorfinde, so viele Menschen, die es von sich aus gar nicht geschafft hätten, hierher zu kommen und die von anderen hierher geschleppt worden sind.
Da sehe ich beispielsweise die Kinder bei uns in der Gemeinde, die eben zum Kindergottesdienst gegangen sind. Von allein hätten sie es kaum geschafft, hierher zu kommen. Aber da gibt es glücklicherweise Eltern, die sie hierher gebracht, hierher getragen haben, auch wenn sie vielleicht noch ganz klein sind, weil sie, die Eltern, wissen: Das tut unseren Kindern gut, in der Nähe von Jesus zu sein, auch wenn sie das wahrscheinlich alles mit ihrem Verstand noch gar nicht so ganz begreifen können. Da gibt es glücklicherweise Gemeindeglieder, die Kinder hierher zur Kirche fahren, wenn ihre Eltern selber nicht kommen können oder wollen, damit auch diese Kinder eine Chance haben, zu Jesus zu kommen, sein Wort zu hören.
Oder da sehe ich gerade heute so viele Jugendliche hier vor mir in der Kirche: Ja, einen guten Willen habt ihr alle, das glaube ich ganz gewiss. Aber so mancher von euch ist dann, wenn es drauf ankommt, doch immer wieder ganz schön lahm, kriegt von allein den Hintern nicht hoch, wenn es darum geht, am Sonntagmorgen zu Jesus zu kommen. Ja, da muss so mancher von euch mitunter doch eher zur Jagd getragen werden; ja, da sind dann Besuche oder Briefe vom Pastor, Anrufe von Freunden nötig, müsst ihr mitunter doch ein wenig liebevoll hierher geschleift werden, damit ihr euch am Ende auch tatsächlich hier einfindet, nein, nicht nur zu Beginn einer Jugendkreisfreizeit, sondern eben auch sonst an so manchem stinknormalem Sonntag.
Und da sehe ich, im Bilde gesprochen, noch viel mehr zusammengerollte Matten hier in der Kirche liegen, sehe ich noch viel mehr unter euch, die tatsächlich irgendwann einmal hierher in die Kirche, hierher zu Jesus getragen worden sind, die selber nie den Weg zu ihm gefunden hätten, wenn da nicht andere gekommen wären und sie hier angeschleift hätten. Aber dann hat euch Jesus hier auf die Beine geholfen, und seitdem braucht ihr eure Matte nicht mehr, könnt nun selber kommen, könnt nun selber laufen, hierher laufen, und das macht ihr auch, Gott sei Dank! Ja, wie gut, dass ihr damals diese Menschen gehabt habt, die euch hierher gebracht haben, damit Jesus euch auf die Beine stellen konnte!
Und damit sind wir schon bei den vier Männern da oben auf dem Dach. Sie sind es, die sich mit diesem Gelähmten abgeschleppt haben, die Fantasie und Mühe aufgewandt haben, um diesen Menschen schließlich zu den Füßen von Jesus landen zu lassen. Ja, solche Männer und Frauen brauchen wir auch heute in unserer Gemeinde, und zwar reichlich. Gewiss, ich mache da selber auch gerne mit, das gehört zu meinem Dienst mit dazu, zu versuchen, Gemeindeglieder wieder in die Kirche zurückzuholen, die von sich aus zu lahm oder zu schwach sind, um zu kommen. Und wenn sie denn überhaupt körperlich zu schwach sind zu kommen, dann bringe ich ihnen Christus, sein Wort und Sakrament, auch nach Hause, ganz klar. Aber der Normalfall sollte doch bleiben, dass wir uns alle miteinander hier im Haus um Christus versammeln. Und da brauche ich viele andere, die mithelfen, die Lahmen hier in die Kirche zu befördern. Ich selber kann höchstens an einer Ecke der Matratze mit anfassen, mehr nicht. Und bei den vielen Lahmen in der Gemeinde kann ich auch gar nicht überall mit anpacken; da muss es immer wieder auch ohne mich gehen. Und wir wollen uns darüber hinaus ja auch nicht auf die Lahmen innerhalb der Gemeinde beschränken. Da gibt es so viele Menschen in unserer Umgebung, die noch gar keine Ahnung von Christus haben und für die es doch so dringend nötig ist, dass die schließlich auch zu Christus kommen, seine Vergebung, seine Hilfe erfahren.
Nein, Schwestern und Brüder, ich brauche mich da gar nicht mit Appellen zu begnügen; ich darf mit Freuden feststellen, wie fröhlich und wie kräftig ihr jetzt schon am Schleppen seid, wie ihr immer wieder Freunde und Bekannte innerhalb und außerhalb der Gemeinde ansprecht, ja, auch einiges an Fantasie aufbringt wie die vier Männer damals, um Menschen auch trotz so mancher Mauer, die da im Wege zu stehen scheint, am Ende doch bei Christus landen zu lassen. Ja, ich darf auch fröhlich und dankbar wahrnehmen, dass es so viele unter euch gibt, die andere Menschen, andere Gemeindeglieder, die zu lahm sind, um selber zu Christus zu kommen, mit ihren Gebeten immer wieder vor Christus tragen, mit ihrem Glauben für sie einzustehen, wie damals die vier Männer mit ihrem Glauben für den Gelähmten eingestanden sind, als der noch gar nicht glauben konnte. Hört damit bloß nicht auf, geht weiter zu denen hin, die selber nicht kommen können oder wollen, nehmt sie mit auf eurem Weg zu Christus, tretet auch weiter in der Fürbitte für sie ein. Und hört vor allem bloß nicht auf, selber immer wieder zu kommen, nein, auch nicht bloß, wenn ihr mal jemanden mitbringt. Euch erwarten hier doch nicht bloß ein paar billige Sonderangebote, euch erwartet hier nicht bloß ein nettes Freizeitvergnügen. Euch erwartet hier der Herr der Welt, er, der allein euer Leben neu machen kann, euch ein neues Leben schenken kann, das unvergänglich ist, ja, in dem ihr einmal noch viel fröhlicher herumspringen werdet, als es der Ex-Gelähmte damals getan hat. Nein, lauft bloß nicht weg, bleibt bloß hier. Es geht um euer Leben. Amen.